Sie sah sich mit Verfassungskrisen konfrontiert, erhielt Morddrohungen, sah vierzehn Premierminister kommen und gehen, bezauberte Staatsoberhäupter aus aller Welt, wurde von den Medien gefeiert und kritisiert … Robert Hardman zeichnet das intime Portrait einer Ausnahmepersönlichkeit, die unser aller Leben geprägt hat.
Der Tod der 96-jährigen Queen hat die halbe Welt mit Trauer erfüllt. Mit ihrer einzigartigen Lebensleistung erstrahlte neuer Glanz über einer scheinbar antiquierten Staatsform: der Monarchie. Für die Trendsurfer des Politikbetriebs und ihren akademischen Tross ist dies normalerweise keinen Gedanken wert – es sei denn, die Monarchie kommt in persona zu einem Staatsbesuch vorbei. Dann jubeln die Massen – wie bei den vier offiziellen Besuchen der Queen seit 1965 in Deutschland, wo eine regelrechte „Völkerwanderung“ ihrer Reiseroute folgte. Auf ein gemeinsames Foto mit ihr zu gelangen, spornt auch den Ehrgeiz der blasiertesten Realpolitikaster an. Denn aus scheinbar unerfindlichen Gründen liebt das gemeine Volk die Monarchie.
Wie sonst wäre es verständlich, dass beim Begräbnis der Queen die stundenlangen, wenig spektakulären Dauerübertragungen hierzulande bei den Öffentlich-Rechtlichen über 50 Prozent des TV-Publikums erreichten? In Großbritannien verfolgten 27 Millionen die Trauerfeiern an den Bildschirmen, dazu weitere Millionen, die in Kinos und über digitale Medien dabei waren.
Ein kleiner Rückblick: Seit dem Thronantritt der Queen am 2. Juni 1953 (16 Monate nach der offiziellen Erhebung durch den Kronrat) waren die Feierlichkeiten der englischen Monarchie ein universeller Medienbooster. Sie rangieren im Zuschauerinteresse sogar vor den Superevents des Sports. Mit der Krönung wurde mit etwa 300 Millionen Zuschauern in Kinos und TV die erste Benchmark gesetzt. Bei der Hochzeit von Prinzessin Anne mit Mark Phillips 1973 wollten schon 500 Millionen Zeugen der Jaworte sein. Lady Di und Prinz Charles toppten die Marke 1981 bei ihrer Heirat mit 750 Millionen weltweit. Kate und Andrew brachten es bei ihrer Hochzeit 1981 auf zwei Milliarden, an Lady Dianas Begräbnis wollten medial 2,5 Milliarden dabei sein.
Welche gewaltige Bedeutung die Queen weltweit hatte, belegen die über 4 Milliarden Zuschauer, die ihr medial das letzte Geleit gaben.
In seiner beeindruckenden Biographie „Queen of Our Times. Das Leben von Elizabeth II.“, die bis ins Jahr 2022 reicht, liefert der Monarchiespezialist Robert Hardman, Autor mehrerer einschlägiger Werke und Filmdokumentationen, Antworten auf das Phänomen. In einer vorbildlich recherchierten Erzählung lässt er für uns eine faszinierende wie lehrreiche Weltgeschichte der vergangenen 70 Jahre erstehen. Warum lehrreich? Weil die Queen in den 70 Jahren ihrer Herrschaft in persona das verkörperte, was der Politikwissenschaftler und Publizist Joseph Nye als „Soft Power“ beschrieb.
Nach dem frühen Tod ihres Vaters übernahm sie als 26-Jährige die Krone und trug sie 70 Jahre lang bis zum 8. September 2022. Damit war ihre Herrschaft die längste in der Geschichte der englischen Monarchie.
Die Basisdaten: Die Queen amtierte als Königin von 14 souveränen Staaten (die bedeutendsten Kanada, Australien und Neuseeland), war nominelles Oberhaupt der 56 Staaten des Commonwealth of Nations, Lehnsherrin der britischen Kronbesitzungen (u.a. Channel Islands, Isle of Man) sowie weltliches Oberhaupt der anglikanischen Church of England.
Ihre Stellung innerhalb Großbritanniens war trotz mancher Popularitätsschwankungen nie ernsthaft angefochten. Wer das nie versiegende Interesse an den Royals trivial-romantischen Identifikationswünschen geistig zurückgebliebener Volksmassen zuschreibt, liegt falsch. Die Entzauberung der Welt durch die utilitaristische Kultur der wissenschaftlich-technischen Machbarkeit verlangt nach einem seelischen Gegengewicht.
„Kinder brauchen Märchen“ stellte schon vor Jahrzehnten der Pädagoge Bruno Bettelheim fest. Und fast alle Mädchen spielen in ihrer Kindheit Prinzessinnen, fast alle Knaben siegreiche Helden. In den kindlichen Imaginationsleistungen liegen die Quellen individueller und sozialer Kreativität. Diese Psychodynamik endet nicht mit dem Erwachsenwerden. So wie die katholische Konfession durch den Zauber ihrer Rituale, ihrer Symbolintensität und ihrer Bildwelten, auch durch die Schönheit von „Prunk und Pracht“ immer wieder die Gläubigen fasziniert hat, immer wieder auch viele profane Geister bekehren konnte, so liegt in der glanzvollen Inszenierung einer Monarchie wie der englischen eine überragende gesellschaftliche Bindungskraft.
Tony Blair verriet dem Autor in einem Interview: „Der Grund für ihren so großen Erfolg liegt in ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit die Mystik der Monarchie auszubalancieren, während sie sich mit der Kultur des Landes durch die Zeiten bewegt. Darin liegt ihre einzigartige Intelligenz, und darin ist sie auch sehr gut. Im Bereich der Politik mit kleinem p – also bei dem, was gar nichts mit Parteipolitik zu tun hat – ist sie fast ein Genie.“
In ihrer Rolle als Oberhaupt des Commonwealth geriet Elizabeth II. auch einige Male in Widerspruch zu dem von der jeweils herrschenden Partei definierten nationalen Interesse. Am markantesten in dieser Hinsicht ist die Meinungsverschiedenheit über Südafrika zwischen der Queen und Margaret Thatcher. Diese lehnte die Forderungen aus dem Commonwealth nach Sanktionen gegen das Apartheidregime ab – die engen ökonomischen Beziehungen sollten nach ihrer Auffassung nicht beschädigt werden. Die Queen hingegen ermutigte durch Hintergrunddiplomatie und persönlichen Dialog auf den zentralen Commonwealth-Treffen der Staatsführungen den Druck auf die Herren in Johannesburg.
Nach der Überwindung des Apartheidsystems wurde der Staatsbesuch der Queen 1993 symbolischer Höhepunkt eines erfolgreichen Neuanfangs. Nelson Mandela, der erste schwarze Präsident des lange in Rassen geteilten Landes, stellte den Antrag auf Rückkehr Südafrikas in das Commonwealth. Die Queen wurde im ganzen Land mit Hochachtung und Anerkennung ihrer Rolle empfangen.
Zwischen ihr und Nelson Mandela, der selbst aus einer afrikanischen Königsfamilie stammte, entwickelte sich eine enge Freundschaft. Mandela kam im Jahr darauf zum Gegenbesuch nach London. Er fuhr mit der Queen in einer Kutschenprozession über The Mall zum Buckingham Palast. Wohin immer er kam, wurde er von riesigen Menschenmengen bejubelt. Insbesondere die schwarze Bevölkerung des Stadtteils Brixton war außer sich vor Freude. Auch nach seiner Amtszeit wurde er stets, wenn er in London weilte, von der Queen zu Lunch und Tee eingeladen. Autor Hardman lässt nicht unerwähnt, dass Mandela die Queen stets vertraut „Elizabeth“ nannte. „Er war der einzige Politiker, der die Queen jemals mit den Worten ‚Oh, Elizabeth, du hast ja abgenommen‘ begrüßt hat.“
Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche erkannten Politiker wie die in Wahlen siegreichen Labourführer Wilson (1964) und Blair (1979), wie wichtig das Bedürfnis nach bleibenden Traditionselementen ist. Der TV-Produzent Antony Jay schrieb über das Verhältnis von Labour zur Monarchie: „Harold Wilson hat verstanden, dass es, je radikaler man ist, zunehmend wichtiger wird, die Form von Substanz und Tradition um sich herum zu bewahren.“ Jahre später verfolgte auch Tony Blair diese Strategie, teils gegen den heftigen Widerstand der republikanisch Gesinnten in seiner Partei. Er verstand wie Wilson, dass gerade in Zeiten rapider Veränderung in der Bevölkerung der Wunsch nach einer besseren Zukunft oft mit dem Bedürfnis nach vertrauter Kontinuität verbunden ist.
Seit dem viktorianischen Zeitalter mussten die Mitglieder der royalen Familie zunehmend ihr Leben in der Öffentlichkeit führen. Deren Mitglieder, unabhängig vom Platz in der designierten oder potentiellen Thronfolge, wurden in der Presse wie im populären Hofklatsch genauestens beobachtet und bewertet. Die meisten nahmen die Herausforderung an und betrieben geschickte Eigenwerbung durch Münzen, Denkmäler, Gemälde, Fotographien, die das treuliebende Ehepaar und seine wohlerzogenen Kinder zeigten, die erwachsenen Prinzen in Uniform militärische Stärke markierend, die Prinzessinnen als trostspendende Krankenschwestern am Bett des Weltkriegsinvaliden.
Diese Tradition setzte man im Hause Windsor unter Elizabeth bewusst und versiert fort. In den Jahrzehnten ab etwa den 1960er Jahren hatte in den Medien eine zunehmend kritische Stimmung gegenüber der royalen Familie um sich gegriffen. In der BBC verbreitete sich unter den jüngeren Mitarbeitern eine antimonarchische Haltung, und auflagenstarke Boulevardblätter wie Robert Maxwells Mirror oder Rupert Murdochs Sun nutzten jede Gelegenheit, Mitglieder der royalen Familie zu skandalisieren.
Die Familie mit der Queen und Prinz Philip an der Spitze reagierten mit unermüdlichen kulturellen, karitativen oder naturschützerischen Aktivitäten. Prinz Philip etwa war Schirmherr von rund 800 Organisationen, die sich insbesondere auf Umwelt, Industrie, Sport und Bildung konzentrierten. Er brachte es in seiner aktiven Zeit bis 2017 auf über 22000 Veranstaltungsauftritte und über 5400 Reden und Vorträge. Kronprinzessin Anne zeichnete sich schon mit 21 als Turnierreiterin aus und gewann 1971 eine Goldmedaille bei den Europameisterschaften im Vielseitigkeitsreiten. Sie ist inzwischen Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, Schirmherrin von 300 Organisationen, darunter „Save the Children“.
Prince Charles, jetzt Charles III., unterstützte in seiner überlangen Zeit als Kronprinz zahlreiche Projekte und Organisationen auf den Gebieten der Förderung benachteiligter Jugendlicher, in Ökolandwirtschaft, Naturschutz und Architektur. Sein Interesse gilt auch der Verbesserung der Toleranz zwischen den Religionen. Sowohl die Queen wie Prinz Philip standen manchen seiner Aktivitäten kritisch gegenüber. Sie selbst waren meist in mehrheitsfähigen gesellschaftlichen Bereichen tätig. Es könnte sein, dass Charles als König mit seinen dezidierten Spezialinteressen Schwierigkeiten bekommt.
Und Ex-Premier John Major bilanzierte ihre Leistung mit den Worten: „Die Monarchie wird als etwas Grundlegendes verehrt, das gleichzeitig Stabilität gibt und eine Vermittlerfunktion in unserem öffentlichen Leben hat. Wenn das Zentrum gelassen ist, dann dringt die Gelassenheit nach außen durch.“ Die aus Kriegszeiten bekannte Parole „Keep calm and carry on“ kennzeichnet am besten die beispiellose Ausdauer der Queen in ihren strapaziösen Ämtern.
Es wäre schön – hätten wir in Deutschland eine Monarchie nach diesem Muster. Aber die Chance dazu wurde schon 1918 verspielt, als der Hohenzollernkaiser Wilhelm ohne Widerstand nach Holland flüchtete und dort seine restliche Lebenszeit vorzüglich mit Holzhacken zubrachte. Und die regionalen royalen Häuser in den deutschen Landen haben keine Persönlichkeiten hervorgebracht, denen ein mehrheitsfähiges Charisma eigen war.
Ein romantischer Gedanke sei hier gestattet: Dürfte ich durch die Gunst einer mächtigen Fee eine Monarchin bestimmen, so würde ich Gloria von Thurn und Taxis wählen. (Ihr Thronfolger wäre außerdem ihr Sohn Albert.) Aber die Feen sind leider nicht mehr aktiv… So bleibt uns nur, die britische Monarchie in Gestalt ihrer wunderbaren Queen zu bewundern, ihr einen Platz unter den Seligen zu wünschen und uns im Übrigen ebenfalls an die Devise zu halten: „Keep calm and carry on“.
Robert Hardman, Queen of Our Times. Das Leben von Elisabeth II., Biographie. Mit Exklusivmaterial aus den Royal Archives inklusive zahlreicher Fotos, Lübbe, Hardcover mit Schutzumschlag und Leseband, 560 Seiten, 28,00 €.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Hinter der „Queen“ mit ihrem makellosen Fassadenleben steht eine dysfunktionale Familienstruktur mit einer Ansammlung kaputter Neurotiker. Ist es das wert? Es ist zwar unterhaltsam und interessant, aber in meinen Augen als Leitbild nicht wirklich tauglich.
Gibt’s auch direkt im TE-Shop: https://live.tichyseinblick.shop/produkt/hardman-queen-of-our-times/
Ich bin kein Monarchist. Not at all!
Aber ich hatte immer höchsten Respekt for Her Majesty, the Queen. Was für eine unglaublich beeindruckende Persönlichkeit!
Sie war eine Jahrhundert-Person. Solche Menschen erlebt man, wenn überhaupt, nur ‚once in a lifetime‘. Ich/wir alle hatten dieses Glück.
Ruhen Sie in Frieden, your Majesty. Ich verneige mich vor Ihnen.