Seine analytische Schärfe und sein umfangreiches Hintergrundwissen setzt Roy effektiv dazu ein, um das Weltbild der in Frankreich besonders stark vertretenen linken Intellektuellen mit Blick auf den Dschihadismus zu demontieren.
Olivier Roy hat sich mit seinem jüngsten Buch „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ kein ganz leichtes Ziel gesetzt, denn er möchte in die Debatte um islamischen Terrorismus die These einbringen, dass dieser weder als Reaktion auf westliche Politik, noch als reines Ergebnis einer religiösen Radikalisierung des Islam zu deuten ist. Als neues und herausstechendes Merkmal relativ junger Terrorgruppen wie Al Qaida oder dem IS sieht Roy dagegen deren Fixierung auf den Tod ihrer Soldaten und Attentäter, welcher nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern sogar angestrebt wird.
An Roys Ausführungen begeistern zunächst seine analytische Schärfe und sein umfangreiches, über Jahrzehnte akkumuliertes Hintergrundwissen. Beide setzt er effektiv dazu ein, um das Weltbild der in Frankreich besonders stark vertretenen linken Intellektuellen mit Blick auf den Dschihadismus zu demontieren. So weist Roy nicht nur auf die logischen Schwächen in den bekannten Argumentationen zur Alleinschuld des kapitalistischen Westens am Chaos der islamischen Welt hin, sondern kann sich auch auf die (fehlende) Evidenz zu diesen Thesen stützen.
In der Tat lassen die von Roy analysierten Biographien der zu Dschihadisten Gewordenen in der Mehrheit der Fälle nicht auf eine vor der Radikalisierung vorhandene religiöse Sozialisierung schließen. Viel öfter finden sich dagegen Klein- und Drogenkriminelle sowie Alkohol und Promiskuität gegenüber nicht abgeneigte Individuen darunter, die an einem Punkt in ihren jungen Leben einen radikalen Bruch mit ihrer eigenen Biographie, dem Elternhaus und der Gesellschaft als Ganzes vollziehen.
Roy ist sich selbst der Gefahr bewusst, mit dieser Argumentation das Problem des fundamentalistischen und radikalen Islam zu bagatellisieren, indem die religiöse Komponente des Terrorismus als bloßes „Mittel zum Zweck“ verharmlost, statt als Teil des Zwecks selbst interpretiert wird. Im Zuge seines Versuchs, diese Gefahr einzudämmen, gerät Roys Logik allerdings ordentlich ins Schwimmen: Einerseits will er, wie er sagt, den Islam nicht aus seiner Schuld entlassen, aber andererseits beziffert er nicht näher, worin seiner Meinung nach diese Schuld besteht. Einerseits fordert Roy von den muslimischen Gläubigen eine Neuformation ihrer Religion und Antworten auf die Radikalität, die über „Der Islam ist eine Religion des Friedens“ hinausgehen, andererseits glaubt er aber selbst nicht daran, dass eine islamische Reformation das erhoffte wirksame Gegengift zur Radikalisierung darstellen kann.
„Ich sage nur, dass der Fundamentalismus nicht die alleinige Ursache dieser Gewalt ist.“ Damit hat Olivier Roy sehr wahrscheinlich sogar recht – monokausale Erklärungsansätze werden zwangsläufig eher früher denn später von der Realität widerlegt. Aber es wird nicht ausreichend klar, wohin sich Roy ausgehend von diesem Einwand bewegen möchte. Seinen Spielraum in dieser Hinsicht scheint er sich stellenweise auch durch seinen Willen zur Abgrenzung von anderen Autoritäten auf dem Gebiet des islamischen Terrorismus stärker als notwendig einzuengen.
Etwas unbefriedigend an Roys Thesen sind zuletzt jedoch auch ihre Handlungsimplikationen: Während diejenigen, die die Ursache für alles Übel im Nahen Osten in der westlichen Außenpolitik suchen, eine Änderung dieser Politik verlangen können, so können diejenigen, die in der Theologie des Islam die Ursache sehen, zu einer Reform des Islam aufrufen. Die Erkenntnis, dass der dschihadistische Terrorismus viele Elemente einer Jugendrevolte aufweist, ist dagegen erst einmal nichts, woraus sofort ersichtlich wäre, was nun zu tun sei. Denn wie bekämpft man schon eine Jugendrevolte?
Zudem darf der Vergleich des mörderischen und selbstmörderischen Dschihadismus mit einer Jugendrevolte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ideologischen Hintermänner und Financiers der dschihadistischen Terrorgruppen keineswegs aus Solidarität mit der Jugend handeln, sondern eigene, machtorientierte Interessen verfolgen, für die sie die jungen Fanatiker liebend gerne verheizen.
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