Tichys Einblick
Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft

Ohne Zugehörigkeit kann es keine Freiheit geben

Die wichtigste Kategorie des konservativen Denkens war für Scruton die Idee der Zugehörigkeit. Die Ansicht Rousseaus, nach der der Mensch frei geboren und erst durch die Einfügung in vorgefundene Zusammenhänge „in Ketten gelegt“ werde, hielt er für eine gefährliche Ideologie.

Roger Scruton war vermutlich der bedeutendste, mit Sicherheit aber einer der bekanntesten konservativen Denker der Gegenwart. Dass einem so wenige Namen auf die Frage nach konservativen Gelehrten einfallen, hat viel damit zu tun, dass es heute nicht nur für die wissenschaftliche Karriere, sondern auch für Leib und Seele ein gefährliches Unterfangen sein kann, sich im akademischen Milieu als Vertreter dieser Weltanschauung zu erkennen zu geben.

Die im Namen der Political Correctness geführten Hexenjagden lassen Konservative verstummen oder sich in die innere Emigration zurückziehen. Sie sind längst Fremde in den eigenen Institutionen geworden, bestenfalls belächelt und als Außenseiter geduldet.

Doch nicht Scruton. Er focht für seine Ideen in Büchern, Artikeln, Lesungen und öffentlichen Debatten, weil er davon überzeugt war, dass einzig Konservative eine rationale Antwort auf die großen Probleme geben können, die in unseren westlichen Gesellschaften durch Globalisierung, Migration und den Vormarsch universalistischer Identitätsbewegungen sowie radikalökologischer Ideologien entstanden sind.

Das Leben lenkte ihn wie von selbst in diese Rolle, die ihm letztendlich auch am besten gefiel und seinem ruhigen und mutigen Naturell am meisten entsprach. Nach dem Studium in Cambridge gründete er 1982 mit wenigen Gleichgesinnten die „Salisbury Review“, ein kleines, konservatives Magazin, das kaum zwei Jahre nach seiner Gründung für einen Skandal sorgte.

Roger Scruton
Rebellischer, exzentrischer Engländer
Der Schulleiter einer Mittelschule, in der 80 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien kamen, forderte in einem Artikel die bessere Integration seiner Schüler in die britische Gesellschaft. Der Artikel, in dem ein Lehrer zum ersten Mal gewagt hatte, die großen Probleme mit Migrantenfamilien in Schulen öffentlich anzusprechen, rief einen Sturm der Entrüstung unter den in den Medien und der Politik schon damals dominierenden universalistischen Eliten hervor. Dass Autor und Herausgeber Rassisten seien, waren noch die am wenigsten ehrabschneiderischen Anklagen.

Der Schulleiter wurde aus seinem Amt gejagt und konnte nie wieder als Lehrer arbeiten und Scruton war für die akademische Welt – zumindest fürs Erste – erledigt. Kapitulation kam für ihn nicht infrage, also beschloss er, sich dem Schreiben zu widmen. Dieser Entscheidung haben wir einige der besten Bücher und Essays der vergangenen 30 Jahre zum Thema Konservativismus zu verdanken.

Widerstand gegen Globalismus

Was also verstand Scruton unter Konservativismus? Ganz gewiss nicht das Jammern über den Verlust einer längst versunkenen Welt. Aber durchaus den Widerstand gegen die Zerstörungen, die die globalistische Moderne in den westlichen Gesellschaften seit geraumer Zeit anrichtet.

Jede Nation verfügt über ein kollektives Erbe an bewährten Gemeinschaften, Einrichtungen und Prozeduren, das sich im Laufe der Geschichte herausgebildet und als Pfeiler des Zusammenhalts in der Gesellschaft erwiesen hat. Diese kollektiven Güter werden heute jedoch Schritt für Schritt zerstört: die Freiheit, unser Leben zu führen, wie wir wollen, eine unparteiische Gesetzgebung und Rechtsprechung, der Schutz der Natur vor Partikularinteressen, die Kultur der Offenheit und der freien Forschung, die demokratischen Prozeduren, um nur die Allerwichtigsten zu nennen.

Die wichtigste Kategorie des konservativen Denkens war für Scruton die Idee der Zugehörigkeit. Die Ansicht Rousseaus, nach der der Mensch frei geboren und erst durch die Einfügung in vorgefundene Zusammenhänge, die Sozialisierung in Familie, Gemeinde, Schule und Arbeitszusammenhänge, „in Ketten gelegt“ werde, hält er für eine gefährliche Ideologie.

Scruton war der Überzeugung, dass allen heute so bedrohten gemeinschaftlichen Gütern etwas unterliegt, was er als den „Erste-Person-Plural“ bezeichnete. Er verstand darunter das gewachsene Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Landstrich, einem Territorium, einer Gemeinschaft, das sich dadurch auszeichnet, dass man „Dinge auf die gleiche Art tut“, eine gemeinsame Sprache spricht und durch gemeinsame kulturelle Traditionen geprägt ist. Es mag paradox klingen, aber ohne Zugehörigkeit kann es keine Freiheit geben. Denn nur eine solche, durch gemeinsame Geschichte gewachsene Gemeinschaft kann Differenzen in Lebensgewohnheiten, politischen Ansichten und Zielen sowie die Opposition zu Mehrheitsmeinungen aushalten oder, noch viel mehr, dazu ermutigen.

Von der Idee, konservativ zu sein
Programmatik des Konservatismus erwünscht
Scruton nannte das die „vorpolitische Loyalität“, die sich grundsätzlich vom religiösen sowie vom ethnischen „Wir“ unterscheidet, die beide exklusiv sind und keine Abweichung dulden. Dieses Gebilde, das wie von einer „unsichtbaren Hand“ gelenkt, durch zahllose in der Vergangenheit geschlossene Kompromisse, Einigungen und ausgefochtene Kämpfe entstanden ist, ist die Nation, die einzige Form, in der unter Fremden eine von Kompromissen geleitete Demokratie, der freie Austausch und der Schutz von Minderheitenmeinungen möglich ist.

Zu diesem gewachsenen „Wir“ gehören nicht nur die großen nationalen Institutionen, es sind vor allem die zahllosen privaten Vereine wie Sport- und Bildungseinrichtungen, Rosen- und Bienenzüchter, lokale Naturschutzvereine, Chöre und Volkssternwarten, eben all jene Formen, in denen sich freie Bürger zusammenschließen, um ihren besonderen Interessen nachzugehen. Solche Zusammenschlüsse entstehen immer von unten und werden sofort zerstört, sobald der Staat sich ihrer bemächtigt und ihnen vermeintlich höhere Ziele aufbürdet, wie die Förderung von Gleichheit oder Integration.

Alle Formen des Nullsummendenkens
führen zur Legitimation und Verbreitung von Neid

Wozu diese staatlichen Eingriffe führen, kann jeder am Verfall des deutschen Schulwesens beobachten. Dort hat das Streben nach Gleichheit den ursprünglichen Zweck, nämlich die Vermittlung von Bildung, längst zerstört. Den von oben Regierenden sind unabhängige bürgerliche Zusammenschlüsse ein Dorn im Auge, weil sie sich der Kontrolle entziehen und ihren eigenen Regeln folgen. Deshalb gehört immer und überall das Verbot solcher Vereinigungen mit zu den ersten Maßnahmen totalitärer Diktaturen.

Der Hass auf das eigene Land

Konservative erkennen die doppelte Gefahr, die den westlichen Gesellschaften durch grenzenlose Einwanderung aus vorzivilisatorischen Gesellschaften, aus Religions- und Stammeskulturen droht. Die Masseneinwanderung aus Afrika und Asien hat zur Entstehung von illoyalen, antinationalen Minoritäten in der Mitte der europäischen Gesellschaften geführt.

Aber schlimmer noch: Jetzt wird auch die gewachsene vorpolitische Loyalität unter den einheimischen Bürgern zerstört; warum sollten Einheimische sich um etwas kümmern, was Zugewanderte ausbeuten? Dass Fremde in ein Land kommen, das sie verachten, dessen Wohltaten sie aber trotzdem genießen wollen, ist durchaus verständlich. Dass jedoch Intellektuelle und in ihrer Gefolgschaft Politiker und Medien ihr eigenes Land verachten oder gar hassen, verlangt nach einer Begründung.

Scruton gab dafür in seinem 2017 unter dem Eindruck des Brexit-Referendums entstandenen Buch „Where we are“ eine Erklärung: Die Wurzeln des Hasses gegenüber dem eigenen Land liegen tiefer, als dass man ihm mit Argumenten beikommen könnte, schreibt er. Diese Menschen verweigern jedwede anstrengende Loyalität, die ihre vermeintliche Freiheit einschränken könnte. Sie „definieren ihre Ziele und Ideale gegen die von anderen geschätzten Formen der Zugehörigkeit: gegen die Familie, die Nation, gegen alles, was von ihnen Loyalität einfordern könnte (…). Sie unterstützen ferne internationale Organisationen statt ihre Regierungen, verfolgen im Namen universeller Werte politische Visionen, die keinerlei Bezug mehr zu der Zugehörigkeit zu ihren historischen Gemeinwesen haben.“ Sie suchen außerhalb ihrer eigenen Gesellschaft die Dreh- und Angelpunkte, von wo aus sie die Fundamente der ererbten Gemeinschaften aushebeln können – auch deshalb üben kommunistische und radikalislamische Ideologien eine solche Anziehungskraft auf sie aus.

Gutmenschentum und Verlogenheit
Die Öffentlichkeit, die Wahrheit und die Demokratie
Gerade weil Zugehörigkeit für ein gedeihliches Zusammenleben unerlässlich ist, begegnen Konservative dem Internationalismus mit Skepsis. Sie unterstützen vertragliche Regelungen von Konflikten, betrachten jedoch alle internationalen Organisationen, die die nationale Gesetzgebung von außerhalb der Grenzen kontrollieren oder bestimmen wollen, mit Argwohn. Diese Haltung nehmen sie ein, weil jede Verlagerung von Entscheidungsgewalt nach außen die Berechenbarkeit und die Verantwortlichkeit für die Entscheidungen und ihre Folgen aufhebt. Die ursprüngliche Gemeinschaft verliert damit die Kontrolle über ihr Schicksal und wird zum Spielball von Bürokratien, die außerhalb ihres Territoriums und ihrer Gesetzgebung angesiedelt sind und ihre eigene Agenda verfolgen.
Aufstieg statt verordneter Gleichheit

Konservative wünschen sich eine Gesellschaft, die den sozialen Aufstieg – in erster Linie durch Bildung – fördert, aber nicht dadurch, dass Gleichheit von oben erzwungen wird. Das zusammenhaltende „Wir“ kann nicht in Gesellschaften entstehen, die in sich gespalten sind, in der tiefe soziale Klüfte und der Klassenkampf jedes Verständnis vom gemeinsamen Schicksal unmöglich machen. Aber in dieser Feststellung sehen Konservative keine Begründung für einen ausufernden Sozialstaat, da jener nicht den Aufstieg, sondern die Abhängigkeit von Alimenten fördert und darüber hinaus neue gesellschaftliche Widersprüche zwischen den Nutznießern und den zum Zahlen Verurteilten hervorruft.

Konservative lehnen alle Erscheinungsformen der Ideologie des Nullsummenspiels ab: die Behauptung, dass der Gewinn des einen immer den Verlust eines anderen bedeute. Die Tatsache, dass es hervorragende und begabte Schüler gibt, ist nicht die Ursache dafür, dass auch faule und unbegabte in der Klasse sitzen. Der Erfolg eines Unternehmens ist nicht die Ursache für die Armut anderer Menschen, und ebenso ist für das Elend Afrikas nicht der Erfolg des Westens verantwortlich. Alle Formen des Nullsummendenkens führen zu falschen politischen Maßnahmen und zur Legitimation und Verbreitung von Neid, der die gesellschaftliche Atmosphäre vergiftet.

Auf lokale Initiativen vertrauen

Es ist ein natürliches Anliegen von Konservativen, die Natur, die historischen, prägenden Landschaften, die alten, den nationalen Traditionen entsprechenden Siedlungen und Städte, traditionelle Handwerke und Arbeitsformen zu bewahren. Sie akzeptieren nicht, dass wirtschaftliche und andere Partikularinteressen höher angesiedelt sein sollen als der Schutz jener Güter, die die prägenden Elemente der lokalen und nationalen Zugehörigkeit sind. Dabei vertrauen sie auf lokale Initiativen der Bürger, weil diese die einzig wirksamen sind. Im Gegensatz dazu werden von oben verordnete oder gar erzwungene Maßnahmen meist nur halbherzig, wenn überhaupt, befolgt, gehen in der Regel am Ziel vorbei und richten daher mehr Schaden als Nutzen an.

In der Klimadebatte sind Konservative deshalb Gegner von aktionistischen internationalen Großmaßnahmen und vertrauen stattdessen auf den technischen Fortschritt. Sie sind gegen die Unterordnung der Gesellschaft unter ein einziges uniformes Ziel, dessen Ergebnis unbekannt ist. Sie sehen die Gefährlichkeit aller Utopien, die das Irreale zu einer realen Zielsetzung zu machen versuchen, die Gegenwart der Zukunft unterordnen und alle gesellschaftlichen Aktivitäten am Kampf um dieses irreale und deshalb unerfüllbare Ziel ausrichten.

Konservative sind für behutsame Anpassungen,
die immer wieder überprüft werden können

Ihre Haltung in der Klimadebatte ist ein gutes Beispiel dafür, welche Vorgehensweisen Konservative bevorzugen. Konservative sind gegen alle disruptiven Maßnahmen, die gesellschaftliche Erschütterungen hervorrufen. Sie warnen vor der Zerstörung des Bestehenden, ohne dass man weiß, ob das, was danach kommt, tatsächlich etwas Besseres ist. Sie lehnen radikale, irreversible und nicht mehr wiedergutzumachende Veränderungen ab. Sie sind Anhänger der Ansicht des konservativen Philosophen Edmund Burke, der die jetzt Lebenden in Verantwortung gegenüber den Toten und den noch Ungeborenen sieht. Sie sind überzeugt, dass wir Treuhänder des Ererbten sind: der Natur, der Bauwerke, der Kultur, der Sprache und der Ideen, die wir nicht nach Belieben verändern oder gar zerstören dürfen.

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Deshalb sind Konservative für behutsame und vorsichtige Anpassungen an veränderte Verhältnisse, die immer wieder überprüft, geändert oder auch zurückgenommen werden können. Die zerstörerischen Veränderungen im Deutschland der vergangenen 20 Jahre, die Vernichtung der eigenen Währung, die Zerschlagung der gewachsenen Energiesysteme, der Vernichtungsfeldzug gegen den Verbrennungsmotor, die Immigration von Millionen kulturfremder, integrationsunwilliger Einwanderer, ohne dass die Folgen jemals realistisch abgewogen worden wären, ist sicherlich nicht im Sinne von Konservativen.

Roger Scruton wurde einmal in einer Debatte gefragt, warum der Konservativismus nicht jene Anziehungskraft auf Intellektuelle und Eliten ausübe wie linke, universalistische Bewegungen. Er antwortete ungefähr Folgendes: Man möge sich einen linken Demonstrationszug vorstellen, dessen Teilnehmer „Vorwärts!“ schreien. Ein Konservativer würde stattdessen leise „Zögert!“ sagen.

Jeder sei ein Konservativer in dem Bereich, den er kenne, schrieb er an anderer Stelle, deshalb sei der Konservativismus die Weltanschauung der einfachen Leute. Eine revolutionäre Haltung sei vor allem unter Intellektuellen und der von ihnen beeinflussten Jugend populär, weil Bestehendes zu zerstören schnell gehe, einfach sei und man sich daran berauschen könne. Der Aufbau von Gemeinschaften, Institutionen, die Erprobung von Verfahren, bis sie sich bewährt hätten, gehe dagegen langsam, sei ermüdend und ziemlich langweilig.

Reserven der Vernunft erschöpft

Konservative unterstützen Massenbewegungen nur in den seltensten Ausnahmesituationen, etwa im Verteidigungsfall. „Es wird immer Menschen geben“, schreibt Scruton, „die das politische Leben als eine Gelegenheit sehen, solidarische Massenbewegungen loszutreten“, natürlich mit ihnen selbst als Anführer. Die Entstehung solcher Bewegungen sehen Konservative als Alarmzeichen. Denn sie entstehen und erstarken immer dann, „wenn sich die Reserven der Vernunft erschöpft haben. Wir gelangen an diesen Punkt, wenn wir aufgehört haben zu verhandeln, wenn wir aufgehört haben, den anderen das Recht zuzugestehen, anders zu sein, und aufgehört haben, nach den Gesetzen von Demut und Kompromissbereitschaft zu leben.“

An diesem Punkt sind wir in Deutschland angelangt.


Roger Scruton, Von der Idee, konservativ zu sein. Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft. Edition Tichys Einblick im FBV, 288 Seiten, 22,99 €

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