Norbert Bolz „Die Avantgarde der Angst“

Wir können hier nicht alles wiedergeben, was Bolz in diesem kompakten Bändchen intellektuell und quasi chirurgisch-messerscharf ausbreitet. Fassen wir Wichtiges in Thesen zusammen.

Der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz (*1953) ist ein begnadeter Aphoristiker. Er steht den von ihm gerne zitierten großen Aphoristikern Friedrich Nietzsche und Karl Kraus kaum nach. Mittlerweile findet man Bolz‘sche Aphorismen oft mehrmals täglich unter https://twitter.com/NorbertBolz. Beispiele: „Nichts, was in der Welt passiert, wird bewirken, dass die Gutmenschen aus ihrer Multikulti-Trance erwachen.“ Oder: „Emotionale Intelligenz ist ein Trostpflaster für Dummköpfe.“ Oder: „Journalisten sind Politiker, die sich als Journalisten ausgeben.“

Der 2018 an der TU Berlin in den (Un-)Ruhestand verabschiedete Professor Bolz ist zugleich ein begnadeter Essayist. Seine Bücher sind Bereicherung und grimmiger Lesegenuss zugleich. Siehe Titel wie die folgenden: „Die Konformisten des Andersseins“ (1999); „Das Wissen der Religion. Betrachtungen eines religiös Unmusikalischen“ (2008); „Diskurs über die Ungleichheit. Ein Anti-Rousseau“ (2009); „Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht“ (2010); „Das richtige Leben“ (2014).
Mit seinen Aphorismen und Essays eckt Bolz an. Er ist damit eines der mittlerweile seltenen Exemplare von „Diskurswissenschaftlern“, die ihre „Forschungen“ nicht vor allem als Affirmation real existierender Politik und Journalistik verstehen. Die Wissenschaften kommen bei Bolz jedenfalls nicht gut weg. Denn es ließen sich, so Bolz über so manche seiner Kollegen, immer mehr Wissenschaftler dazu überreden, ihre Prognosen als Gewissheiten anzubieten. Es fällt auch der Begriff der „Gefälligkeitsforschung“.

Dass Bolz aneckt, ist gut so! Das macht Bolz auch in intellektuell noch halbwegs unabhängigen Kreisen zum begehrten, höchst eloquenten Redner. Den Öffentlich-Rechtlichen aber behagt Bolz schon lange nicht mehr. Noch vor einigen Jahren zerlegte er so manche Talkshowrunde mit intellektueller Schärfe in ihre nichtssagenden Bestandteile. Heute passt er nicht mehr ins volkspädagogische Kalkül als rigoroser Aufklärer.

Das tut seiner Wirkung keinen Abbruch. Denn Bolz mischt sich anderweitig ein. Nun hat er das mit einem kleinen Bändchen getan, das man – kaum hat man mit dem Lesen begonnen – nicht mehr aus der Hand legt, ehe man auf der letzten Seite angelangt ist. Es ist das Bändchen „Avantgarde der Angst“. Der Titel ist eigentlich selbsterklärend. Es geht um die neuen, ersatz- und zivilreligiösen Apokalyptiker aus Politik, „Wissenschaft“, Publizistik und NGOs mit ihren Themen „Waldsterben“, „Pestizide“, „CO2“, „Klima“, „Erderwärmung“, „Gletscherschmelze“, „Fukushima“, „Diesel“, „Antibiotika“, „Artensterben“, „Corona“ und so weiter.

Wir können hier nicht alles wiedergeben, was Bolz in diesem kompakten Bändchen intellektuell und quasi chirurgisch-messerscharf ausbreitet. Fassen wir Wichtiges in Thesen zusammen.

1. „Die Deutschen bilden weltweit die Avantgarde der Angst. ‚German Angst‘ und der deutsche Größenwahn sind offenbar Komplementärphänomene.“ Richtig, das meinte in ähnlicher Weise schon Winston Churchill, von dem die Diagnose stammen soll: Die Deutschen, man hat sie entweder an der Gurgel oder zu Füßen. Oder weniger martialisch ausgedrückt: Die Deutschen sind mal großspurig, mal hasenfüßig. Im Moment sind sie wohl wieder mal beides: Nirgendwo auf der Welt leidet man am Fortschritt und an der Moderne so wie in Deutschland. Und zugleich soll an einer Ökodiktatur „Made in Germany“ die Welt genesen.

2. Je säkularer die Welt, je mehr die Aufklärung die Welt entzaubert hat, desto mehr entwickeln Menschen einen Absolutheitshunger, desto mehr gieren Menschen archaisch nach Autorisierung, zumal der deutsche Untertan, nach einer ideellen Ersatz-Heimat: nach Ersatz- und Zivilreligionen, nach einem fundamentalistischen Moralismus. Vor allem ist qua permanentem „Greenwashing“ ein neuheidnischer Naturkult entstanden, mit dem Vater Gott verabschiedet wurde, um Mutter Natur anzubeten. „Gott Vater“? Überholt! „Der Mensch besorgt die Sache Gottes nicht als dessen Nachahmer, sondern als dessen Schadenbereiniger, Nachhilfelehrer, wenn nicht gar als dessen Nachlassverwalter“ (Hans Blumenberg). Zugleich sind die neuen Ersatz-Religionen Schuld-Religionen. Denn wenn es keinen Gott mehr gibt, müssen wir alles, was geschieht, den Menschen zurechnen, schreibt Bolz. Siehe die These vom schier narzisstisch gepflegten anthropogenen Klimawandel!

3. Propheten sind hoch im Kurs, vor allem Apokalyptiker haben Konjunktur, auch wenn es sechzehnjährige, psychiatrisch auffällige Heranwachsende sind. Und alle spielen mit, auch in dem Bereich, der sich früher als rationale Wissenschaft verstand. Bolz süffisant: „Als Prophet wird der Wissenschaftler zum Demagogen und Journalisten.“ Bei so manchem „Klima“-Wissenschaftler und Institutsdirektor könnte man auch sagen: beamtete Scharlatane. Sie versprechen nichts Geringeres als die Rettung der Welt, in kleinerer Münze geht es nicht. Erfolg aber haben sie damit, weil jedem solchen Heilsversprechen eine Elendspropaganda vorausgeht. Die Propheten dieses Elends, die sich zudem konformistisch non-konformistisch ausgeben, werden zudem nicht psychoanalytisch behandelt, so Bolz, sondern politisch und medial geadelt.

4. Infantilität ist angesagt, weil die Welt der Infantilen Paradiese im Diesseits verspricht. „Greta“ wird von dieser Welle getragen. Denn wir haben die Welt ja angeblich nur von unseren Kindern geborgt. Deshalb soll etwa ein gesenktes Wahlalter die Welt retten. Deutschland und der Westen werden zu Peter-Pan-Gesellschaften. Wenn Neill Postman früher einen Klassiker mit dem Titel „Das Verschwinden der Kindheit“ schrieb und damit ein Verschwinden der Kindheit durch die neuen Medien meinte, dann kehrt diese Kindheit als eine dominierende Macht jetzt zurück.

5. Angst und Hypochondrie sind angesagt, und zwar bezeichnenderweise je besser es den Menschen materiell geht. Denn immerhin hat sich der Lebensstandard im Westen der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg verdreifacht. Die Psychodynamik dahinter: Je sicherer man lebt, desto ängstlicher reagiert man auf Restrisiken. Odo Marquard nennt es ein Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom. Folge: Angst „sells“. Angst verkauft sich gut, mit Angst lässt sich alles Mögliche verkaufen: teurer Strom, vegane Kost, E-Mobilität, unbegrenzte Zuwanderung. Angstlust und Angstsucht greifen um sich, denn nach einer Art Angsterhaltungssatz ist die Summe aller Ängste gleich. Friedrich Nietzsche nennt diesen Typus Mensch den „Nothsüchtigen“. Bolz spricht von einer „Angstindustrie“, ja einer „Angstreligion“ – beides befördert von Massenmedien, die damit eine frei vagabundierende Lust an (Selbst-)Aggression freisetzen. Mit anderen Worten: „Es geht uns wohl zu gut.“ Diese Redensart nutzt Bolz zwar nicht. Aber er schreibt, dass der hohe Wohlstandslevel Langweile fördere. Wörtlich: „Wir sind so unglücklich, weil es uns an Erregung fehlt.“ Wir haben – vermeintlich – keine Feinde mehr – und suchen deshalb anderweitig nach Sensationen, zum Beispiel in realen oder imaginierten Katastrophen. Und wir sehnen schier die Angst vor der nächsten Angst herbei. Der Psychiater Bleuler hat das einmal „Phobophobie“ genannt.

6. Der Mensch ist ein Mängelwesen. Er kommt auf die Welt ohne eine Instinktausstattung und ohne Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ihn überleben ließen. Überleben konnte und kann der Mensch nur mit Hilfe von Technik. Technik ist insofern die Natur des Menschen. Mit Hilfe der Technik kann der Mensch Gefahren wenigstens in Risiken transformieren und zu beherrschen versuchen. Mit Hilfe der Technik und mit Hilfe seiner Intellektualität könnte er eigentlich mit Kontingenzen, mit den Unwägbarkeiten des Lebens, klarkommen. Eine generalisierte, aggressive Technikaversion aber wirft ihn um Jahrhunderte zurück.

Wir wollen nicht noch mehr vorwegnehmen. Bolz‘ Buch lohnt unbedingt die Lektüre. Der Autor macht es dem Leser zwar nicht immer leicht, weil er aus einem schier grenzenlosen ideengeschichtlichen Fundus schöpft. Namen wie Aristoteles, Platon, Novalis, Immanuel Kant, Thomas Hobbes, John Locke, Alexis de Tocqueville, Henry David Thoreau, Friedrich Schleiermacher, Arthur Schopenhauer, Walter Benjamin, Oswald Spengler, Sigmund Freud, Max Weber, Adlous Huxley, Ludwig Klages, Arnold Gehlen, Martin Heidegger, Helmut Schelsky, George Orwell, Günther Anders, Niklas Luhmann, Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Hans Jonas u.v.a.m. begegnen dem Leser auf seiner Reise durch die 191 Seiten. Aber man bleibt nicht bei diesen Namen hängen, denn deren Befunde werden bestens nachvollziehbar eingebaut. Freilich sind all diese Namen Impulse, die Bolz’schen Thesen weiter zu vertiefen. Was nach der Lektüre in jedem Fall bleibt, das ist die intellektuelle Provokation, die der Autor nicht nur als renommierter Kommunikationswissenschaftler, sondern gerade auch als versierter Kenner offenbar dauerhaft gültiger und aktueller philosophischer Debatten bietet.

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Kommentare ( 9 )

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Peer Munk
4 Jahre her

Klingt interessant, wobei ich bei dreien der herausgegriffnen Punkte meine Zweifel an Bolzens Thesen habe: Unbegrenzte Zuwanderung lässt sich mit Angst gut verkaufen?? Angst wovor? Dass zuwenig Leute in D leben könnten? Oder Schäubles absurde Theorie von der Inzucht, bei 80 mio Menschen? Dann die Phrase „uns geht es zu gut“. Das sagen ja auch die FFF-Kids und deren infantile Anhänger im Erwachsenenalter. Muss es dem Menschen schlecht gehen, damit er sich selbständig seines Verstandes bedienen kann? Außerdem „der Mensch ist ein Mängelwesen, ohne Instinkte“ – offenbar war der Mensch bislang äußerst erfolgreich evolutionär gesehen. Bei der Evolution geht es… Mehr

Boris G
4 Jahre her

Zumindest beim Thema Zuwanderung zeichnet sich allerdings die Mehrheit unserer Landsleute durch eine erstaunliche Angstfreiheit aus.
Ähnlich verhält es sich bei den Staatsausgaben – keinerlei Angst vor Überschuldung.
Und die Knausrigkeit bei den Verteidigungsausgaben scheint mir auch durch fehlende Angst vor bösen Menschen bedingt.

Menkfiedle
4 Jahre her
Antworten an  Boris G

Ich bezweifle, dass das die Mehrheit ist.
Wer äussert sich denn öffentlich kritisch zur Migration?
Wenn nach Allensbach nur 14% der Bevölkerung ihre Meinung unverblümt äussern, dann sind das vor allem diejenigen, die für offene Grenzen sind.
Was ist mit den anderen 86%?
Das dürften mit grosser Mehrheit Migrationskritiker sein.

kasimir
4 Jahre her
Antworten an  Menkfiedle

Bei uns im Bekanntenkreis wird mittlerweile das Thema Migration totgeschwiegen. Als ob es das nicht mehr gebe. Bei Parties habe ich das Gefühl, es stünde ein rosa Kaninchen im Raum. Das Thema wird „umschifft“, wenn möglich. Ich denke, die meisten haben Angst. Und vermutlich ist auch der Großteil der Deutschen gegen illegale Migration, aber keiner will sich outen…
Das Buch von Herrn Bolz werde ich mir demnächst zulegen….Ich finde er ist auch ein sehr guter Redner und Talkgast: klug, schlagfertig und den anderen um Lichtjahre voraus…und auf jeden Fall niemals langweilig.

Frank Gausmann
4 Jahre her
Antworten an  Boris G

Thema Zuwanderung: Es ist die Angst, bei Ablehnung einer bestimmten Zuwanderung oder Forderungen nach Begrenzung derselben als rassistisch und nationalistisch zu gelten. Es ist also die Angst der Deutschen vor dem vermeintlichen Nazi in sich selbst!
Im Übrigen sind die Ängste natürlich nur dort sichtbar bzw. vorhanden, wo sie durch entsprechende Propaganda geschürt werden.

Menkfiedle
4 Jahre her

Die Phobophobie existiert schon.
Allerdings können die Ängste zumindest teilweise auch begründet werden, weil wir ein weltweites System geschaffen haben, mit dem wir gleich an mehreren Ecken an die Grenzen kommen.
Bevölkerungswachstum, Ressourcenverbrauch, Treibhausgase, Wirtschaftssystem…
Dasselbe System sorgt für eine Entgrenzung, wo es früher Grenzen gab:
Migration, Atomare Aufrüstung, totale Überwachung, Viren wie Corona, Ebola springen auf Menschen über…….
Es ist also nicht mehr nur die Angst vor einem einzelnen Thema, hinzu kommt die Angst, dass wir ein System geschaffen haben, mit dem wir mit Vollgas gegen die Wand fahren.
Das Buch werde ich natürlich lesen.

Peter Mueller
4 Jahre her

Wenn ich eine Propagandakampagne sehe, dann erkenne ich sie. Bolz scheint das nicht vergönnt zu sein, wenn er schreibt, etwas sei „hoch im Kurs“. Da ist nichts von sich aus „hoch im Kurs“, sondern es wird künstlich hochgejubelt. Und tatsächlich läßt sich jede dieser Propagandakampagnen auf wirtschaftliche Interessen zurückführen. Sonst würde man diesen immensen finanziellen Aufwand einer Kampagne nicht betreiben – in einer Gesellschaft, in der ALLES in Geld bewertet wird. Diese Erklärung bleibt Bolz schuldig. Aber ich liefere sie gerne nach: https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/RV8O3MWH8H6PH/ref=cm_cr_dp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=394487241X https://www.iwd.de/artikel/geschaeftsmodell-klimaschutz-413595/ ab Min. 7:50: https://www.youtube.com/watch?v=Dll-3j1UZZM Im Übrigen entbehrt es nicht einer gewissen Komik, den „Ersatz-Religionen“ vorzuhalten, sie… Mehr

imapact
4 Jahre her

Die „Priester“ dieser Angstreligion, also Journos, Politiker, NGO-„Aktivisten“ verhalten sich im Prinzip wie besonders clevere Versicherungsvertreter, die ihren zukünftigen Kunden Bedürfnisse/Ängste einreden, für die sie dann teuer zu bezahlende „Lösungen“ anbieten. In Deutschland funktioniert das besonders gut, weil die deutsche Volksseele anscheinend schon immer eine hohe Affinität zur Apokalypse hatte. Klaus Vondung hatte dazu bereits 1988 ein Buch geschrieben „Die Apokalypse in Deutschland“. Tatsächlich hat Deutschland ja auch bereits mehrere solcher Apokalypsen erlebt, wie etwa den dreißigjährigen Krieg, der Zusammenbruch von 1918 mit anschließender Inflation, die Nazizeit und dann der erneute Zusammenbruch zusammen mit der Auslöschung der meisten größeren Städte.… Mehr

Vox critica
4 Jahre her

Klingt interessant. Das Buch hat mein Interesse geweckt.