Michael Wolffsohn über Israel und den Nahost-Konflikt

Der Historiker und Nahost-Experte Michael Wolffsohn hält Deutschlands Forderung der Zwei-Staaten-Lösung für irrelevant. Er spricht von einer "Intifada" in Deutschland. Im Kampf gegen den Antisemitismus machten die meisten politisch Verantwortlichen "unfreiwillig jeden denkbaren Fehler".

Wie ist der gegenwärtige Konflikt in Israel aus Sicht des Historikers einzuordnen? Kann man eine Entwicklungslinie des Kampfes Israels um seine Existenz seit 1948 ziehen, auf deren Fortsetzung nun auch diese jüngsten Raketen-Terror-Angriffe der Hamas liegen?

Michael Wolffsohn: Ja und nein. Ja, weil die Hamas, wie einst alle arabischen Akteure Israels Existenz bekämpfte und die Auslöschung Israels anstrebte. Wie gesagt, einst war das die gesamtarabische Haltung. Davon kann heute glücklicherweise keine Rede mehr sein, wohl aber bei einigen, vor allem bei der libanesischen Hisbollah, der Hamas und dem Islamischen Jihad in Gaza. Allesamt sind der verlängerte Arm der Mullah-Diktatur im Iran. Von 1948 bis 1979 bestanden zwischen dem Iran und Israel beste Verbindungen. Die Zeiten ändern sich mit den Akteuren. Anders als 1948 kann kein regionaler Staat oder Akteur Israel auslöschen.

Anders als etwa 2014 kamen zum jüngsten Raketenterror noch gewaltsame Ausschreitungen arabischer Bürger Israels. Es war sogar von der Gefahr eines Bürgerkriegs die Rede. Hat das unmittelbar mit der Rolle der arabischen Ra’am-Partei für die anstehende Regierungsbildung zu tun? 

Im Kampf um die Fakten
Michael Wolffsohn - Historiker wider die Fachidiotie
Gewaltsame Unruhen der arabischen Israelis gab es auch schon früher. Ich erinnere zum Beispiel an den „Tag des Bodens“ im März 1976 unter Premier Rabin oder im Oktober 2000 unter Barak. Beide Arbeitspartei. So heftig war es aber noch nie. Das bekräftigt mich in meinem Ansatz der jeweiligen Autonomie für Juden und Araber im Kernland Israel. In meinem Buch „Zum Weltfrieden“ habe ich das ausführlich dargestellt. Der jetzige Gewaltausbruch kommt nicht zuletzt von den arabischen Ra´am-Gegnern. Diese Partei – immerhin von Hause aus Islamisten – ist inzwischen sehr pragmatisch. Der Koalitionsvertrag mit ihnen war unterschriftsreif, bevor der Raketenkrieg aus Gaza begann. Dieser sollte die bevorstehende Friedliche Revolution der israelischen Araber verhindern. Hamas und Jihad wollen auf Teufel komm´ raus eine jüdisch-arabische Annäherung in Israel verhindern. Ra´am-Chef Mansour Abbas will nun mit seinen Freunden die von Hamas-Raketen zerstörte Synagoge in Lod wiederaufzubauen helfen. Was für eine noble Geste! Klar, dass palästinensische Extremisten das verhindern wollen.

Ihr Historiker-Kollege Dror Wahrmann von der Hebrew University of Jerusalem hat kürzlich geschrieben, viele seiner Freunde glaubten, Premierminister Netanjahu „habe die Eskalation angeheizt“, weil ihm das helfe an der Macht zu bleiben. Er meint, „dass wir in einem tieferen Sinne heute die giftigen Früchte von Netanjahus zwölfjähriger Herrschaft ernten“. Ein schwerer Vorwurf. Ist da was dran? 

Deshalb ist die These Unsinn: Erstens sollten gerade Historiker wissen, dass Kriege oft politisch und militärisch nicht steuerbar sind. Das sehen wir auch jetzt. Schauen Sie zum Beispiel aufs politische Spitzenpersonal vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Oder denken Sie an Hitler. Nach dem Krieg war es anders als davor. Zweitens war vorhersehbar, dass unter den Hamas-Raketen besonders die Israelis in der Nähe des Gazastreifens leiden würden. Ein Großteil dieser Israelis wählt seit jeher Netanjahus Likud und Partner. Netanjahu beginge politischen Selbstmord, würde er gerade seine Wähler zusätzlichen Gefahren aussetzen. Weltweit unterschätzen Linke und Linksliberale ihre innenpolitischen Gegner – und erleiden deshalb Schiffbruch.

Unsinnige Behauptungen jener Art werden seit Jahren gegen Netanjahu in die Welt gesetzt. Kein Wunder, dass außer Wolkenkuckucksheim-Akademikern kaum jemand in Israel diesen Unsinn glaubt, Netanjahus Likud seit Jahren stärkste Kraft bleibt und die nationalistische Rechte mit den Religiösen immer mehr Stimmen gewinnen. Zeit wird es, dass auch in Israel Professoren endlich politisch klüger werden.

Haben sich die Rolle und die Interessenlage der innerisraelischen Araber in den letzten Jahren grundlegend gewandelt?

Interview
Michael Wolffsohn - Deutschjüdische Glückskinder
Ja, siehe Mansour Abbas. Ähnlich seinerzeit Deng Xiaoping ist es ihm egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist. Hauptsache, sie fängt Mäuse. Mansour Abbas strebt konkrete Verbesserungen für seine Klientel im Hier und Heute an. Anders als die PLO, Hamas und Jihad stellt er keine Maximalforderungen. Das ist sehr klug, denn je radikaler die arabischen Israelis, desto radikaler auch die Mehrheit der jüdischen. Endlich gibt es einen klugen Politiker wie Mansour Abbas. Das wiederum ist ein Ergebnis der innerisraelischen Entwicklungen. Ein Beispiel: Knapp 15 Prozent aller israelischen Ärzte sind Araber und gut situiert. Sie haben also viel zu verlieren. Ebenso wie ihre jüdischen Patienten. Wozu also Konflikt? Frieden entsteht meistens durch wechselseitige Interessen. Hamas und Jihad wollen aber Konflikt.

Die israelischen Streitkräfte haben gegen die Hamas im Gaza-Streifen zurückgeschlagen. Kann Israel die Hamas im Gaza-Streifen immer nur kurzfristig schwächen oder sehen sie eine Perspektive, sie langfristig militärisch zur Akzeptanz Israels zu zwingen? 

Kurz- und mittelfristig, taktisch, hat Hamas Israel akzeptiert, aber eben nicht strategisch, langfristig. Israel kann weder Hamas noch die Palästinenser im Gazastreifen beseitigen, sondern nur durch militärische Schläge ruhig halten. Und versuchen, die Abstände zwischen den Waffengängen zu verlängern. Das bedeutet: Eine Lösung gibt es nur politisch. Die Zwei-Staaten-Lösung löst nicht das Problem, sondern schafft neue. Deshalb braucht man neue Ideen. Ich denke an föderale Strukturen, eine Mischung aus Bundesstaat und Staatenbund. In meinen Büchern „Zum Weltfrieden“ und „Wem gehört das Heilige Land?“ habe ich das ausführlich dargestellt.

Wir müssen unbedingt auch über Deutschland sprechen. Sie sind unter anderem Spezialist für die jüdisch-deutsche Geschichte. Was bedeuten die jüngsten Demonstrationen, die vielfach eindeutig antisemitisch waren, für die in Deutschland lebenden Juden? 

Interview
Michael Wolffsohn: „Es gibt kein dauerhaftes Täter-, kein dauerhaftes Opfervolk“
Ein Alarmsignal. Die jüngsten Antisemiten-Demos waren vor allem arabisch-islamisch. Aber man übersehe nicht den links- und rechtsextremistischen Antisemitismus. Nicht zu vergessen die antisemitischen Klischees in sogenannten besseren Kreisen. Letztere sind unappetitlich, erstere gefährlich bis lebensgefährlich. Deutsche Politik und Medien konzentrieren sich meistens allein auf den rechtsextremistischen Antisemitismus. Der jetzige Raketenkrieg dokumentiert die muslimisch-antisemitische „Intifada“ in Deutschland. Bald wird sie wieder unter den Teppich gekehrt und wieder allein die Gefahr von rechts beachtet. Es gibt sie, aber eben nicht nur sie.

Bei den antisemitischen Vorfällen, zum Beispiel vor der Synagoge in Gelsenkirchen, fällt auf, dass auch türkische Flaggen geschwenkt wurden. Da sind also längst nicht nur die kürzlich aus dem Nahen Osten Zugewanderten präsent, sondern offenbar auch hier geborene Türkeistämmige, vermutlich mit deutscher Staatsbürgerschaft und in deutschen Schulen unterrichtet. Die haben im Geschichtsunterricht sicherlich vom Holocaust erfahren. Was ist da falsch gelaufen? 

Diese neudeutschen Bürger meinen, es gäbe Deutschland à la carte. Und man lässt sie. Man müsste ihnen klar machen: Wer Deutscher ist, ist Teil der deutschen Schicksalsgemeinschaft, haftet mit, und trägt deutsche Verantwortung mit. Jede Staatsbürgerschaft ist mit Rechten und Pflichten verbunden. Das vergessen auch viele Alteingesessene.

Ist das auch eine Folge der immer deutlicher antisemitischen Botschaften des türkischen Präsidenten Erdogan?  

Ja.

Werden, wie in Frankreich schon längst zu beobachten, immer mehr Juden angesichts der offenen Feindseligkeit, die ihnen hier begegnet, Deutschland verlassen? 

Wer weiß? Ich vermute, dass es so sein wird.

Das offizielle Deutschland, die deutsche Politik bedient auch jetzt wieder bekannte Floskeln wie: „kein Platz für Antisemitismus“. Böse Zungen sagen, die heutigen Deutschen täten es sich mit den vor über sieben Jahrzehnten ermordeten Juden leichter als mit den heute Lebenden. Sie haben in einem Aufsatz einmal geschrieben, dass Juden und nichtjüdische Deutsche aus den zwölf Jahren die Lehre des „Nie wieder!“ gezogen hätten. Allerdings wollten die Juden nie wieder Opfer und die Deutschen nie wieder Täter sein. Ist die laue Reaktion des offiziellen Deutschland auf islamischen Antisemitismus unter den Eingewanderten im eigenen Land eine Folge davon? 

Im Stich gelassen
Der Judenhass auf Deutschlands Straßen kam doch nicht über Nacht!
Im Kampf gegen den neuen Antisemitismus von rechts, links und dem islamischen Minderheitsmilieu machen die meisten politisch Verantwortlichen unfreiwillig jeden denkbaren Fehler. Als inkompetente Erzieher setzen sie auf Worte statt auf aktive Verfolgung von Taten und Konsequenzen für die Täter.

Was wünschen sich die deutschen Juden vom deutschen Staat, von der deutschen Zivilgesellschaft – über die Floskeln hinaus?

Faktische Sicherheit. Die kann aber das so sympathisch pazifistische Deutschland nicht liefern. Wer Sicherheit nicht kann, kann sie niemandem bieten. In Bayern kann man Sicherheit besser als im Bund oder gar in Berlin.

Um den Bogen wieder nach Israel zu spannen. Das Existenzrecht Israels sei deutsche Staatsräson, sagte die Kanzlerin in der Knesset. Hat Merkels Versprechen für Israel eine mehr als symbolische Bedeutung? Sind zum Beispiel die oft genannten U-Boote aus Deutschland für Israel existentiell?

Die deutschen U-Boote ja. In Israel funktionieren alle, nicht in Deutschland. Nicht einmal das eigene Gerät ist hier vollständig einsatzbereit.

Könnte Deutschland im aktuellen Konflikt eine konstruktivere Rolle spielen, etwa in seinem Verhältnis zum Iran, der hinter der Hamas steht? 

O ja, nicht das Atomabkommen mit dem Iran wiederbeleben. Wer das versucht, fördert die atomare und konventionelle Aufrüstung des Iran.

Die Bundesregierung und die EU behaupten seit vielen Jahren die so genannte Zwei-Staaten-Lösung als Weg zum Frieden. Hat das überhaupt noch irgendeine Relevanz? 

Nullkommanull. Was geschähe bei dieser angeblichen Lösung mit rund 600.000 Juden im Westjordanland? Ethnische Säuberung? Mit Gewalt oder durch Austrocknung? Geht nicht. Selbst wenn die 600.000 Juden nach Israel gebracht werden könnten – was geschieht mit etwa zwei Millionen israelischen Arabern? Die bleiben, aber „Juden raus“?


Prof. Dr. Michael Wolffsohn, war 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München. Er ist einer der führenden Experten für die Analyse internationaler Politik und nicht zuletzt die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden auf staatlicher, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Ebene.


Das Standardwerk zum Nahostkonflikt:
Michael Wolffsohn, Wem gehört das Heilige Land? Die Wurzeln des Streits zwischen Juden und Arabern. Piper Verlag, 304 Seiten, 12,00 €.

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Kommentare ( 2 )

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2 Comments
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Dr_Dolittle
7 Monate her

Ich weiß gar nicht was diese Zweistaatendiskussion soll – Trans-Jordanien, also Jordanien ist bereits ein Palästinenserstaat. Brauchen wir wirklich zwei davon? Den Fehler haben die Briten gemacht, indem sie Cis-Jordanien innerhalb ihres Protektorates Palästina parzelliert haben.

Der nachdenkliche Paul
3 Jahre her

Eine hervorragende Analyse von Prof.Wolffsohn in der doch sehr verzwickten Situation in Israel und den anliegenden Staaten. Schade, dass Herr Wolffsohn aktuell nicht in den deutschen Talkshows eingeladen wird,