Lorenz Jäger: Sich den Tod zu eigen machen

Sein „Erschrecken über die Expertokratien“, so der Autor, war der Anlaß für sein neues Werk – was unweigerlich an das Gesundheits-, Lebens- und Sterberegime der Covid-Zeit denken lässt. Ein Plädoyer für die Wieder- und Neuaneignung der Künste des Lebens und des Sterbens.

Drei Jahre nach seiner großen, mit „Ein deutsches Leben“ untertitelten Martin Heidegger-Biographie, die vielleicht die beste überhaupt ist, hat Lorenz Jäger ein neues Buch vorgelegt. Das Thema ist nicht ganz unheideggerianisch, geht es doch in „Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens“ um eine Konfrontation mit dem Tod und damit einhergehend um die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit der menschlichen Existenz. Dennoch handelt es sich nicht um ein weiteres Heidegger-Buch aus Jägers Feder. Der Meßkircher Meisterdenker kommt zwar vor, ist auf den gut 260 Seiten aber nur ein Referenzautor unter vielen.

Wie Jäger im Prolog erklärt, der den insgesamt 19 nicht zu langen Kapiteln vorgeschaltet ist, war der Anlass für dieses Buch das „Erschrecken über die Expertokratien“ – der Rezensent denkt unweigerlich an das Gesundheits-, Lebens- und Sterbensregime der Covid-Zeit. Auch die Intention des Buches wird vom Autor deutlich herausgestellt: Das Buch plädiere „für eine Wieder-Aneignung, Neu-Aneignung der enteigneten Künste des Lebens und Sterbens“. Die Hauptquellen für eine solche Rehabilitierung der Kunst, das eigene Leben in Auseinandersetzung mit dem unausweichlichen eigenen Tod zu gestalten, sind für Jäger einmal die griechische Antike sowie die Welt des Alten Testaments. Eine kluge Entscheidung, kommt doch der Zustand der eigenen Gegenwart – samt ihren Pathologien – erst in den Blick, wenn man ausreichend geistige Distanz zum Zeitgeist gewonnen hat.

Von Platon bis Walter Benjamin

Der Leser darf allerdings keinen stringent durchargumentierten philosophischen Traktat zu Leben und Tod erwarten. Erst recht nicht – und glücklicherweise – handelt es sich um ein Stück abgeschmackte Ratgeberliteratur, die mit den besten Tipps für ein gutes Leben und Sterben aufwartet. Stattdessen tritt Jäger, der das Ressort Geisteswissenschaften der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über Jahre geprägt hat, in diesem Buch als großer Feuilletonist auf. In lebendig-eleganter Sprache, die niemals etwas Gespreiztes hat, lässt Jäger den Leser an seinem reichen Bildungsschatz, der weit über den Durchschnittskanon hinausgeht, teilhaben. Dabei gelingt Jäger das Kunststück, den gleichermaßen verbreiteten wie peinlichen Erklärbärton zu vermeiden, ohne in das andere Extrem einer abgehobenen Bildungshuberei zu verfallen. Ob es um die Parallelen und Differenzen zwischen dem biblischen Schöpfungsbericht und dem Gilgamesch-Epos oder um die Vergänglichkeitsästhetik des „mittelalterlichen“ japanischen Romans „Genji Monogatari“ geht – mit fast jeder Zeile Jägers erfährt der Leser etwas Bedenkenswertes, ohne das Gefühl zu haben, belehrt zu werden.

TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE
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Obwohl den homerischen Epen – der „Ilias“ und der „Odyssee“ –, der griechischen Mythenwelt sowie den Erzählungen und religiösen Praktiken des Alten Bundes besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, zeichnet sich Jägers Buch durch eine Fülle – teilweise sogar Überfülle – an literarischen, philosophischen und kulturellen Bezugspunkten aus. Von Platon über Arthur Schopenhauer bis Walter Benjamin, von den Märchen der Gebrüder Grimm über das Werk Ernst Jüngers bis hin zu Brigitte Kronauers letztem, kurz nach ihrem Tod 2019 erschienenen Werk „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ – Jäger versteht es, dem Leser die unterschiedlichsten Lesefrüchte schmackhaft aufzubereiten. Die Auswahl bleibt trotz ihrer Reichhaltigkeit natürlich subjektiv. Auch wenn die große Menge an Autoren und Werken zwischenzeitlich beim Leser den gegenteiligen Eindruck erwecken mag: Das schlanke Buch kann und will keine quasi-enzyklopädische Gesamtschau des gewaltigen Themenkomplexes Sterben und Tod sein.

Ein Buch, das man langsam lesen muss

Dennoch sei es dem Rezensenten nicht als Zeichen jener Borniertheit, die die eigene Leseerfahrung zum allgemeinen Kanon erhebt, angerechnet, wenn er bedauert, dass Albert Camus im gesamten Buch, einschließlich des Kapitels über den Selbstmord, keine Erwähnung findet. Der Literat und Philosoph Camus meinte schließlich, im Selbstmord das philosophische Problem schlechthin identifiziert zu haben. „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“, heißt es zu Beginn seines Buchs „Der Mythos des Sisyphos“. Und weiter: „Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere – ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat – kommt später.“

Aus der Fülle des von Jäger bearbeiteten Materials ergibt sich noch eine weitere Schwierigkeit: Liest man zu schnell, kann die Tatsache, dass sich der Autor meist schon nach wenigen Absätzen einem neuen Werk zuwendet, um es für den Leser zusammenzufassen, etwas Ermüdendes haben. Entschleunigtes, bedacht-reflektierendes Lesen der kurzen Passagen ist also gefragt. Erst dann entfaltet das Buch seine volle, den Geist stimulierende Wirkung. Am stärksten ist „Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens“ jedoch immer dann, wenn Jäger sich deutlich mit eigener Stimme, eigenen Gedanken zu Wort meldet. So etwa im Kapitel „Das Leben nehmen“, in dem sich der Autor mit dem Mord auseinandersetzt. „Warum mordet der Mensch?“, fragt Jäger und gibt sich nicht mit den üblichen Hinweisen auf Geldgier, Eifersucht oder pervertierte sexuelle Leidenschaft zufrieden. Dagegen lautet seine Hypothese: „Mir scheint, es gebe Taten, die nur daraus zu erklären sind, dass dem Opfer eine gewisse Leuchtkraft eigen war, die aus dem Sein kam, aus der Existenz, und die mit allem Geld der Welt (zur Befriedigung der Habgier) nicht auszugleichen war.“

Ohne Nihilismus oder Gefühlsduselei

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Einen Gewährsmann für seine Vermutung, es gebe so etwas wie eine auf die vitale Leuchtkraft des anderen gerichtete „immaterielle Habgier“, findet Jäger im Philosophen Max Scheler, der einen „Existenzialneid“ postuliert hat. Der Unterschied: Jäger hält den Existenzialneid als Mordmotiv nicht für ein äußerst seltenes Vorkommnis, sondern für ein Grundelement der allermeisten Tötungsverbrechen. Ja, selbst bei dem Urmord, den Kain an seinem Bruder Abel beging, müsse „etwas von dieser Art“ im Spiel gewesen sein. Derartige Spekulationen stellen die Höhepunkte des Buches dar, auch weil es sich bei ihnen eben nicht um intellektuelle Phantastereien handelt, sondern um erfahrungsgesättigte Hypothesen eines wirklichkeitszugewandten Geistes. Wenn man Jägers exemplarische Schilderungen des Unterschieds an existenzieller Leuchtkraft zwischen Sharon Tate, Martin Luther King, John Lennon und John F. Kennedy und ihren Mördern Charles Manson, James Earl Ray, Mark David Chapman und Lee Harvey Oswald gelesen hat, wird man fast geneigt sein, die Leuchtkraft des Menschen und den Existenzialneid für harte Fakten zu halten.

Der Ton des Buches ist trotz des Themas nie makaber, nihilistisch oder gefühlsduselig. Das würde auch gar nicht zum eigentlichen Anliegen des Verfassers passen, das darin besteht, nach Vorbildern und Anknüpfungspunkten für eine gelungene „Ars Moriendi“ zu suchen, wie sie Jäger etwa in dem bereits erwähnten posthumen Werk Kronauers verwirklicht sieht. Besonders die Geschichte „Grünewald“ hat es ihm angetan. Hier findet Jäger, worauf es bei der Kunst des Sterbens ankomme: „Bewusst und wach angesichts des Kommenden, ohne Illusionen und Bitterkeit, die Gedanken auf das einzig noch Wesentliche gerichtet. Das ist mehr als der eigene Tod – es ist der bewusst angeeignete, den man sich zum eigenen gemacht hat.“

Wenn es einen Aspekt des Sterbens gibt, der bei Jägers tiefsinnigem Umkreisen des Phänomens etwas unterbelichtet bleibt, dann vielleicht die Tatsache, dass der Tod ein grässlicher Stachel im Fleische des Menschen ist. Philosophisch gesprochen, droht mit dem Tod die Sinn-Kette der menschlichen Handlungen für immer abzureißen und damit das Tun und Streben des Menschen im Ganzen sinnlos zu werden. Theologisch gefasst ist der Tod ursprünglich auch nicht Teil des Planes, den Gott für den Menschen vorgesehen hat – vor dem Sündenfall gab es für Adam und Eva kein Sterben. Daher ist und bleibt der Tod ein absolutes Skandalon. Überwunden ist er allein für den Christenmenschen durch die Erlösungstat seines Heilands, der ganz Gott und ganz Mensch zugleich ist. So gesehen ist es überaus treffend, dass Jäger sein unbedingt lesenswertes Buch mit den sieben letzten Worten Jesu am Kreuz enden lässt, die er als Leitfaden „für Sterbende und für jene, die sie dabei begleiten, am Ende für alle Sterblichen“ deutet.

Lorenz Jäger, Die Kunst des Lebens, die Kunst des Sterbens. Rowohlt Berlin, 272 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 25,00 €.

Dieser Beitrag von Sebastian Ostritsch erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.


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Urbanus
8 Tage her

Gaius Julius Caesar: „Der Tod, ist mehr ein Tag der Freude als der Trauer“