Komm und sieh! Vom Gespür für das Wunderbare im Wirklichen

Mit der „Lukas-Ikone“ ist Paul Badde ein spannendes und lehrreiches Werk gelungen, das auch eine profunde Wissenschaftskritik enthält. Seine ganz persönliche Suche nach der verlorenen Zeit, die auch eine Suche wider den verlorenen Glauben ist, macht es zu einem Schlüsselwerk. Von Remigius Schwarz

„Ich sah meine Mutter sterben, als ich vier war. Sie hieß Maria und meinen Vater hatte sie, denke ich, vor allem geheiratet, weil er Joseph hieß.“ So beginnt Paul Baddes letzte Recherche unter dem Titel „Die Lukas-Ikone. Roms verborgenes Weltwunder“. Es ist auch seine ausdauerndste. Das beweisen die ersten Sätze, mit denen Badde den Leser in das Jahr 1952 und die Stätte seiner Kindheit, dem niederrheinischen Schaag, entführt, wo die Mutter nach einem Herzanfall im Sterben zu liegen scheint. Enden wird seine Recherche über siebzig Jahre später in Rom, Baddes neuer Heimat.

Doch dann: Die „Wiederauferstehung“. Gerade als der herbeigerufene Pfarrer Maria Badde die letzte Ölung spenden will, schlägt sie die Augen auf und bittet die Familie, aus dem Fenster zu schauen, denn es würde ein Sarg aus dem Haus getragen. Und in der Tat trägt man in diesem Augenblick jene Mieterin hinaus, die der Familie mit ihren Nachstellungen das Leben besonders schwer gemacht hatte. Mutter Badde aber lebte noch 41 Jahre. Eine fast unglaubliche Geschichte und doch wahr – ebenso wie die Suche, auf die Badde den Leser vom Niederrhein aus mitnehmen wird.

Wenige Jahre später geschieht kein Wunder. Baddes Vater erleidet auf dem Weg zur Arbeit einen Herzinfarkt – und stirbt. Der neunjährige Paul kompensierte seine Trauer, indem er inmitten der kondolierenden Nachbarn „malte und malte und malte. Was? Es war ein Paradies mit den Tieren des Waldes, in das ich mich hineinversetzte. Ich lebte in Bildern und dachte in Bildern und merkte mir Bilder, die ich sah, als seien es Schnappschüsse mit einer Kamera.“

Damit ist der Rahmen für die „Lukas-Ikone“, wie auch das gesamte schriftstellerische Werk Baddes gesetzt: ein Gespür für das Wundersame und zugleich doch Wirkliche und dessen Manifestation durch und in Bildern. Weil „der katholische Indiana Jones“ (wie er unter Kollegen genannt wird) ein Freund der Bilder ist und ein Virtuose der bildhaften Sprache, jemand, der den „Iconic Turn“ unserer Kultur verstanden und verinnerlicht hat, macht er sich auf die Suche nach dem verlorenen Bild – für ihn zugleich eine Lebensbeichte.

Die Ausgangsfrage: Gibt es tatsächlich ein authentisches Bild der Mutter Jesu, gemäß der Legende zu ihren Lebzeiten gemalt vom Evangelisten Lukas? In Bezug auf Jesus Christus hat Badde schon vor fast zwanzig Jahren mit „Das göttliche Gesicht“ über den Schleier von Manoppello einen vielgelesenen Bericht vorgelegt. Mit „Die Lukas-Ikone“ vervollständigt er seine Suche nach den Urbildern – darin ganz Maler – zu einem erzählerischen Diptychon.

Anwältin und Augenweide
Roms verborgenes Weltwunder: Maria Advocata
Seine Recherche beginnt 2020 am Grab des Evangelisten Lukas in Padua und führt dann in einem serpentinenreichen Parforceritt hin und zurück durch die Zeit zunächst nach Polen zu der von Johannes Paul II. verehrten schwarzen Madonna von Tschenstochau, die die junge Familie Badde 1979 neugierig und skeptisch aufsuchte. Auslöser: Die Begeisterung der wiederauferstandenen Mutter für den Papst und eine vergilbte Postkarte der Madonna, die im Geburtszimmer von Baddes Tochter Maria Magdalena hing. Die Reise nach Polen ist denn auch die Suche nach dem eigenen, verschütteten Glauben, der durch die Begegnung mit diesem „lebendigen Bild“ neue Impulse bekommt. Badde, der gerade eine Stelle bei dem weiß Gott nicht frommen, sondern ziemlich progressiven Satireblatt „Pardon“ bekommen hatte, wendet sich -langsam aber sicher – von links zu Gott und zu der Frage, was eine „Ikone“ so lebendig macht.

Authentischer Glaube, muss das nicht ein Glauben sein, der sich auf das Lebendige beruft; ebenso wie die Bilder, die dieser Glauben hervorbringt? Just in jenem Moment, in dem sich die junge Familie Badde vermeintlich lebendigen Gläubigen zuwendet, der sogenannten „Integrierten Gemeinde“, die sich hinter der Autorität und dem Wohlwollen Joseph Ratzingers verbarg, und die dennoch – wie so viele neue geistliche Gemeinschaften im Zuge des II. Vaticanums – etwas akademisch Sektenhaftes an sich hatte, von der sich Badde später schmerzhaft wieder lösen musste, wird ihm von einem Mitglied ebendieser Gemeinde ein Bildband über die ägyptischen Mumienporträts in die Hand gedrückt – die nächste Station der Recherche.

Es ist ein Werk der Kunsthistorikerin Hilde Zaloscer über die im Wüstensand überdauerten Totenbilder aus der Oase Fayum. In der Zeit unmittelbar nach Christi Tod und Auferstehung hatte hier ein Umbruch im Mumienkult stattgefunden. Der vieltausendjährige Brauch der Mumienmasken wurde durch gemalte Bildporträts abgelöst.

In einem „unerklärlichen Abstraktionssprung vom dreidimensionalen Abbild zu zweidimensionalen Bildern“ fand ein radikaler Perspektivwechsel statt. Die Verstorbenen waren für ihre letzte Reise nicht mehr den Betrachtern entzogen, sondern blickten nun direkt mit großen Augen auf die Lebenden. Es sind Auferstandene, die den Betrachter anschauen, mit einem rätselhaften „Du und Du“ und „Aug in Aug“ – wie die die schwarze Madonna von Tschenstochau. Kein Zweifel für Zaloscer: die lebendigen Ikonen sind aus diesen lebendigen Totenporträts hervorgegangen, als „erste ‚Offenbarung durch das Bild‘, wie der Osten sie bis heute kenne.“

Das Schicksal Hilde Zaloscers zeichnet ein weiteres Thema dieses Buches exemplarisch vor: die Ablehnung des Transzendenten durch die etablierten Wissenschaften. Zaloscer fand ihren Gatekeeper in Klaus Parlasca, der ihre Arbeit als „oberflächlich und mit haltlosen Hypothesen und einem unangenehmen, femininen Sentiment belastet“ diskreditierte und die Mumienporträts als Frucht des Osirisglaubens markierte. Das war für den aufgeklärten Wissenschaftsbetrieb harmloser, weil historisierbar. Badde bemerkt: „Ihr Name ist getilgt, wo von Fayum-Bildern die Rede ist“. Sein Verdienst: Er ruft sie wieder in Erinnerung! So hatte der Irr- und Umweg über die Integrierte Gemeinde für den Autor auch etwas Gutes, zumal er von dort den Auftrag mitnahm, sich ganz einem katholischen Journalismus auf der Suche nach der Wahrheit zu verpflichten.

In diesen Vorgängen dürften auch die Wurzeln für den literarischen Typus der biographischen Recherche liegen, den Badde zu seinem unnachahmlichen Stil ausgebaut hat – wohl in dem Wissen, dass Entdeckung und Erkenntnis immer am vermeintlich Privaten Anstoß und Anker finden. So ist der Bezug zur eigenen Biographie, und auch zu derjenigen seiner Frau Ellen, die ihn bei seinen Recherchen begleitet, bei allen folgenden Stationen zum wahren Bild der Gottesmutter gegenwärtig.

Sternstunden des Lesens
Skepsis, die zum Glauben führt: Albert Christian Sellners Heiligenkalender
Den entscheidenden Anstoß erhält Badde dann als Israel-Korrespondent der WELT in Jerusalem, wo er glaubt im chaldäischen Markus-Kloster eine uralte Lukas-Ikone im Stil der sogenannten „Hodegetria“, der „Wegweiserin“, entdeckt zu haben. Enttäuschenderweise eröffnet ihm der spätere Abt des Dormitio-Klosters, Bernhard-Maria Alter, leider sei die vermeintliche Lukas-Ikone keine. Die authentische Ikone sei „in Rom, der Stadt Mariens“ zu finden – wo genau, weiß Alter allerdings auch nicht. Welche Fügung: Just in diesen Tagen wird Badde als WELT-Korrespondent mach Rom versetzt.

So lernt der Leser die vielen marianischen Orte und Bilder Roms und Italiens in einer spannenden Schnitzeljagd kennen, die schließlich auf dem Monte Mario ihr Ende findet. An fast verborgenem Ort, im Rosenkranzkloster der in Klausur lebenden Dominikanerinnen wird seit Jahrhunderten die Maria Advocata-Ikone des Evangelisten, das marianische Urbild, aufbewahrt. „Est, est, est!“, kommentiert Badde seinen Fund und belegt kenntnisreich anhand vieler Quellen, warum es sich bei dieser Ikone mit großer Wahrscheinlichkeit um das authentische Urbild Mariens handeln muss.

Die Argumentationskette ist aber vor allem dann überzeugend, wenn man Baddes phänomenologischen Ansatz auf sich wirken lässt. Das Ganze ist die Wahrheit: der Eindruck des Bildes, das in seiner Präsenz, in seiner Urtümlichkeit eigentlich keine Fragen offenlässt. Das geht aber nur, wenn man den zergliedernden, auf Zitierkartellen und festgefahrenen Paradigmen beruhenden Ansatz der Kunstwissenschaft hinter sich lässt, der letztendlich nur dann überzeugend ist, wenn man das „Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“ des vorherrschenden Positivismus akzeptiert.

Obwohl unter anderem mit den Mumienporträts schlagende Beweise für die Möglichkeit der Datierung der Monte-Mario-Ikone in das erste Jahrhundert und damit in die Zeit Mariens vorliegen, weigert sich die Kunstwissenschaft beharrlich, dies einzugestehen und behauptet weiter unbeirrt, dass die „Advocata“, wie alle anderen uralten Ikonen, bestenfalls aus dem 7. Jahrhundert stammen könne. Man will auch gar nicht zugeben – so ist zumindest zu vermuten –, dass die Marienverehrung ein reales Fundament hat. Badde sieht sich damit in die Situation Zaloscers versetzt, was ihn schon im Falle des Schleiers von Manoppello mit Anfeindungen und Totschweigen konfrontierte.

So kommt dem Kapitel „Albertus Magnus“ eine Schlüsselfunktion zu, in dem Badde im Dialog mit seinem alten Weggefährten und ehemaligen Pardon-Kollegen Albert Sellner die Misere einer transzendenzfeindlichen orthodoxen Wissenschaft herausarbeitet. Eine solche „sterile und angebliche Wissenschaft der Worte“ hatte er schon bei den Theologen der Integrierten Gemeinde kennengelernt, wo man Widerspruch an der Unwahrheit im Fundament nicht duldete. Streit ist daher „nutzlos in einer Arena wissenschaftlicher Sekten, in denen selbst ernannte ‚Aufklärer‘ die Deutungshoheit der heiligen Bilder der Christenheit schon so lange gekapert haben. Die Bilderstürmer, die alle Ikonen leidenschaftlich hassten, verstanden sich immer als Aufklärer.“

Gegen den Streit setzt er einen Gedanken Roberts Spaemanns, den dieser kurz vor seinem Tod mit Badde teilte: „Wahrheit wird nicht in erster Linie durch Argumente, sondern durch Evidenz vermittelt“. Und diese Evidenz lässt sich nicht in Formeln und Datierungen, nicht im Streit, sondern in der Begegnung mit dem wahren Bild und dem Erzählen darüber vermitteln.

Mit der „Lukas-Ikone“ ist Paul Badde ein spannendes, lehrreiches und hoffentlich nicht letztes Werk gelungen, das auch eine profunde Wissenschaftskritik enthält. Dass er keine abgehobene theologische Abhandlung vorlegt, sondern eine ganz persönliche Suche nach der verlorenen Zeit, die auch eine Suche wider den verlorenen Glauben ist, macht es zu einem Schlüsselwerk.

Wie die Maria-Advocata-Ikone von Jerusalem auf den Monte Mario gelangt ist, soll hier aber nicht verraten, sondern am besten vom Leser selbst nachvollzogen werden. Etwa durch eine Reise nach Rom, um im Rosenkranzkloster auf dem Monte Mario die „Lukas-Ikone“ in ungläubigem Staunen zu bewundern, oder vielleicht, um einen wiederaufstehenden Glauben an das Wunderbare im Wirklichen zu erleben …

Remigius Schwarz ist Buchhändler und Bücherwurm. Aus dem Elsass stammend studierte er Germanistik und Philosophie. Derzeit lebt er im Rheinland, wo er sich mit den Auswirkungen Digitalisierung auf den Menschen und die Kultur beschäftigt.

Paul Badde, Die Lukas-Ikone. Roms verborgenes Weltwunder. Fe-Medienverlag, Hardcover mit Überzug und Lesebändchen, 272 Seiten, inklusive 16 Seiten vierfarbigem Bildteil, 19,80 €.


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