Auch in Franz Kafkas erst posthum von Max Brod herausgegebenem Werk geht es um einen Kampf gegen eine undurchsichtige, scheinbar allmächtige Behörde, deren oberste Instanzen verborgen bleiben, sowie die überragende Bedeutung von Protokollen und Akten. Von Uwe Tellkamp
Reise in die Geheimnisse des Lebens, das Ziel im Nebel, der Weg in den Linien, aber nicht in der Linie zu korrigieren. Macht nicht bei den erklärten Machthabern, unerklärlich aufscheinend im Anderen, im „Es“ des Beginns, der kein Anfang ist: „Es war spät abend, als K. ankam.“ Ein Fremder namens K. kommt in ein Dorf. Angeblich ist er Landvermesser, vom Schloß berufen. Das Dorf, ohne Namen, scheint in der Arktis zu liegen, kaum ein paar Straßen und Häuser werden in der Schneewüstenei sichtbar. Im Herrenhof, einem der beiden Wirtshäuser, halten die Schloßbeamten ihre Nachtverhöre.
Was ist dieses „Es“? „Es war spät abend“.
Das Dorf, sagt der Gemeindevorsteher, braucht keinen Landvermesser, und ob K. vom Schloß berufen wurde, ist zweifelhaft. Womöglich wurde etwas mißverstanden von der Abteilung B, womöglich liegt eine Verwechslung vor, die mit dem Vorgang befaßte Abteilung A war überfordert oder hat geschlampt. Der Bote Barnabas bringt K. einen Brief aus dem Schloß, vom Schloßbeamten Klamm, der K. als Landvermesser anzuerkennen scheint. K. versucht ins Schloß zu gelangen, doch das Schloß kommt nicht näher. Ins Schloß und zu Klamm vorzudringen wird für K. zur Obsession. Im Herrenhof lernt K. Frieda kennen, die Geliebte Klamms; als solche wird sie ihm zum Zweck, näher an Klamm zu gelangen. K. schaut durch ein Loch in der Zimmerwand auf den schlafenden Klamm, den Stöpsel für das Loch verwahrt Frieda in einer Tasche.
Macht – bei wem? Abgründiger Humor des Schlosses. Unvermittelt gibt sich Frieda K. hin, unvermittelt wird sie sich von ihm trennen. Die Aktenverteilungsszene um fünf Uhr früh im Herrenhof. K.s Wohnung in einer Schulklasse. Das gegen jedes Außen hermetisch abgedichtete Gefüge aus Schloß und Dorf.
Das Schloß: Ein Hradschin mit Kanzleien hinter Kanzleien, vorstellbar für die Verwaltung einer k.u.k.-Monarchie, aber nicht für ein Dorf; Traum von einem Ziel, gelingendem Leben; eine Behörde himmlischer Heerscharen? Aber diese Akten und immer neue Akten produzierenden Beamten sind irdischen Trieben verfallene, widersprüchliche, kleinliche Engel, Diener und Herrscher des Prozesses, dessen in immer größeren Kreisen verhallende Verfahren aus im Endlichen unendlicher Annäherung, Entfernung, Wiederannäherung, Wiederentfernung auch in der Schloßwelt wirken.
Das Schloß ist Wunschgewährung und als solche Echo des Dorfs: K. behauptet, Landvermesser zu sein, und wird als solcher vom Schloß akzeptiert, er behauptet, Gehilfen zurückgelassen zu haben, ihm werden zwei gestellt (eher Spione als Gehilfen, und auch sie sind Echos); die Schloßinstanzen entfernen sich im Lauf der Erzählung, rücken zugleich aber ins Dorf, das Dorf verfließt mit dem Schloß, schwächt K.s Streben, bis es in den Monolog-Hallen Olgas, Pepis und der Wirtin vereist, nur noch Echos dem Echo zu antworten scheinen. „Es“: Ort der Geister, der Schloßboten. Liebe als Form und zugleich Freiheit der Gesetze.
Eine Wirklichkeit wurde in ein Raumschiff versetzt, das alterslos durch ein Jenseits reist, aus dem heraus alles Menschliche zu den Menschen geschickt wird wie aus einer Urkanzlei; „Das Schloß“ als eine Grundschrift des Lebens, keine seiner üblichen Schilderungen und Bebilderungen, der Roman seiner Werkstatt. Sprache; zuerst und zuletzt dies: die Sprache Kafkas, ein kristalliner Magnet.
Franz Kafka, Das Schloß. Roman. Mit einem Nachwort von Norbert Gstrein. Manesse Bibliothek – handliches Hardcover mit Schutzumschlag, fadengeheftet, Lesebändchen – 608 Seiten, 25,00 €
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
ein 25 jähriger Surfer liegt am Strand, wartet auf den Wind.
Rundum erst bedauerliche Blicke ob der Literatur, dann nur noch Verwunderung, als der Leser in lautes Lachen beim lesen der Zeilen ausbricht..
100 Jahre „alte“ Literatur, tagesaktuell …
Für mich ein Buch auf mindestens gleicher Höhe (und leider Aktualität) wie „1984“, „brave new World“…
Eines der Rätsel einer Diktatur: 1987 im kommunistischen Bulgarien. Wir sind bei Freunden, im bulgarischen Fernsehen läuft die „Schloss“-Verfilmung mit Maximilian Schell in der Hauptrolle in deutscher Originalsprache und bulgarischen Untertiteln. Wir sind geschockt von den Parallelen zu unserem Leben im real existierenden bulgarischen und DDR-Sozialismus und können uns bis heute nicht erklären, wie es zu einem derartigen Versagen der TV-Zensur kommen konnte.