Jordan B. Petersons Ringen mit Gott

Nachdem seine vergangenen Werke, insbesondere "Warum wir denken was wir denken" und "12 Rules for Life" sich wiederholt mit Nietzsches Proklamation des Todes Gottes auseinandergesetzt hatten endet sein neues Werk mit der konträren Behauptung, dass Gott wiedergeboren sei. Von Justin Moll

IMAGO

In Gott – Das Ringen mit einem der über allem steht spitzt Peterson seine erkenntnistheoretische Konzeption unseres Weltzugangs auf eine christliche Ontologie zu. Der argumentative Schritt von unserer zielgerichteten Welterschließung auf die Natur des Seins selbst ist dabei tiefgreifend pragmatisch: Gott ist nicht in derselben Weise wirklich und erfahrbar wie ein physisches Objekt, sondern zeigt sich in den Widerständen, Forderungen und Belohnungen einer Realität, der wir in unserem alltäglichen Handeln begegnen. Weltinterpretationen sind demnach nur zu dem Grad langfristig tragbar, in dem sie selbst das pragmatische Muster ihrer zugrundeliegenden moralischen Ordnung inkorporieren. Gerade in Zeiten der kulturellen Desorientierung und der mit dem Fortschrittsglauben einhergehenden Stagnation, so argumentiert Peterson, sind wir daher auf eine Wiederentdeckung traditionell jüdisch-christlicher Werte angewiesen, die ihrerseits eine schlüssige Entbergung voraussetzt.

So bietet Peterson in seinem jüngsten Werk eine Interpretation biblischer Texte an, die auf sein Verständnis unserer Wahrnehmung der Welt aufbaut. Dieses hat er insbesondere in seinem 1999 erschienenen Werk Warum wir denken, was wir denken, darlegt. Peterson beschreibt hier mit seinem Konzept der Bedeutungskarten die Art und Weise, in der wir im Alltag der Welt begegnen. Das Postulieren eines Ziels, beispielsweise in den Supermarkt zu fahren und Brot zu kaufen, strukturiert demnach während wir handeln die Welt, die wir wahrnehmen: nur jene Informationen treten prominent in unser Bewusstsein, die unmittelbar diesem Ziel dienen. Einfache Ziele, wie der Kauf eines Brotes, stehen dabei ihrerseits in einer breiteren Zielhierarchie, in welcher sie höherwertigen Zielen dienen. Unsere hierarchisierten Ziele ermöglichen es uns daher in einer Welt, die unzählige Handlungsmöglichkeiten bietet, konkret zu Handeln.

Nebenbei bemerkt, stellt Petersons Verständnis der Art und Weise, in der wir die Welt wahrnehmen, in der modernen Philosophie kein außergewöhnliches Konzept dar. Die Vorstellung, dass wir die Welt zielorientiert wahrnehmen und damit konstruktiv auf eine Situation wirken, findet sich insbesondere im US-Amerikanischen Pragmatismus und in der Phänomenologie wieder und wird auch in den Kognitionswissenschaften vertreten. Insbesondere Prof. Werner Stegmaier bietet mit seiner Philosophie der Orientierung ein ähnliches Konzept.

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Vorausgesetzt, dass wir im Alltag immer auf Basis einer Bedeutungskarte handeln, die unsere Wahrnehmung der Welt relativ zu einem Ziel reguliert, so argumentiert Peterson, können wir uns der Sphären des Bekannten und Unbekannten bewusst werden. Sofern wir ungestört einen Plan vollziehen können, bewegen wir uns innerhalb des Bekannten: wir kennen zum Beispiel die Strecke zum Supermarkt bereits so gut, dass wir, ohne darüber nachzudenken unseren Weg dorthin finden. Das Auftauchen einer Anomalie, einer unvorhergesehenen Tatsache trivialer oder auch monumentaler Natur, stellt das Eindringen des Unbekannten dar. Die Mischung aus Hoffnung und Furcht, die das genuin Neue in uns hervorruft, verweist auf die zentrale Qualität der Zweiwertigkeit des Bekannten und Unbekannten. Das Unbekannte, als Kategorie, ist all jenes, das noch nicht in ein Handlungsschema integriert wurde, und ist damit zeitgleich potentiell destruktiv und hilfreich: unvorhergesehene Ereignisse können sowohl unsere bestehenden Weltinterpretationen angreifen und uns damit desorientieren; sie können jedoch auch einen positiven Effekt haben, und die Limitationen unseres Weltverständnisses einreißen. Dies deutet jedoch im Umkehrschluss auch auf die Zweiwertigkeit des bereits Bekannten hin: jede Konkretisierung des Handlungsspektrums durch eine Bedeutungskarte ist sowohl positiv, da sie konkretes Handeln erlaubt, als auch negativ, da sie andere Handlungsmöglichkeiten außen vor lässt. Im deutschsprachigen Raum hat sich vor allem der Philosoph Prof. Bernhard Waldenfels mit dem Zusammenspiel des Unbekannten und Bekannten beschäftigt.

Sofern wir es schaffen, im Angesicht einer Anomalie, die unsere gegebene Bedeutungskarte umstößt, ein neues Ziel oder neue Mittel zur Bewerkstelligung eines gegebenes Zieles zu finden, haben wir die Grenzen des Bekannten und Unbekannten in unserer Wahrnehmungswelt verschoben. Dies geschieht zum Beispiel, wenn wir im Verlauf unseres Berufslebens mit einer neuen Möglichkeit konfrontiert werden, die unserer bestehenden Bedeutungskarte völlig fremd ist – aber die sich im Verlauf als eine Verbreiterung unserer Kompetenz entpuppt. Die Entscheidung, einer solchen Einladung aus dem Unbekannten zu folgen, geht dann mit einer positiven Entwicklung für uns einher: sie überkommt eine einschränkende Facette des bereits Bekannten.

Peterson nutzt nun eben dieses Bild unserer Wahrnehmungswirklichkeit als interpretatorischen Maßstab, um den Bedeutungsgehalt von biblischen Narrativen aufzuweisen. Ich möchte dabei insbesondere auf den Schluss eingehen, den Peterson aus seiner Analyse auf die Natur der Realität selbst macht: Peterson bietet eine aus der Bibel gewonnene Ontologie, also ein Verständnis des Seins oder der Realität selbst.

Die Ontologie Petersons

Der Schritt von der Konzeption der Bedeutungskarten zu einer Ontologie kann nachvollzogen werden, wenn man sich vor Augen führt, dass Peterson den biblischen Narrativen ein gewissermaßen empirisches Moment zumisst, also behauptet, dass diese Geschichten etwas beschreiben, das bis heute in der Welt wahrnehmbar ist.

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Einerseits sehen wir im biblischen Narrativ den wiederkehrenden Niedergang der Repräsentanten des Kainschen Prinzips. Dieser wird von Peterson als ein Ausdruck der praktischen Erfahrung gedeutet, dass das Handlungsprinzip einer Verweigerung Gottes – konkret gesprochen: die Ausrichtung unserer Handlungen auf kurzfristige und selbstzentrierte Ziele, die Lüge und Verweigerung von kontrafaktischer Evidenz, das Anzweifeln des Wertes des Individuums, die Instrumentalisierung des Selbst und des anderen – keine langfristig haltbare Praktik darstellt. In anderen Worten: die eigene Zielhierarchie derart auszurichten, dass sie einem engen Selbstzweck folgt und dabei selbst nicht responsiv für die sich zeigende Welt ist, scheint pragmatisch zu nicht gewollten Konsequenzen zu führen. Peterson argumentiert, dass ein Kainsches oder Luzifersches Denken auf einer bereits gegebenen Domäne des Bekannten verharrt, so wie Hannah Arendt argumentiert, dass sich Totalitarismus in einer vollständigen Negation des Neuen oder des Unbekannten ausdrückt. Die empirische Erkenntnis des Alten Testaments ist also, dass solches Denken im Großen und Kleinen zwangsläufig einen Konflikt mit der Realität nach sich zieht.

Die Alternative dazu ist ein Handeln, dessen zugrundeliegende Zielhierarchie sich stets am höchstmöglich denkbaren Punkt orientiert, und sich korrigiert, sofern sich neue Erkenntnisse aus dem Unbekannten manifestieren. Sofern wir dem übergeordneten Ziel folgen, eine Besserung der Welt sowohl im Hier und Jetzt, als auch in die Zukunft zu erwirken, muss unsere eigentliche Weltinterpretation selbst dynamisch und variabel sein. Wir bewegen uns nicht in einem festen ideologischen Gehäuse, sondern verändern unser Deutungsschema auf Basis der Hindernisse, die uns begegnen, jener Eingebungen aus dem Unbekannten, und können zunehmend qualitativ höherwertige Opfergaben, also Eingeständnisse unserer Endlichkeit leisten. Eben jener konstruktive Prozess, der aktives Aufstreben mit kontinuierlicher Begegnung und Inkorporation des noch Unbekannten verknüpft – den Peterson speziell mit Kains Bruder Abel verbindet – erweist sich schlussendlich für Individuum und Gesellschaft als vorteilhaft. Das Aufstreben des Ideals bringt im biblischen Narrativ – und in unserem alltäglichen Leben – konkretisierbare Besserungen unserer Lebensbedingungen mit sich.

Es scheint, als reagiere die Weltwirklichkeit in unserem praktischen Umgang mit ihr auf eine beinah wundersame Weise auf unser Aufwärtsstreben. Die Realität, der wir mit unseren Plänen begegnen, entfaltet sich in einer besseren Art und Weise für jene, die ihre Pläne an einem höchsten Punkt – an Gott – orientieren, statt starr selbstbezogene Ziele zu verfolgen und diese nicht anpassen, selbst wenn deren Mängel zum Vorschein kommen. Daraus zieht Peterson den zentralen Schluss auf eine zugrundeliegende Ontologie: “Wenn das Konzept Gottes als Persönlichkeit gewissermaßen auf die bewährte Art und Weise – auf die pragmatische Art und Weise – funktioniert, warum wird dieses Modell dann nicht als das zutreffendste angesehen?” Doch dieser Schluss sollte nicht reduktionistisch unterschätzt werden: er besagt nichts geringeres, als dass die Wirklichkeit selbst belohnend auf ein bestimmtes Muster moralischen Handelns reagiert, und dessen Gegenteil straft.

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Anders als im Guardian kritisiert, bleibt die Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit Gottes also nicht unkonkret: Das, was wir mit dem Wort Gott meinen, so argumentiert Peterson, existiert eben nicht in derselben Art und Weise wie ein physisches Objekt existiert. Gott ist ein Prinzip, welches sich auf verschiedene Arten in unserer Wahrnehmungswirklichkeit offenbart. Gott nimmt insbesondere folgende Positionen ein: zum einen ist Gott jenes Prinzip, das sich in den Forderungen, den Heilsversprechen oder Versuchungen des Bekannten und Unbekannten artikuliert. Gott ist jedoch auch der konstante Orientierungspunkt – das höchste Handlungsziel – dass es uns ermöglicht, auch in Anbetracht von Tragödie und Versuchung auf eine langfristige Verbesserung unserer Selbst in Relation zu anderen agieren, und so zu entscheiden, wie wir welchen Forderungen optimal nachkommen. Wir ringen mit Gott, insofern wir entweder das göttliche Prinzip oder unsere kurzfristige Gratifikation an die Spitze unserer Handlungsmaximen stellen. Sofern letzteres der Fall ist, instrumentalisieren wir uns selbst und andere im Namen eines anderen höchsten Ziels, zum Beispiel unseres Machtstrebens oder unserer Lust, und ersetzen damit das höchste mit einem minderwertigen Handlungsprinzip, einer niederen „Gottheit“.

Werteumbruch und Rückkehr

Peterson stellt damit einen Bruch mit der gängigen Weltkonzeption dar, nach welcher eine Vielzahl beliebiger “Narrative” die Welt beschreiben. Stattdessen schöpft Peterson aus einer Kognitions- und Handlungsperspektive eine Ontologie, die zwar einerseits auf unsere Zielgerichtetheit abhebt, aber dabei dem Relativismus durch Pragmatismus entkommt. Unsere Fähigkeit die Welt auf Basis unserer Ziele verschieden zu interpretieren, entzieht uns nicht jeglicher pragmatischen Einschränkung. Gerade Weltinterpretationen, die die Autonomie und Verantwortung des Individuums in Frage stellen, und es damit von einer kreativen Aneignung des Unbekannten und Neuen, des Denkens außerhalb eines logischen Raumes abhält – so zum Beispiel die wechselnden Formen des Kollektivismus, beispielweise der Victimhood Culture, oder die fortschreitende paternalistische Einschränkung der Debattenkultur, die sich auch in Zensur äußert – führen zu Stagnation, Bedeutungsverlust und Verfall.

Dabei werden eben jene Glaubensgerüste, die derzeit insbesondere im links-grünen politischen Spektrum getragen werden, mit vermeintlicher Nächstenliebe penibel gegen Gegenargumente abgeschirmt. Peterson greift hier zum Beispiel die sexuelle Revolution auf: ist diese wirklich ausschließlich eine emanzipatorische Errungenschaft, die die freie Entscheidung von Frauen in den Mittelpunkt stellt? Oder hat die technologisch vermittelte Erhöhung des Wertes von unkontrollierter Begierde, der wir heute begegnen, nicht auch eine ungeheure Degradierung der Frau nach sich gezogen? Dies bedeutet nicht, wie er erklärt, dass als Lösung dieses Problems eine Rückkehr zu viktorianischer Prüderie notwendig wäre; aber es erlaubt zu fragen, ob die Relation der Geschlechter nicht besser durch genuine Verantwortungsübernahme gelöst würde, die zwar mit einer Einschränkung der vermeintlich absoluten Freiheit für beide einhergeht, dafür aber bedeutungsvolles und von Degradierung befreites Zusammenleben erlaubt. Breiter gefragt: sollten wir blindlings jeder moralisierenden Behauptung vertrauen, die darauf besteht, dass es für ein bestimmtes Problem schlichtweg nur eine einzige Lösung gebe und dass allein anders darüber zu denken, einen moralischen Affront darstelle?

Nachdem seine vergangenen Werke, insbesondere Warum wir denken was wir denken und 12 Rules for Life sich wiederholt mit Nietzsches Proklamation des Todes Gottes auseinandergesetzt hatten – die Peterson stets als die Abwendung der westlichen Welt von der Jüdisch-Christlichen Religion interpretiert hatte – endet sein neues Werk daher mit der konträren Behauptung, dass Gott wiedergeboren sei.

Hinter dieser Äußerung, die manchen vielleicht an Größenwahn grenzend erscheint, steckt schlussendlich jedoch die ernstzunehmende Behauptung, dass wir gerade in Zeiten des kulturellen Umbruchs zu einer Rückbesinnung auf traditionell jüdisch-christlichen Werte eingeladen sind. Denn der fieberhafte Abbau von traditionellen Lösungen für die genuinen Probleme des menschlichen Zusammenlebens, die der Progressivismus betreibt, entlarvt bei genauerem Hinschauen zumeist tiefgreifend pathologische Züge und tarnt diese zeitgleich mit einer scheinbar unhintergehbaren Moralfassade.

Eine blinde Umkehr zu unreflektierten Dogmen ist ebenso wenig eine Lösung. Peterson spricht daher von einer Rückkehr mit anderen Augen – eine Rückkehr zu christlichem Denken, dass dessen nachvollziehbaren und symbolischen Charakter betont. Diese Rückkehr besteht eben nicht darin, ein leeres Lippenbekenntnis zu einer sich radikal entziehenden Macht zu erbringen, sondern sich die praktische Validität des jüdisch-christlichen Erbes anzueignen: jenen Heroismus, der persönliche Verantwortungsübernahme und Resilienz in den Vordergrund individuellen Handelns stellt.

Jordan B. Peterson, Gott. Das Ringen mit einem, der über allem steht. Fontis, Hardcover, 656 Seiten, 34,90 €.


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