Irrlehren vom Neuen Menschen führten zu den Totalitarismen

Fidus: Lichtgebet

Stirners Unterscheidung führe geradewegs zu jener der Jugendbewegung „in Ungebildete, Neger, Kinder, Katholiken, Realisten einerseits und Gebildete, Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten andererseits …, wobei das Kind ab 1900 aus dem Kanon des Negativen herausgenommen wurde und der Jude als Platzhalter des Kapitalismus herein. Der Jugendwahn und der Idealismus als Leitbild der Führungsschicht reichen in ihrer Entstehung bis tief ins 19. Jahrhundert zurück.“

Da die marxistische Automatik nicht eintrat, schreibt Prabel, „wuchs … die Schwäche des Marxismus und …  reziprok die Stärke elitaristischer Gesellschaftskonzepte. Um die Jahrhundertwende verbanden sich die bis dahin getrennt marschierenden Säulen des kleinbürgerlich-ständischen Elitarismus und der Arbeiterbewegung zum Leninismus. Stirner hatte über Marx gesiegt.“

1890: Individualisierung, Bürgerlichkeit und Marktwirtschaft kommen nicht weiter voran




Mit Nacktbaden, Wassertreten, Esoterik und Vegetarismus konnten die Lebensreformer die Junker-Kaste nicht locken. Aber das Gefühl „alles muss anders werden“ verband Hof und Reform. Und zum monarchischen Wahrheitsanspruch passte das antidemokratisch-elitäre Reform-Selbstverständnis. Prabel verweist auf die vielen Wandervögel und Reformer zuerst als kaiserliche Kriegsfreiwillige und dann Mitglieder der Freikorps. Der oft vertreten Sicht vom Ersten Weltkrieg als Zäsur zwischen der Belle Époque und der folgenden Barbarei widerspricht Prabel: „Die Epochengrenze zwischen der Zeit der Verbürgerlichung der Gesellschaft mit einhergehender Individualisierung und der Epoche der Rekorporierung mit Einbindung der Menschen in Großverbände, zwischen individualistischen und korporatistischen Entwürfen muss irgendwo zwischen der Romantik und dem Spätkaiserreich gesucht werden, spätestens um 1890 herum.“ 1890 hätten die Leninisten zum Geburtsjahr des Imperialismus erklärt, 1890 sei aber vielmehr der Beginn der Ausbreitung des Reformismus und Elitarismus, der Kulturkrise, des industriellen Korporatismus und der Schutzzölle – schädlich für Außenhandel und Internationalität.

„Von 1871 bis 1945“, schreibt Prabel, „ hat es in Deutschland nie eine ausgesprochen bürgerliche Staatsform oder eine durchgängig marktwirtschaftliche Wirtschaftsweise gegeben. Es gab statt dessen eine dominante Militärmonarchie Preußen, die alle anderen deutschen Staaten und den deutschen Bundesstaat langsam mit ihrem pedantischen Bürokratismus infizierte und ein wirtschaftliches Mischsystem aus vorfeudal-genossenschaftlichen, feudalen, marktwirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen Elementen. Alles mit riesigen Unterschieden zwischen dem Rheinland und Ostelbien.“ Und: „Das Gegenbild des handwerklichen Deutschlands wurde die maschinenbetriebene ‚Werkstatt der Welt‘ England und das Gegenbild des Handwerkers wurde der Jude. Der Jude wurde niemals mit einem deutschen Werkzeug dargestellt, sondern mit Bauchladen, Kontobuch, Geldscheinbündeln und gestapelten Münzen.“

Unheilig, aber wirksam fügte sich in die wirtschaftliche deutsche Entwicklung die Haltung der SPD, „eine syndizierte Wirtschaft trage die Keime des Sozialismus in sich“, was ein Parteitagsbeschluss 1894 so fasste: „Trusts, Ringe, Kartelle und ähnliche großkapitalistische Organisationen sind ein Schritt zur Verwirklichung des Sozialismus.“

Die bürgerliche Reformbewegung der Kaiserzeit, Denkmalpfleger, Heimatschützer und Tierschützer, war technikkritisch. Das Eldorado der Technikbegeisterten wurde die Sozialdemokratie: Der Zukunfts- und Fortschrittsglaube war nirgendwo mehr zuhause. (Wer denkt da nicht gleich an die SPD und die Atomenergie in den 1950er und 1960er Jahren?) Überwiegend Technikkritische sammelten sich in Heimatschutzverbänden und Antisemitenvereinen: noch vor 1914 in der Reformpartei, die sich als antisemitisch-antikapitalistischer Propagandist des kompromisslosen und radikalen Flügels der Reformbewegung verstand.

„Ab 1890 wurde gesät, 1914 bis 1945 hielt der Tod reiche Ernte“

Den Krieg als „Läuterungs- und Reinigungsritual“ habe etwa der italienische Jugendstil-Dichter D’Annunzio in seinen „Heiligen Gesängen“ zur Kiegstreiberei verdichtet. In dem im Februar 1909 im „Figaro“ veröffentlichten Manifest des Futurismus steht: „Wir wollen den Krieg glorifizieren – die einzige Hygiene der Welt – Militarismus, Patriotismus, die zerstörerische Geste der Freiheitsbringer, herrliche Ideen, die es Wert sind dafür zu sterben, und Verachtung für die Frauen.“

Die Liste der Kriegsfreiwilligen Künstler ist bei Prabel lang: Oskar Kokoschka, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, George Grosz, Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Max Ernst, Otto Dix, der im expressionistischen Marktsegment führende Kunsthändler Paul Cassirer und Max Beckmann. Als aktiv in der Kriegspropaganda nennt der Autor: Egon Schiele und Alfred Kubin, Stefan Zweig, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch, Robert Musil und Hugo von Hofmannsthal, Ernst Barlach und Max Liebermann. Das ganze Who-is-Who der Deutschen Secession füllt ein Sonderheft mit ihren Kriegsbildern, herausgegeben von Max Oppenheimer.

Prabel hat noch mehr zusammengetragen, was nicht zu den gängigen Bildern passt: „Bertold Brecht vermutete, dass Großes gegeben werden müsse, um Großes zu erlangen, deutsche Ehre und Würde seien aller Opfer wert. Robert Musil freute sich in einem Essay 1914 über die Tugenden, die nun endlich wieder wichtig waren – Treue, Mut, Unterordnung, Pflichterfüllung, Schlichtheit. Alfred Döblin, in einem Artikel für die ‚Neue Rundschau‘, verfluchte noch im Februar 1918 alle, die ‚das Wort Frieden‘ in den Mund nehmen sollten. Franz Marc gelüstete es, seinen französischen Malerfreund Robert Delaunay vor sein Bajonett zu bekommen.“

Im „Manifest der 93“ an die Kulturwelt von Dramatiker Hermann Sudermann und Lustspielschreiber Ludwig Fulda fand Prabel: „Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“ Gerhart Hauptmann, Engelbert Humperdinck, Max Liebermann, Max Reinhardt, Friedrich Naumann, Max Planck, Paul Ehrlich und weitere Nobelpreisträger unterzeichneten, alle großen deutschen Zeitungen druckten es in reißerischer Aufmachung.

Wendehälse 1918 und 1933

Prabel spottet: „Die Vorkriegsteutonen Käthe Kollwitz, Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Heinrich Vogeler, Herwarth Walden, Alfred Paquet, Alfred Kerr, Adolf Grabowsky, Ernst Toller und viele andere gaben sich nicht nur pazifistisch, sondern sahen in Sowjetrussland, später in der Sowjetunion die Sonne des Aktivismus und Elitarismus aufgehen.“ Als Sieger der Geschichte sei erschienen, wer sich als Anhänger Lenins und Stalins begriff. Als Sieger der Oktoberrevolution (später von Mussolinis Marsch auf Rom) hatte man nach dem Krieg mit seiner antibürgerlichen Haltung vor dem Krieg Recht behalten, war trotz Deutschlands Niederlage ideologisch Sieger. Der kraftvolle Idealismus hatte den abgelebten Materialismus der alten Welt überwunden. Dem revolutionären Russland als Gegenbild der kapitalistischen Welt schlossen sich viele Intellektuelle an: „Deutschland war besiegt, aber der Nietzscheanismus und der Neue Mensch in den Höhen des expressionistischen Geistes waren gerettet worden.“

Wendehälse sind für Prabel „jene Expressionisten, die sich von Kriegslyrikern oder Kriegsfreiwilligen zu Pazifisten oder Anklägern des imperialistischen Krieges wandelten … beispielsweise Ernst Toller, Max Beckmann, Käthe Kollwitz, Otto Dix, Thomas Mann, Johannes R. Becher, Kurt Tucholsky und Bertold Brecht … Ferdy Horrmeyer malte im zeitlichen Abstand von weniger als einem Jahr Werbung für die letzte Kriegsanleihe und für den Pazifismus.“ Prabel zitiert Tucholsky und wirft ihm zugleich vor, selbst für die letzte Kriegsanleihe geworben zu haben: „Was sind das für Köpfe: sie pappen Bolschewistenplakate an die Mauern, aber als unsre Väter, Brüder und Söhne in den Gräben verdreckten und verlausten, als sie zu Tausenden verreckten – da warben sie für die Kriegsanleihen, und kaum eine Hand rührte sich für die unschuldigen Opfer einer verbrecherischen Politik.“

Die Republik sei daran zugrunde gegangen, „dass dieselben Leute, die vor dem Weltkrieg für die Verbreitung der Lebensreform sorgten, kulturellen und politischen Sonnenkult trieben, den Neuen Menschen erdachten, Gewalt verherrlichten, eine kalkülunfähige hasardierende Außenpolitik entwarfen, bei allem die tradierten Grundsätze der praktischen Vernunft leichtfertig über Bord warfen, sich nach dem Weltkrieg als Ärzte am Krankenbett Deutschlands betätigten, um eben jene Krankheit zu kurieren, die sie selbst ausgebrütet und verschleppt hatten.“

Die Verderber des Neuanfangs seien „viel weniger die vielgescholtenen Generäle, Richter und Beamten des Kaisers, die oft in preußischer Pflichterfüllung eine ungeliebte Republik nach dem Buchstaben des Gesetzes lustlos oder widerwillig tolerierten, sondern mehr die Eliten der Politik, Wirtschaft und Kultur. Nicht nur die Ludendorffs, Hindenburgs, Rantzaus und Schleichers verdarben das Land, sondern auch die Rathenaus, Moellendorffs, Wissels, Sombarts und Cunos … und auf den republikanischen Kulturschreinen standen wie vor dem Krieg nackte Gigantenstelen auf Hakenkreuzdeckchen bzw. neben Hammer- und Sichelstandarten. Auch Fidus, Gropius, Hesse, Th. Mann, Graf Kessler, Rilke, Tucholsky, George, Grosz, Zetkin und andere Antidemokraten leisteten ihren unheilschwangeren Beitrag zur Sabotage eines Neuanfangs.“

Ein antibürgerlichen Homunkulus sei aller Ziel gewesen, Expressionismus, Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus: „Die Braunen gaben ihren rassistischen Ansatz offen zu. Die Roten führten den Kampf um die Vorherrschaft der russischen Rasse und die Überlegenheit von Parteifunktionären hinter dem Bühnenbild des Klassenkampfs, der in nachrevolutionären Zeiten der klassenlosen Kastengesellschaft eine steinzeitliche Kulisse war.“

Revolutionen ändern nicht automatisch die Menschen. Da Revolutionen ihre Ziele nie ganz erreichen, gibt es Enttäuschung und Erinnerung an die Zeit vor der Revolution. Die Revolution frisst ihre Kinder, ist einmal zu Ende und überleben tun nicht die Revolutionäre, sondern revolutionäre Institutionen, in der Weimarer Zeit die republikanische Verfassung und das allgemeine Wahlrecht. Überleben diese Institutionen die Generation, die sich noch an die Zeit vor der Revolution erinnern kann, haben die revolutionären Institutionen die Chance zu bleiben. In Weimar war das nicht der Fall, sagt Prabel:

Die Republik „wurde von Nietzscheanern aller Couleur, darunter dichtenden, musizierenden, bauenden und politisierenden Elitaristen zur Strecke gebracht und hat als politisches System überlebt. Vollkornverzehrende Eigenbrötler, vom schönen Mittelalter träumende Zunftmeister und -gesellen, leninistische Parteiavantgardisten, deutschtümelnde Globalisierungsgegner, kapitalismuskritische Antisemiten, von Blutreinigung und Menschenzucht besessene Landkommunenindianer, Heimatschützer, die das Arten- und Brauchtumssterben betrauerten, kriegsbegeisterte Waffennarren und Querulanten in Reformsandalen bildeten ein zivilisationskritisches und demokratiefeindliches buntes Netzwerk.“




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