Besser, Sie schnallen sich an. Denn das Buch „Der Bausatz des Dritten Reiches“ von Wolfgang Prabel trägt Sie sonst aus der Kurve. Die Geschichtsinterpreten der Nachkriegszeit hätten uns weisgemacht, das abgrundtiefe Böse sei aus Hitlers „Mein Kampf“ und der Weltwirtschaftskrise über uns gekommen. Nein, sagt Autor Prabel: „Die Wurzeln der Unmenschlichkeit waren schon tief im Zeitgeist des Spätkaiserreichs und der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre verankert.“ Von den bekannten Größen der Goldenen Zwanziger, die auch viele von uns schätzen, bleibt nach der Lektüre von Prabels Buch praktisch nichts übrig.
Wolfgang Prabel schaut auf die kulturelle Tektonik, die unter der politischen und wirtschaftlichen liegt, auf welche sich die meisten Geschichtsschreiber beschränken: „Der Bausatz der NS-Ideologie aus ökologischen und ökonomischen Irrlehren wurde vollständig vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Spätkaiserzeitliche Ideologiepuzzles wurden von den Lebensreformern immer wieder neu zusammengesetzt und dekonstruiert.“
Lebensreformer: Mit diesem Sammelbegriff für eine breite Palette von Reformbewegungen, von Industrialisierung und Landflucht ausgelöst, können die meisten nichts anfangen. In der Literatur werden sie von modern bis reaktionär analysiert. Prabels Diagnose: „Adolf Hitler zimmerte aus dem nietzscheanischen Elitarismus, dem vermeintlichen Produktionsstreik der Natur, aus paranoiden Aversionen gegen den Zins und die Banken, aus Antisemitismus und Verstaatlichungsphantasien, aus Volksbildung und Volksgesundheit, aus Ariosophie, Mutterschutz und Sportpflicht, aus Tierschutz, Vegetarismus und Katastrophenglauben, aus Angst vor großen Kaufhäusern und dem Freihandel, aus Rassenlehre und Euthanasie seine 25 Punkte als Parteiprogramm und seine spätere Regierungspraxis.“
Für Prabel beginnt Ende der 1960er Jahre die Wiederkehr dieser Lebensreform: Mit dem Einzug der NPD mit bis zu 10 Prozent in sieben Landtage und dem nur knappen Verfehlen der fünf Prozent in der Bundestagswahl 1969 und anderen Bewegungen, die oft keine klare politische Zuordnung erlaubt; Bodenkult, Naturschutz, Antikapitalismus, Antiamerikanismus, Vegetarismus. Da steht der Vorwurf unzulässiger Vergleiche schnell im Raum. Aber nur weil etwas ähnlich oder identisch klingt, ist es noch lange nicht Dasselbe oder auch nur das Gleiche.
„Völkische Hochzeiten“ in naturreligiöser ritueller „Eheleite“ im Umfeld der NPD und von Neonazis betriebene „braune Bio-Bauernhöfe“ sind unschwer als Hitlers Erben zu erkennen. Dass diese Leute gegen TTIP sind, antikapitalistisch, antiamerikanisch und antisemitisch sind, gegen Marktwirtschaft und „Profitsucht“, überrascht nicht. Welche anderen Strömungen um den politischen Mainstream herum und bis in diesen hinein das Gedankengut der historischen Lebensreform wieder aufnehmen oder neu entwickeln, ist schwerer auszumachen. Im Internet findet sich der Vorwurf des rechten wie linken und grünen Ökofaschismus, von Erziehungsdiktatur für alle Lebensbereiche.
Schauen wir uns an, was der Autor in der Sache sagt und schließen wir nicht aus Labeln. Es geht ihm um „die kulturellen Wurzeln des Nationalsozialismus“. Und um jene, die auf das intellektuelle Klima „einen noch größeren Einfluss hatten als Industrielle, Militärs, Bürokraten und Richter zusammen“. Prabel weist auf jene hin, „die das intellektuelle Klima prägten: Redakteure, Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Politiker, die Vorstände von wirtschaftlichen Pressure Groups und nicht zuletzt die allmächtigen Medienzaren.“
Kulturelle Ursachen unterbewertet
Das Bild „Lichtgebet“ des Malers Hugo Höppener – Künstlername: Fidus – wurde die Ikone der deutschen Jugendbewegung. In unzähligen Varianten hing es in jeder vierten Wohnung. Etwa die gleiche Zahl Abonnenten lasen die Gazetten von Hugenberg, Münzenberg, Mosses und Ullstein: „Viele andere Länder als Deutschland waren in der Weltwirtschaftskrise genauso verelendet wie Deutschland oder noch wesentlich ärmer und sie errichteten keine nationalsozialistische Diktatur“.
Die Wahrheit, sagt Prabel, ist, in unserer Geschichtsschreibung werden die ökonomische Ursachen über- und die kulturellen unterbewertet, der Zusammenhang zwischen beiden nicht benannt: „Große Teile der deutschen Wirtschaft hatten das Ende der zünftigen Monopole und die Auflösung der ländlichen Bindungen … feudaler oder genossenschaftlicher Natur, nicht wirklich angenommen. Moderne Wirtschaftsformen waren im Gefolge der napoleonischen Eroberungen nach Deutschland verschleppt und nicht verinnerlicht worden … Gewerbefreiheit und Judenemanzipation waren durch französische Plünderungen, Einquartierungen, Brandschatzungen, Säkularisierungen von Klosterbesitz und andere Gewaltexzesse diskreditiert.“
Ein romantisch-konservativer „Sozialismus der Zünfte, Gilden und Genossenschaften beherrschte als Modeströmung das ökonomische und kulturelle Denken des Spätbiedermeiers, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik“, analysiert der Autor: „Der kulturelle Antikapitalismus war die Kehrseite des ökonomischen Antikapitalismus“ und konstatiert: „In diese restaurative Stimmung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts platzte Nietzsche mit seiner archaischen Blut und Bodenphilosophie … stellte die Frage nach der Umweltverträglichkeit der modernen industriellen Gesellschaft und verneinte diese“.
Wer die Kultur ins Visier nimmt, erkennt erst die Verwerfungen jener Zeit, ist der Autor sicher: „Einerseits beherrschte eine überalterte Führungsschicht, die gedanklich in der Zeit der späten Aufklärung zu Hause war, tradierte Parteien und Gewerkschaften des Kaiserreichs und der Weimarer Republik; auf der anderen Seite durchsetzten die jungen expressionistischen Heißsporne des Kulturbetriebs die bündischen Gremien, Gazetten und Institutionen, eskortiert von Funktiokraten der korporatistischen Wirtschaftsverbände.“
Vom Neuen Menschen zum Weltproletarier und Weltgermanen
Prabel fragt, „warum die völkische NSDAP und die bolschewistische KPD oft so eng beieinanderliegen; warum sich die beiden Parteien in Fragen des Antikatholizismus, Antikapitalismus, Antisemitismus, Antiamerikanismus, der Gesellschaftskonzeption, der Führungspraxis und -philosophie, der ästhetischen Anschauungen, der Menschenhaltung in Lagern sowie in außenpolitischen Fragen sehr ähnlich sind.“ Seine Antwort ist „die gemeinsame Herkunft aus dem Geist der Jugendbewegung“, welche Hitler ebenso beeinflusst habe wie Lenin, die den einen zum Neuen Menschen als Weltproletarier führte, den anderen als Weltgermanen.
Bis zum Ersten Weltkrieg, schreibt Prabel, „handelte es sich um ein gemeinsames Biotop, in welchem sich die Reformbewegung versammelte, ohne eine Trennung in links und rechts … in Worpswede, in Schwabing, in Weimar, in Friedrichshagen oder im BrückeAtelier in Dresden … teilten sich spätere Anarchisten, Ästhetizisten, Bolschewisten und Nationalsozialisten die Kunstzeitschrift, das Dach und die Konkubinen … Aus dem Weimarer Bauhaus, dem Werkbund und den Neuen Sachlichen gingen nicht nur Bolschewisten, sondern auch Nationalsozialisten hervor. Einige konvertierten, waren erst Bolschewist, später Nationalsozialist, andere umgekehrt. Einige Maler, deren Bilder in der Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ hingen, zum Beispiel Emil Nolde und Peter Röhl, waren Mitglieder der NSDAP.“
Und weiter: „Namen wie Hermann Hesse, Fidus, Max Beckmann, Walter Gropius, Harry Graf Kessler, Emil Nolde oder Henry van de Velde sind mit dem Gedanken der Lebensreform, des Neuen Weimar und des Bauhauses untrennbar verbunden … Ein guter Teil der Reformbeflissenen und mehr noch der Reformmitläufer der Jahre zwischen 1890 und 1930 strandete in der NSDAP bzw. KPD oder wählte beim Finale der Weimarer Republik dreimal hintereinander NSDAP und KPD.“
Das Bauhaus, erinnert Prabel, war eine Männerdomäne: „In Weimar und Dessau waren Männer Kulturwesen und Frauen Naturwesen. Folglich verfrachtete der Meisterrat die Frauen in die Webereiwerkstatt, die als ‚Frauenabteilung‘ geführt wurde. Aus dieser Rollenverteilung kam man als Frau nur – typisch für sozialistische Systeme – mit Protektion heraus. Im Bereich Bau und Ausbau gab es unter den Absolventen folglich nur vier Schneewittchen unter hunderten Zwergen.“
Man muss, sagt Prabel, die Geschichte von 1890 bis 1933 vorwärts erzählen und nicht rückwärts von 1945 bis 1933: „Die Zahl der Mitwirkenden ist chronologisch vorwärts erzählt nämlich mehr als zehnmal so groß, als chronologisch rückwärts betrachtet.“
Aber erst einmal nimmt Prabel einen Anlauf, der noch früher einsetzt. Um 1840 siedle Friedrich Engels den „Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ an, also in der Zeit, als Engels und Marx auf der einen Seite, Stirner und Bauer auf der anderen um Hegels Erbe stritten. Antiautoritär seien die Junghegelianer allesamt gewesen, als sie sich in Egalitaristen und Elitaristen spalteten: „Marx bemängelte in seiner Kritik Stirners, dass die Welt in Ungebildete (Neger, Kinder, Katholiken, Realisten…) und Gebildete (Mongolen, Jünglinge, Protestanten, Idealisten…) geteilt würde, wobei die Gebildeten über die Ungebildeten zu herrschen hätten.“
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