Houellebecq erkennt die Strukturen im Nebel der Gegenwart

Wer etwas über unsere Jetztzeit wissen will, erfährt seit fast dreißig Jahren bei Houellebecq mehr als in den Zeitungen. Und nur mit dieser Geistesgegenwart lässt sich auch die Zukunft ahnen. Houellebecq ist der aktuellste aller europäischen Autoren.

Um es gleich zu sagen, es gibt von Houellebecq kürzere und auch dichtere Bücher. In seinem Erstling „Ausweitung der Kampfzone“ von 1994 brauchte er nur 155 Seiten, um eine Geschichte zu erzählen, die der Leser nicht mehr vergisst. „Vernichten“ füllt 615 Seiten, was nicht nur, aber auch an dem liegt, worüber er schreibt: es handelt sich um einen beinahe klassischen Familienroman, doppelt eingerahmt durch eine politische Nebenhandlung und einen globalen Geheimdienstplot.

Ganz zum Schluss, in der Danksagung, deutet Houllebecq an, dieser Roman sei sein letzter („für mich ist es Zeit, aufzuhören“). Natürlich könnte es bei einem Autor wie ihm auch ganz anders kommen. Aber „Vernichten“ wirkt tatsächlich wie ein sehr großer, geradezu ausladender Schlusspunkt in seinem Werk, weil der Roman trotz des Titels und trotz des Stoffs (Krise, Krankheit, naher Tod) einen gut verpackten Kern in sich trägt, mit dem sich Houllebecq bisher noch nie so intensiv beschäftigt hatte: Der Autor erzählt auf eine paradoxe Weise von Heilung und vom Wiedergutwerden einer eigentlich schon zerstörten Liebesbeziehung.

Wie immer bei Houellebecq steht ein mittelalter gutsituierter Mann aus dem bürgerlichen Milieu im Zentrum des Geschehens: Paul Raison, knapp fünfzig, ENA-Absolvent, Beamter und einer der engsten Mitarbeiter des französischen Wirtschaftsministers Bruno Juge. Von Paris und dem Ministerium aus wirft Houllebecq sein episches Netz über Pauls Familie und in die französische Provinz. Dort, aus Pariser Sicht in der Peripherie und unter sehr normalen, fast biederen Leuten spielt ein großer Teil des Romans. Der Autor verbirgt nicht, dass er mit diesem Personal sympathisiert. Kaum etwas lässt sich so schwer beschreiben wie das Biedere, sogar für jemand wie Houellebecq, dessen Blick zwar nie zynisch ist – diese Unterstellung zählt zu den größten Missverständnissen seiner Kritiker – andererseits aber auch völlig unverklärt.

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Im Leben dieser normalen Leute in dem kleinen Ort namens Saint-Joseph, gruppiert um Pauls von einem Schlaganfall gelähmten Vater, liegt allerdings etwas Subversives unter den Bedingungen des leicht dystopischen Frankreichs von 2027, in dem „Vernichten“ spielt. Figuren an der Peripherie wie Pauls Schwester Cécile und ihr Mann Hervé leben längst nicht mehr mit dem Strom der Gesellschaft. Sie leben dagegen an, genauso wie die Freundin des Vaters und Pauls Bruder Aurélien.

In dieser nicht so fernen Zukunft geht die Teilung noch tiefer als heute; die Wirtschaft der Großunternehmen floriert wieder, auch dank der Politik des begabten Technokraten Juge lassen französische Autohersteller ihre deutschen Konkurrenten sogar hinter sich. In vielen Gegenden jenseits von Paris und den großen Städten gehören Verarmung und Verfall trotzdem zur Normalität. Niemand glaubt dort ernsthaft noch an eine Wende zum Besseren. Gesellschaftliche Kommunikation gibt es fast nur noch durch das Fernsehen und die Internetplattformen, die Presse hat, wie es an einer Stelle heißt, „fast alle ihre Leser verloren“. Ein bekannter Fernsehkomiker tritt als aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat an.

Auf diese Gesellschaft, in der die Teile nur noch lose zusammenhängen, trifft die Anschlagsserie einer anonymen Untergrundbewegung, die  ein computergeneriertes Video verbreitet, das die Hinrichtung Juges mittels einer Guillotine zeigt, wobei die Animation so perfekt wirkt, dass sich die Experten des Geheimdienstes DGSI die Frage stellen, welche Organisation über die dafür nötigen Großrechner verfügt. Auf die virtuelle Enthauptung folgt ein echter Anschlag, die Versenkung eines chinesischen Containerschiffs mit Kurs auf Europa durch ein technisch avanciertes Torpedo, mit der die unbekannte Terrororganisation alle Lieferketten aus Ostasien unterbricht .

In diesem Romanstrang entwirft Houellebecq ganz nebenbei eine Entglobalisierung mit erstaunlichem Anklang an das Decoupling der Handelsbeziehungen zu Russland und auch zu China, an dem sich Politiker des Westens gerade versuchen. Der Autor beweist nicht zum ersten Mal ein Talent zur literarischen Vorahnung; sein Roman „Unterwerfung“ über eine islamische Machtübernahme in Frankreich erschien am 7. Januar 2015, dem Tag des Massakers in der Redaktion des Satireblatts „Charlie Hebdo“.

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Auch in Pauls Leben hängen die einzelnen Teile seiner Existenz am Beginn der Geschichte bestenfalls noch schwach aneinander. Mit seiner Frau Prudence lebt er seit zehn Jahren in einer zwischen den beiden aufgeteilten Eigentumswohnung, selbst im Kühlschrank herrscht eine strikte Trennung zwischen seinem und ihrem Bereich. Um ihre kalte Ehe zu beschreiben, genügt Houellebecq ein Satz: „Allein zu schlafen fällt schwer, wenn man nicht mehr daran gewöhnt ist, man friert und fürchtet sich; doch dieses beschwerliche Stadium hatten sie längst hinter sich gelassen; sie hatten eine Art vereinheitlichte Hoffnungslosigkeit erreicht.“

„Vernichten“ kehrt den Lauf klassischer Familienromane um, die üblicherweise von einem Niedergang erzählen. Nach dem Schlaganfall seines Vaters fährt Paul nach Saint-Joseph, auch die anderen Familienmitglieder kommen im Haus der Eltern zusammen. Dort stellt Paul fest, dass es doch noch so etwas wie eine letzte, aber eben auch elementare Bindung gibt. In der Provinz entsteht um ihn herum eine Gegenwelt, die er bisher höchstens im Augenwinkel wahrgenommen hatte. Zu den kleinen, aber bedeutenden Fußnoten dieser Schilderung gehört, dass Paul, der politisch etwa in der Mitte steht, einen Modus mit seinem Schwager Hervé findet, der ganz selbstverständlich Le Pen wählt und nie etwas anders wählen würde. Auch darin liegt das Motiv einer Heilung:  Es muss nicht alles ausgekämpft werden. Wo das Politische nicht mehr verbindet, kann das Private und Familiäre trotzdem und sogar erst recht existieren.

„Familie und Ehe“, lässt Houllebecq seine Hauptfigur  denken, „waren die beiden verbliebenen Pole, die das Leben der letzten Bewohner des Abendlandes in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordneten. Andere Modelle waren von Menschen, denen das Verdienst zukam, die Abnutzungserscheinungen der traditionellen Modelle vorauszuahnen, vergeblich in Betracht gezogen worden, ohne dass es ihnen gelungen wäre, neue zu entwickeln, und deren historische Rolle war daher gänzlich negativ gewesen. Die liberale Doxa ignorierte weiterhin beharrlich das Problem, erfüllt von ihrem ebenso unbedingten wie naiven Glauben, das Lockmittel des Profits könnte jeden anderen menschlichen Ansporn ersetzen und allein die für die Aufrechterhaltung einer komplexen sozialen Organisation erfolgreiche geistige Energie hervorbringen.”

Ungefähr in der Mitte des Buchs ereignet sich die unwahrscheinliche Wende; in der Wärmestube von Provinz und Familienumgebung endet die zehnjährige Eiszeit zwischen Paul und Prudence. Zwei mittelalte Menschen, die in Paris nur noch aus Konvention zusammenhingen, finden wieder zusammen. Geheimdienst, Anschläge und Präsidentenwahl erzeugen von jetzt an nur noch das erzählerisches Hintergrundrauschen zu dieser völlig unvorhersehbaren  Fügung. Natürlich verschwindet die bindungslose Welt nicht. Sie rückt nur vorübergehend an den Rand.

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„Paul hatte Menschen gekannt“, heißt es in einer Art Resümee, „die nicht im Traum daran gedacht hätten, ein einmal gegebenes Wort zurückzunehmen, bei ihnen war es nicht einmal nötig, auf die Formalität des Versprechens zurückzugreifen. Es war überraschend, dass es solche Menschen immer noch gab, und das nicht einmal allzu selten. Seit ungefähr einem Jahrhundert waren immer mehr Menschen anderer Art aufgetaucht; sie waren spaßig und schmierig, sie besaßen nicht einmal mehr die relative Unschuld von Affen, sie waren beseelt von der höllischen Mission, jedes Band zu zernagen und zu zerfressen, alles, was notwendig und menschlich war, zu zerstören. Leider hatten sie am Ende die breite Öffentlichkeit, die einfachen Menschen erreicht.”

Bei einem Autor wie Houellebecq spielt es immer eine Rolle, wie er erzählt. Auch darin unterscheidet sich „Vernichten“ von seinen Vorgängern. Und zwar nicht nur durch seinen Umfang. Nach den ersten Seiten, die beim Geheimdienst spielen, erzählt der Autor ganz klassisch durch die Augen seiner Hauptfigur. Etwa in der Mitte spaltet Houellebecq die Perspektive, der Leser folgt für eine Weile der Schwester Cécile, dann Aurélien, um später wieder zu Paul zurückzukehren.  „Vernichten“ ist ein Alterswerk mit breitem Pinsel und einer bemerkenswerten Geringschätzung für Konventionen.

Doch in einem anderen wichtigen Punkt bleibt Houellebecq mit „Vernichten“ bei seiner Tradition: Von Anfang an, von „Ausweitung der Kampfzone“, „Elementarteilchen“ und „Unterwerfung“ bis zu diesem vorläufigen Schlussstück machte er immer Gedanken zu Literatur, die außer ihm bis dahin noch keiner auf den Begriff bringen konnte. Ein spiritistisches Medium besitzt angeblich die Fähigkeit, in Zukunft, Vergangenheit oder beides zu sehen. Der französische Autor besitzt die unterschätzte Fähigkeit, wie ein Medium eine Struktur in der Gegenwart zu erkennen, wo andere nur Nebel wahrnehmen.

Wer etwas über unsere Jetztzeit wissen will, erfährt seit fast dreißig Jahren bei Houellebecq mehr als in den Zeitungen. Und nur mit dieser Geistesgegenwart lässt sich auch die Zukunft ahnen.  Houellebecq ist der aktuellste aller europäischen Autoren.  Er ist Medium und Botschafter zugleich.

Michel Houellebecq, Vernichten. Roman. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek. DuMont Verlag, 624 Seiten, 28,00 €.


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Kommentare ( 3 )

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3 Comments
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Babylon
1 Jahr her

Den Geheimdienstplot hat Houellebecq nicht weitergeführt und zu einer Auflösung gebracht, das „Private“ überwölbte dann diesen Erzählstrang. Trotz dieses Mangels , den zumindest ich so empfand, hat sich die Lektüre gelohnt. Ist allerdings inzwischen schon wieder einige Zeit her.

RMPetersen
1 Jahr her

Ja, ein wirklich toll konstruierter und eben auch bewegender Roman.
Das ist auch für uns Deutsche DER aktuelle Gesellschaftsroman. Ich mag nicht daran denken, dass er aufhört zu schreiben. Allerdings ist der Autor eben vom Beginn an konsequent – und besser kann er kaum noch werden.
Houellebecq hat den Nobelpreis verdient, aber er wird ihn wohl nie bekommen. Seine Literatur ist zu wahrhaftig.

Harry Charles
1 Jahr her

KLARSICHT Houellebecq steht in der Tradition des typisch französischen Rationalismus. Er erkennt, dass in dieser kulturellen Makrokrise des Westens der Rückzug auf den privaten Mikrokosmos die Lösung sein kann. Statt Globalismus Regionalismus. Auch den Niedergang der deutschen Wirtschaft erkennt er. Dieser dürfte allerdings in Realität weniger den genialen Leistungen französischer Ökonomiestrategen zuzuschreiben sein als vielmehr der Inkompetenz bzw. dem zerstörerischen Vorsatz des linksgrünen Politestablishments hierzulande. Wie anders zeitgenössische Deutsche und Franzosen ticken zeigt folgendes Beispiel: ich habe mich gestern morgen, vor dem Fußballweltmeisterschafts – Halbfinale Frankreich – Marokko mit Schülern unterhalten, in Bezug darauf, wer wohl gewinnt. Dabei wurden dann… Mehr