Christian Hardinghaus hat für den dritten Teil seiner Trilogie wieder Interviews mit Zeitzeugen geführt und in den historischen Kontext gestellt: „Die verlorene Generation. Gespräche mit den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs“ liefert wichtige Bausteine zur Geschichtsschreibung
Tichys Einblick: Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg er- und überlebt hat und heute noch unter uns ist, lässt Sie nicht los. Jetzt ist eine Trilogie vollendet. Im Frühjahr 2020 war Ihr Buch „Die verdammte Generation. Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs“ erschienen, im Herbst 2020 folgte Ihr Titel „Die verratene Generation. Der Zweite Weltkrieg aus der Sicht der letzten Zeitzeuginnen“. Nun widmen Sie sich in „Die verlorene Generation“ den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs. Hatten Sie von Anfang an eine Trilogie geplant?
Christian Hardinghaus: Nein, nicht direkt. Zunächst brachte ich 2016 zusammen mit einem Zeichner die Graphic Novel „Großväterland“ heraus. Schon während der Produktion ist uns klar geworden, dass wir die Geschichten der Frauen nicht vernachlässigen dürfen, und wir haben zwei Geschichten von Zeitzeuginnen hinzugenommen. Mir war nach den vielen, positiven Resonanzen klar, dass es für dieses große Thema auch ein vernünftiges Sachbuch braucht. Ich wollte unbedingt noch viele weitere Zeitzeugen treffen. Und so habe ich mit dem Europa Verlag ausgemacht, dass ich erst ein Buch über die letzten Soldaten und dann eines über die letzten „Kriegsfrauen“ schreibe. Da die Bücher gut liefen, bekam ich immer mehr Zuschriften von Menschen, die mir von den Erlebnissen ihrer Angehörigen und Bekannten erzählten. Ich stellte dabei fest, dass es zwei weitere große Gruppen gibt, die den Krieg anders erlebt haben: Kinder und Kindersoldaten. Ich widmete mich erst den Jugendlichen, denn ich bin ja auf noch lebende Zeitzeugen angewiesen.
Packen wir das dritte dieser Bücher ganz statistisch an: Wie viele Männer, damals ja zum Teil noch Kinder, haben Sie für Interviews gefunden? 13 davon haben Sie veröffentlicht. Wie viele haben keinen Eingang in Ihr Buch gefunden und warum nicht?
Es wird wirklich immer schwerer, Zeitzeugen zu finden, gerade wenn man nach solchen sucht, die aktiv als Soldaten am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben. In jedem Teil der Trilogie stelle ich 13 Zeitzeugen vor. Ich überschlage mal und sage, dass es pro Buch ungefähr doppelt so viele gegeben hat, mit denen ich zuvor intensiveren Kontakt hatte. Das Auswählen ist nicht einfach und erfolgt nach rationalen Gründen. Ich kann schlecht drei Geschichten aus Hamburg vorstellen oder zwei Kindersoldaten, die zur selben Zeit an derselben Front kämpften. Es passiert aber auch, dass ein lange eingeplantes Gespräch abgesagt werden muss, weil der Zeitzeuge schwer krank geworden ist. Das ist besonders traurig.
Wie alt sind diese 13 heute? Wo leben sie? Kennen sie sich?
Wo haben die Kindersoldaten überhaupt gekämpft?
Zu ihnen gehören auf jeden Fall die rund 200.000 Luftwaffenhelfer, die ab 1943 deutsche Städte fast im Alleingang verteidigen mussten, und die Volkssturmjungen, die im Herbst 1944 mit 16 Jahren verpflichtet wurden. Besonders tragisch finde ich das Kapitel der sogenannten Panzervernichtungstrupps, über die in der Forschung so gut wie gar nichts existiert. Die Reichsjugendführung beschloss 1945, alle noch nicht in Wehrmacht, SS oder Volkssturm integrierten Hitlerjungen schon von 14 Jahren an im Panzernahkampf auszubilden. Das waren richtige Kinder, die sich nicht nur im übertragenen Sinne von alliierten Panzern überrollen ließen. Sie hatten keine Chance. Einmal an den Waffen, gab es kein Zurück mehr. Wer zu „feige“ war, wurde von Polizei oder der SS eiskalt ermordet und häufig zur Abschreckung an einem Baum aufgehängt.
Warum nennen Sie diese Generation eine „verlorene“ Generation?
Man könnte das Adjektiv „verloren“ für den Verlust der zigtausend minderjährigen Soldaten benutzen oder für die verlorene Kindheit der Kindersoldaten. Es steht aber auch dafür, dass wir im Begriff sind, eine besonders tapfere Generation an den Tod zu verlieren. Die heute über 90-Jährigen haben ganz andere Ideale gelebt. Sie sind aufgewachsen in dem Bewusstsein, sich selbst und das eigene Leid nicht über das aller anderen zu stellen. Sie wollten Kämpfer sein und keine Opfer und behielten diese Einstellung über den Krieg hinaus bei. Es sind Männer und Frauen, die unser Land wieder aufgebaut haben und sich bis ins hohe Alter nie beschwert haben, weil sie das unvergleichbar Schlimmste längst hinter sich hatten. Wir hätten mehr von ihnen lernen können und sollen.
Als wie authentisch erlebten Sie ihre Interviewpartner? Konnten Sie prüfen, inwieweit Verklärung oder Verdrängung eine Rolle spielten?
Das ist eine meiner Hauptaufgaben als Historiker, die Geschichten der Männer gegenzuchecken und auf temporäre, lokale und kausale Unstimmigkeiten hin zu prüfen. Man muss also möglichst penibel ihren Weg durch den Krieg nachzeichnen. Dabei helfen persönliche Notizen zum Beispiel zur Zugehörigkeit zu einer Truppe, erhalten gebliebene Fotos, Wehrpässe, Soldbücher oder Entlassungsunterlagen aus der Gefangenschaft. Man vergleicht mit Sekundärliteratur und Archivmaterial, um letztendlich diese Zeitzeugenberichte historisieren zu können. Natürlich sind einem da Grenzen gesetzt, und auch Zeitzeugen können irren. Wichtig ist letztendlich, dass ein Zeitzeugenbericht als eigenständige Primärquelle anerkannt werden kann, die man dann als einen Puzzlestein zur Aufarbeitung einer Epoche nutzen sollte.
Was war das Schrecklichste, was war das Beglückendste, was diese Männer, damals noch kaum Jugendliche, zu jener Zeit oder auch später erlebt haben?
Eigentlich kann man nichts vergleichen. Alle Schicksale sind grausam. Der 17-Jährige, der zum Verhungern und Sterben in einen Todeszug gepfercht wird, der 16-Jährige, der in Polen unschuldig zum Tode verurteilt wird und dann zehn Jahre im Gefängnis verbringt, der 15-Jährige, dem eine Granate den Bauch aufreißt und der sich in der Jauchegrube eines Toilettenhäuschens versteckt, um nicht von den Sowjetsoldaten getötet zu werden, oder der 14-Jährige, der eine Scheinhinrichtung über sich ergehen lassen muss.
Wie sehen „Ihre“ 13 das Dritte Reich heute? Wie stehen sie zur deutschen Art und Weise, die Vergangenheit zu bewältigen?
Unsere Erinnerungskultur kommt alles andere als gut weg. Sei es die Perspektive von Kindern des Zweiten Weltkriegs oder von Deutschen generell. Ich habe bisher niemanden interviewt, der nicht die einseitige Aufarbeitung dieser Zeit kritisiert. Am schmerzlichsten erlebe ich das aber wohl bei denjenigen, die ihre Heimat verloren haben, über die niemand mehr sprechen will. Hängen geblieben ist bei mir auch, dass zum Beispiel deutsche Schlesier davon berichten, dass die jungen Polen von heute sehr viel aufgeschlossener und interessierter an der Geschichte der Heimatvertriebenen sind, während man in Deutschland einfach lieber vergessen will. „Aus den Augen, aus dem Sinn“ ist leider auch eine ziemlich deutsche Negativeigenschaft, die sich durch unsere gesamte Geschichte zieht.
Wie war die erste Resonanz auf Ihr neues Buch? Was haben die Beteiligten selbst dazu gesagt? Und gab es auch Verrisse beziehungsweise ideologisch motivierte Angriffe?
Das Interesse an dem Thema in der Gesellschaft ist viel größer, als man annimmt. Ich kriege nach wie vor zu über 90 Prozent positive Feedbacks, von Lesern, von Kollegen, von weiteren Zeitzeugen, die aufgrund des Buches auf mich aufmerksam geworden sind. Das tut sehr gut nach dem intensiven Schreibprozess. Deswegen freue ich mich jetzt auf die Lesungen, um auch persönlich in Diskussionen zu kommen. Ideologisch motivierte Angriffe gibt es inzwischen allerdings auch, das wundert mich aber nicht. Es gibt Menschen, die sind so sehr getriggert von einer deutschen Uniform des Zweiten Weltkriegs auf einem Cover, dass sie der Inhalt gar nicht mehr interessiert. Die Sache ist dann für sie klar: Verherrlichung von Krieg!
Da und dort tauchen öffentlich übelste Diffamierungen von Männern und Frauen auf, die Hitler-Deutschland erlebt haben. Als Menschen mit „Nazihintergrund“ werden sie bisweilen verunglimpft. Sie schreiben dagegen an, was ist Ihr Motiv?
Der Vorschlag zweier Künstler, alle Deutschen ohne Migrationshintergrund sollten angeben, sie hätten einen Nazihintergrund, lief nach einem Instagram-Talk darüber im März 2021 durch ein paar große Medien, in denen diese Idee auch noch als positiv aufgegriffen wurde. Das sind Momente, wo man sich denkt, man ist sprichwörtlich im falschen Film. Ich mache aber weniger den Künstlern einen Vorwurf, denen ich sogar abnehme, dass sie damit keine böse Absicht verfolgt haben, sondern eine Welt aus ihrer Perspektive schilderten. Menschen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland aufwachsen, erhalten ja in Schule und Medien dieselbe unzureichende Geschichtsvermittlung wie die „Biodeutschen“.
Aber dass unsere Journalisten da nicht intervenieren und endlich mal ihre Großeltern, die keine Nazis waren, in Schutz nehmen, kann ich nicht verstehen. Solche Provokationen bieten doch eigentlich die beste Möglichkeit, mal über das Leid der vielen Deutschen des Zweiten Weltkriegs zu sprechen. Es dürfte darunter wesentlich mehr mit „Opferhintergrund“ gegeben haben als mit „Nazihintergrund“. Aber wenn man die Geschichte der eigenen Großeltern nicht kennt, weil man sie nie gefragt hat, ist man wohl eher geneigt, sie in die Kategorie „Nazi“ einzusortieren, selbst wenn sie zu den 14 Millionen Frauen, Kindern und Greisen zählten, die mit Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wurden und gleichzeitig Opfer der Nationalsozialisten wie auch von russischen, polnischen oder tschechischen „Racheaktionen“ geworden sind.
Menschen, die die Jahre um 1945 bewusst erlebt haben, lassen Sie nicht los. Gibt es schon ein neues, weiterführendes Projekt mit einer anderen Personengruppe?
Das gibt es – und es wird so lange nicht preisgegeben, bis der Verlag es nicht selbst ankündigt. So viel sei verraten, es geht über das Jahr 1945 hinaus. Es ist leider nicht so, dass Deutschland danach zur Ruhe gekommen ist.
Christian Hardinghaus, Die verlorene Generation. Gespräche mit den letzten Kindersoldaten des Zweiten Weltkriegs. Europa Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 344 Seiten, mit zahlreichen Fotos und Abbildungen, 20,00 €.
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Zum „immer schon“ diffusen Geschichtsbild der Deutschen? Diese Bilder nationaler Geschichte wurden ja erst im 19. Jahrhundert überall in Europa gebastelt und sind fast überall mittlerweile wieder zusammengebrochen. Solche Bilder sollten – aus meiner Sicht – heute weniger politisiert sein, sondern kulturelle sein, erzählte. Seit 1870 (oder 1800 bereits) spätestens wurden sie aber heftig politisiert, und das änderte sich auch nicht über die Revisionen nach 1945! Immer werden damit seit 200 Jahren heftige Interessen verfolgt.
Mein Vater ist Jahrgang 30….war also zu Kriegsende 15. Kurz bevor die Russen im Sudentenland einmarschierten, erschien die Waffen-SS in seiner Dorf-Schule….alle Jahrgänge ab 30 wurden auf LKW mitgenommen und in die nächste Kreisstadt in eine Kaserne verbracht. Dort wurden alle auf dem vereinsamten Kasernenhof aufgestellt und sie sollten „sich freiwillig melden“. Etwa die Hälfte tat es, aus Angst vor der SS, die wenigsten aus Überzeugung oder Begeisterung. Es war so ziemlich allen klar, dass der Krieg verloren war. Der Rest meldete sich nicht…mit dem Hinweis sie seien noch keine 16 und bräuchten die Einwilligung der Eltern. Die SS schrie… Mehr
Wenn eine junge Generation Grund gehabt hat, zu protestieren, dann diese. Allerdings hätten sie dafür einen Preis bezahlen müssen, den heutige „Aktivisten“ sich gar nicht vorstellen können. Wer „für´s Klima“ protestiert, aber nicht mal bereit ist, sein Smartphone abzuschaffen, der wäre weder damals in der Lage gewesen, noch wäre er es heute, dem braunen Sozialismus irgendetwas entgegenzusetzen.
„Aus den Augen aus dem Sinn“ stimmt vielleicht nicht so wirklich. Meine Eltern waren 12 und 9 Jahre alt, als der Krieg begann, mein Vater 17, als er eingezogen wurde. Der Krieg wurde in meinem Elternhaus nicht erwähnt, weder von Eltern noch von Großeltern. Einige gravierende Erlebnisse erfuhr ich von beiden Eltern jeweils auf ihrem Sterbebett. So quasi ohne jeden Grund erzählten sie plötzlich etwas aus dieser Zeit. Das war bei ihnen nicht aus den Augen, aus dem Sinn. Es war das letzte, was noch eine wichtige Bedeutung für sie hatte.
Alle, die heute so klug und besserwisserisch daher reden sollen ganz froh sein zu dieser schrecklichen Zeit nicht gelebt haben zu müssen.
Richtig. All diese Maulhelden wären damals genau so wehrlos gegen den braunen Sozialismus gewesen, wie man es damals war.
„Aber dass unsere Journalisten da nicht intervenieren und endlich mal ihre Großeltern, die keine Nazis waren, in Schutz nehmen, kann ich nicht verstehen.“
Im Mainstream verdient man nun mal sein Geld mit dem Gegenteil, da erwarte ich gar nichts mehr.
Schon merkwürdig!
Nicht durch den zweiten Weltkrieg, sondern in Wahrheit durch die fortgesetzte Kinderlosigkeit der eigenen Bevölkerungen werden die alteuropäischen Völkerschaften in den kommenden drei bis fünf Generationen auf SEHR kümmerliche Populationsreste geschrumpft sein!
Verloren, die Kindheit und die Jugend. Der Krieg begann in der Kindheit, als Jugendliche wurden sie eingezogen, gerieten als Jugendliche in Gefangenschaft und wurden, zumindest von den Amerikanern, als Jugendliche, als junge Männer entlassen, verwundet, verstümmelt, traumatisiert. Die Kinder heute sind auch verlorene Kinder, sie kämpfen in keinem Krieg, es wird gegen sie gekämpft von der eigenen Regierung.
Von Kindersoldaten getötet, hat das selbe Ergebnis. Auch der Schmerz der Opfer ist gleich. Kinder werden seit jeher von skrupellosen Erwachsenen, ob im Kongo, in China oder in unseren Schulen die FFF Kinder. Ideologisch ausgebeutet.