Ferenc Molnár: „Die Jungen von der Paulstraße“

1906 begeisterte Ferenc Molnárs wohl bekanntestes Werk zunächst als Fortsetzungsroman die Leser einer Budapester Tageszeitung. Das Buch schildert den Kampf zwischen Gut und Böse und ist heute noch Pflichtlektüre an ungarischen Schulen. Von Zsolt K. Lengyel

Ferenc (Franz) Molnár, der aus dem deutsch-jüdischen Großbürgertum stammte, hat mit seinem Frühwerk „Die Jungen von der Paulstraße“ seinen Weltruhm als Schriftsteller gleichsam vorab verewigt. Seinen ursprünglichen Namen Neumann änderte er mit 17 Jahren zu Beginn seiner journalistischen Tätigkeit in der Hauptstadt Ungarns.

In den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts strahlte die verbürgerlichte Hungarus-Auffassung, die Idee von der kulturübergreifend ungarischen Reichsidentität, im Geistesleben der östlichen Hälfte Österreich-Ungarns noch eine erhebliche Anziehungskraft aus. Mit der Magyarisierung seines Namens wies Molnár sich selbst den Weg in das kulturelle Umfeld seiner früh schon beträchtlichen Popularität als Romancier, Novellist, Essayist und Feuilletonist. Mit feinem Spürsinn richtete er die Verarbeitung sozialkritischer, boulevardjournalistischer und melodramatischer Themen am literarischen Geschmack seiner Zeit aus.

Weltberühmt wurde er mit seinen Theaterstücken nach dem 1. Weltkrieg, als es das Ungarn seiner ersten Schaffensperiode nicht mehr gab. Seine erfolgreiche Karriere setzte sich in der dritten, abschließenden Phase nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten von Amerika 1940 ungebrochen fort. Er gehörte zu den wenigen ungarischen Exilschriftstellern des 20. Jahrhunderts, denen es gelang, auch das Publikum ihrer Wahlheimat zu erobern.

Umso bemerkenswerter ist es, dass er im Rückblick ausgerechnet seinen 1906 in Fortsetzungen und 1907 in Buchform erschienenen Jugendroman als jenes seiner Werke bezeichnete, das ihm am stärksten ans Herz gewachsen sei und das mit Übersetzungen in 32 Sprachen – von Albanisch bis Vietnamesisch – weltweit zu den bekanntesten ungarischen Romanen überhaupt gehört. In mehreren Ländern ist es in Gymnasien empfohlene oder sogar Pflichtlektüre. In Ungarn kam 2012 die 50. Auflage auf den Markt. In deutscher Sprache sind bisher insgesamt mehr als ein halbes Dutzend Auflagen, darunter die hier erwähnte Übersetzung von 1928 als zweite, bibliografisch erfasst.

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Die Handlung spielt im Frühling des Jahres 1889 im VIII. und IX. Bezirk der ungarischen Hauptstadt. Sie beruht auf der Rivalität zweier Kindergangs. Die Ursache für die Spannung zwischen den jungen Gymnasiasten ist ein unbebautes Grundstück in der wachsenden, aber noch nicht gänzlich zugebauten Großstadt: Auf diesen Spiel- und Bolzplatz, den Grund der „Jungen von der Paulstraße“, haben die „Rothemden“ ein Auge geworfen, weil ihr eigener Versammlungsort in dem wenige Straßenzüge entfernten Pflanzengarten (fűvészkert) für Ballspiele ungeeignet ist. Die Schlacht um die Herrschaft über den Grund, diesen Hort hier erlebter, dort ersehnter Freiheit, wird mit Sandbomben und Mann gegen Mann geschlagen. Und die Paulsträßler tragen den Sieg davon.

Doch ihr Soldat Ernő Nemecsek, der im Nahkampf den Anführer der Rothemden, Feri Áts, niederringt und damit das „Reich“ in der Paulstraße rettet, stirbt kurze Zeit später an den Folgen einer Lungenentzündung. Am Ende muss der General der Sieger, János Boka, einen weiteren Verlust verkraften. Bei einem Rundgang auf dem Grund entdeckt er Architektenwerkzeuge. Als er vom Hausmeister erfährt, dass das kaum erst siegreich verteidigte Grundstück für ein neues Mietshausprojekt in Beschlag genommen worden sei, bricht für ihn eine Welt zusammen. Seine „einfache Kinderseele“, lauten die so einprägsamen Schlussworte Molnárs, „überkam nun zum ersten Mal eine Ahnung davon, was dieses Leben eigentlich ist, dessen kämpfende, bald heitere, bald traurige Diener wir sind“.

Der Grund befand sich in der Josephstadt, in der Paulstraße, an der Ecke zur Mariastraße – oder einige Meter davon entfernt –, unweit des wohlbetuchten, mehrstöckig-gründerzeitlichen Elternhauses des Autors und der Wohnung des verstorbenen Helden in einem ärmlichen Flachbau, der in der angrenzenden Franzstadt lag. Als der Roman auf der Galerie eines Pester Kaffeehauses entstand, war das einst umkämpfte Grundstück schon bebaut. So entnahm Molnár seinen Kindheitserinnerungen Weggefährten, die er, mehrheitlich umbenannt, den Handlungssträngen seines Romans charakterlich anpasste.

Nach herkömmlicher Auslegung stellte Molnár in diesem Roman den Kampf zwischen Gut und Böse dar. Auch der Autor dieser Zeilen ist mit ihr aufgewachsen, während aus der einschlägigen Fachliteratur und Essayistik hin und wieder die interpretatorische Bestätigung zu vernehmen war: Die Rothemden seien machtgierige Autokraten, die Jungen von der Paulstraße rechtschaffene Demokraten gewesen. Die einen hätten Befehlen gehorcht, die anderen ihr Gemeinschaftsleben nach Regeln gestaltet. Doch neu gelesen verliert dieser Roman diese Eindeutigkeit.

Gefühlswelt des Patriotismus

Molnár erhob beide Streitparteien in die Gefühlswelt des Patriotismus, wie ihn das zeitgenössische Bürgertum Budapests zumeist noch über ethnische oder religiöse Trennlinien hinweg empfand. Er führte die Kinder in eine Schlacht, in der nicht das „Vaterland“, sondern nur die Herrschaft der Jungen von der Paulstraße auf dem Spiel stand. Schließlich wollten auch die Rothemden nicht, dass dieses Vaterland, der Grund, von der Erdoberfläche verschwindet.

Molnár bediente sich eines weiteren Einfalls, um beide Kindergangs über die Trennlinien hinweg geistig-moralisch zu vereinen: Er versah beide Seiten mit anziehenden und abstoßenden Charakteren. Dazu entwarf er zwei Typen, die sich hier wie dort in Hauptrollen personifizieren. Der eine ist durchweg ein anständiger Kerl – allen voran der General in der Paulstraße, Boka, und sein Soldat, Nemecsek. Der andere Typ ist zunächst ein Unsympath, der aber das Unliebsame an sich weder verheimlicht noch schönredet, sondern gegen seine missliebigen Züge ankämpft.

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In Molnárs Roman nimmt er sogar Züge der Menschlichkeit an – wie der Anführer der Rothemden, Feri Áts. Zunächst bloß angriffsbereit, wird er, weil er es ablehnt, den Grund durch Hinterlist, also nicht im offenen Kampf einzunehmen, anständig, da er dem Soldaten Nemecsek aus dem gegnerischen Lager bei einer unverhofften Begegnung im Pflanzengarten Respekt zollt, und schließlich sogar warmherzig, weil er trotz der Niederlage in der Entscheidungsschlacht den persönlichen Kontakt zum schwerkranken Paulsträßler sucht, um sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen. Eine ähnliche moralische Wandlung durchläuft der Paulsträßler Dezső Geréb, der zur Mitte der Erzählung zu den Rothemden überläuft, dann aber seinen Verrat bereut und bittet, zu seiner alten Mannschaft zurückkehren zu dürfen. Auf diese Einsicht wird ihm Nachsicht zuteil, sodass er schließlich an der Seite seiner ursprünglichen Kameraden den Grund verteidigt.

Der Roman kündigt auf seinen ersten Seiten noch eine Kindergeschichte an, die aber – ehe man es sich versieht – von einer bedeutungsschweren Frage zu handeln beginnt. Er unternimmt das mit den Augen und den Herzen von Jugendlichen, die sich so verhalten, als wären sie Erwachsene. Die Frühreife seiner Gestalten mit kulturell gemischtem Hintergrund deutet das besondere Gewicht des Problems diesseits und jenseits der Barrikaden an.

Die Paulsträßler und die Rothemden begeistern sich gleichermaßen für ein Fleckchen Erde, das ihnen ein Zuhause außerhalb der Familie bietet, jedem Einzelnen unter ihnen das Gefühl der gesellschaftlichen Geborgenheit vermitteln soll. Diesen Grund bezeichnen sie als Reich (birodalom) und Vaterland (haza), die im weiten Rahmen Österreich-Ungarns die Erinnerung an die Integrationsbestrebungen im mehrsprachigen deutschjüdisch-ungarischen Bürgertum Budapests wachruft.

Treue zur Gemeinschaft

Gewiss sah Ferenc Molnár am Kaffeehaustisch, wo ihm der Setzer die fälligen Manuskriptblätter für den Fortsetzungsdruck aus der Hand zu reißen pflegte, nicht das Ende der Doppelmonarchie voraus. Er fing aber die Stimmungslage in der Öffentlichkeit Ungarns vor und nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein, deren Zerbrechlichkeit er das Ideal der Treue zur Gemeinschaft entgegensetzte. Für diese Erhabenheit entschloss er sich, die herausragenden Negativhelden unter seinen Darstellern mit zu veredeln. Sein Jugendroman vermittelt die Zuversicht, dass Charakterstärke, wenn sie schon nicht angeboren ist, so doch erworben werden kann, wenn nur die eigenen Grobheiten beharrlich genug abgeschliffen werden. Doch als wäre diese Botschaft nicht anspruchsvoll genug, gerät die moralische Geschliffenheit hier an ihre Grenze.

In der feingezeichneten Tiefenschicht der Erzählung stehen sich nicht das Gute und das Böse, sondern das Dauerhafte und das Vergängliche gegenüber. Und der schallende Epilog zum Tod des schließlich zum Hauptmann beförderten Soldaten Nemecsek liefert Verlierer und Sieger gleichermaßen der Vergänglichkeit aus, indem er ihnen die Erkenntnis aufzwingt, dass sie das, wofür sie sich begeisterten, für immer loslassen müssen.

Der Autor dieses Beitrags, Zsolt K. Lengyel, ist habilitierter Professor und Direktor des Ungarischen Instituts der Universität Regensburg. Er betreibt Forschungs-, Publikations- und Lehrtätigkeit zu Ostmitteleuropa und ist Herausgeber des „Ungarn-Jahrbuch“ und der „Studia Hungarica“.

Ferenc Molnár, Die Jungen von der Paulstraße. Ein Kinderbanden-Roman. Anaconda, Pappband, 224 Seiten, 6,95 €.


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Kommentare ( 2 )

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cernunnos
1 Jahr her

Wenn wir bei ungarischer Literatur sind.

Ich habe als Kind mehrfach „Tödlicher Halbmond“ gelesen, von Géza Gárdonyi. Eine uralte Ausgabe im Bücherschrank meines Großvaters (der übrigens Schuhmacher war, aber damals las man noch). Ich habe dieses Buch geliebt. Und es steht heute, vergilbt und rund, bei mir im Bücherschrank.

Last edited 1 Jahr her by cernunnos
Thorsten
1 Jahr her

Die Verleugnung seines Namens „Neumann“ macht ihn in meinen Augen auch zum „Woken Appeasementer“.
Nichts Neues unter der Sonne.