Bernd Wagner holt sechs solitäre Künstler in die Gegenwart, die eines gemeinsam haben: sie erlebten das Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, die Republik, den Nationalsozialismus und den Neuanfang nach 1945. Und sie passten als freie Geister schon in ihrer Zeit in kein Schema. Das macht sie gerade heute zu faszinierenden Figuren.
Auf dem ausgedehnten Feld literarischer Biografien gibt es seltene Exemplare, die das Leben hochinteressanter und gleichzeitig noch kaum beschriebener Figuren erzählen. Erzählen sie davon auch noch gut, dann gehören diese Texte zu den schwarzen Perlen des Genres. Bernd Wagner legt mit „Die letzten Europäer“ gleich sechs Lebensbilder vor, die zwar nicht durchgehend große Unbekannte zeigen; Ernst von Salomon und Friedrich Torberg gehören ohne Zweifel zu den bestens ausgeleuchteten Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber wer kennt Jürgen von der Wense? Albert Vigoleis Thelen, Verfasser des immerhin größten deutschsprachigen Mallorca-Romans, gehört bis heute zu den artists artists, den Autoren, die ungerechterweise kaum Leser außerhalb des literarischen Betriebs finden.
Die Bilder von Albert Paris Gütersloh hängen verstreut in der einen oder anderen öffentlichen Sammlung, seine Texte („Kain und Abel“, „Sonne und Mond“) entdeckt jemand mit Glück in Antiquariaten. Das literarische Werk der Journalistin Margret Boveri erschien nicht nur spät, sondern überhaupt nur deshalb, weil andere sie dazu überreden konnten, es zu veröffentlichen: Zum einen ihre Aufzeichnungen über die letzten Kriegswochen in Berlin und die Zeit unmittelbar danach, die es erst ab 1968 unter dem Titel „Tage des Überlebens. Berlin 1945“ in Buchform gab. Ihre Autobiografie, veröffentlicht 1977, schrieb sie, weil Uwe Johnson sie dazu drängte.
Wagners Figuren verbindet zum einen, dass sie alle noch das deutsche oder kakanische Kaiserreich erlebten, dann den Ersten Weltkrieg, den Zusammenbruch der Monarchie, die Republik, den Nationalsozialismus, den nächsten Krieg und Zusammenbruch, den Neuanfang nach 1945. Zweitens ähneln sie einander in ihrer Bindung an das alte Europa, dessen Ausläufer noch weit über 1914 hinausreichten. Drittens standen sie mit ihren Lebensläufen gerade nicht exemplarisch für eine dieser Epochen. Dazu legten sie zu viel Wert auf Eigensinn bis hin zur Exzentrik. Jürgen von der Wense zog es vor, zwar rastlos zu schreiben (und auch zu komponieren), aber das wenigste davon ging zu seinen Lebzeiten in Druck, nur einige seiner Stücke erlebten eine Aufführung. Wenses Hauptkunstwerk ließ sich sowieso nicht publizieren: Sein Leben, das er als Hauptfigur eines Romans führte, den es nur in seinem Kopf gab.
Jürgen von der Wense, den Wagner einen „wandernden Mönch“ nennt, sticht unter all diesen Sonderfällen noch heraus als großer Universalist, der zwar sein ganzes Leben in Deutschland verbrachte, die Welt aber zu sich in seine spärlich möblierten Zimmer holte, zum einen als Übersetzer, der sich die fremden Sprachen selbst beibrachte, als Beobachter des Sternenhimmels und als Verfasser ausufernder enzyklopädischer Aufzeichnungen. Aber auch die Biografie dieses Solitärs unter den Sonderfällen bettet Bernd Wagner wie die anderen Lebensläufe ein in die dichte Schilderung der Lebensorte und der Zeit, der kulturellen Matrix, die auch den größten Außenseiter prägt.
Der Komponist Wense, schreibt der Biograf, stammte aus einer Zeit, in der die heute klassischen Werke noch „lebendige Gegenwart“ gewesen seien: „Als die Oper ihre letzten Triumphe feierte, wurde deren Komponist Richard Strauss von jungen Enthusiasten auf Schultern aus dem Saal getragen; in Wien hörte Wense einen Kutscher noch Motive aus einer Bruckner-Sinfonie pfeifen.“ Zu diesem alten, vergangenen Europa gehörte es ebenso, dass die Wohnungen von Berühmtheiten in den großen Städten auch unangemeldeten Besuchern offenstanden. So konnte der junge von der Wense sich 1915 einfach zur Wohnung Arnold Schönbergs in Berlin begeben, um ihm dort seine „Fünf Klavierstücke“ vorzuspielen (und anschließend den Raum wortlos zu verlassen; das Talent, seine Arbeiten, ob Musik, eigene Literatur, Übersetzungen oder seine naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen, erfolgreich in den großen Verwertungsbetrieb einzuspeisen, besaß er zeitlebens nicht).
Für eine seiner Kunstformen gibt es bis heute ohnehin keine wirkliche Veröffentlichungsform – seine Wanderungen, vorbereitet mit Messtischblättern, die er die „Partituren der Landschaft“ nannte. Seine Notizen dazu, genauso wie seine Wetteraufzeichnungen, ergaben ihren ganzen Sinn nur mit ihm zusammen als Hauptfigur. Wer sich von der Wense heute nähern will, liest am ehesten seine schon zu Lebzeiten unter dem Titel „Epidot“ publizierte Textsammlung. Dort schreibt er, der so mönchisch und abgekapselt wirkte: „Lachen ist die Koloratur unseres Denkens. Wir lachen, weil wir uns irren. Wenn wir ohne Irrtum lebten, wären wir Tiere.“
Zu den schönsten Passagen gehört die Schilderung des kalifornischen Exils, in dem der gerade noch davongekommene Autor zwar als Geretteter saß, aber auch als völlig Verirrter, dem dort im äußersten Westen alles fehlte, was seine Existenz bis dahin ausgemacht hatte. „Der ehemalige Sportler Torberg“, heißt es bei Wagner, „war im zukünftigen Joggerparadies ebenso fehl am Platz wie der Schriftsteller im Writer’s Building. Es handelte sich um einen Bau im Gartenstadtstil, außen mit lichtem Schönbrunner Gelb getüncht, doch innen von geistigem Dunkel erfüllt. Der Donaustädter saß an einem Schinken über den Diamantschmuggel in Brasilien, während sich der Amerikaner im Nachbarbüro, der nicht Bukarest von Budapest unterscheiden konnte, mit einem Streifen über den europäischen Kriegsschauplatz abplagte.“
Die meisten Porträts fügt der Biograf als Mosaik aus größeren und kleineren Einzelstücken zusammen. Für sein Porträt des Albert Vigoleis Thelen kann er ausnahmsweise großzügig aus dessen autobiografischem Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ schöpfen, wobei Wagner sich gar nicht erst bemüht, hier die ohnehin kaum feststellbare Grenze zwischen Thelens Dichtung und Leben zu ziehen. Der eine oder andere Leser fühlt sich von Wagners kundiger Führung durch den 900-Seiten-Wälzer möglicherweise angeregt, sich das ganze merkwürdig funkelnde Mallorca-Werk vorzunehmen.
Noch ein anderer Faden verbindet die sechs letzten Europäer: Sie gehören zu den Lieblingsautoren von Wagner, der seinerseits schon in der DDR zu den Solitären unter den Schriftstellern gehörte. 1948 in Wurzen geboren, etablierte er sich ab 1977 nach Berufsjahren als Lehrer als freier Autor und das im Wortsinn: Mit Lothar Trolle und Uwe Kolbe gab er in Ostberlin von 1983 bis 1985 die illegale Literaturzeitschrift „Mikado“ heraus. Einen Anwerbeversuch der Staatssicherheit beantwortete er mit einem abschlägigen Brief an Erich Mielke, dessen Kopie er auch an den Schriftstellerverband schickte, damit seine Kollegen Bescheid wussten. Die DDR-Behörden erlaubten ihm, der in ihr Kulturleben nicht passte und nicht passen wollte, 1985 schließlich die Ausreise in den Westen.
In einer insgesamt einigermaßen wohlwollenden Sendung des Deutschlandfunks über Bernd Wagner hieß es 2022 mahnend: „Während sein autobiographischer Roman ‚Die Sintflut in Sachsen‘ 2019 im Schöffling Verlag zum Erfolg bei Kritik und Publikum wurde, scheute sich Wagner nicht, in der Exil-Reihe der umstrittenen rechtskonservativen ‚edition buchhaus loschwitz‘ die Polit-Satire ‚Mao und die 72 Affen‘ samt einem provokant-mokanten Interview zur ‚Corona-Pandämonie‘ zu veröffentlichen.“
Vermutlich gibt es einige im Kulturbetrieb, die finden, Wagner sei ohne weiteres einzuordnen. Dazu genügt ihnen schon ein Verlagsname.
Bernd Wagner, Die letzten Europäer. Sieben Studien. Edition Buchhaus Loschwitz, Hardcover mit Schutzumschlag, 427 Seiten, 28,00 €.
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Auch eine grosse, tragische Geschichte ist der Lebensabschnitt Gerhard Gundermanns, als er nur noch in einer Umschulungsmassnahme des Arbeitsamtes war, seine Texte leerer, das Publikum bei seinen Auftritten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wohlhabender, und sein früher Tod.