Cora Stephan erzählt in ihrem neuen Roman die Geschichte zweier Familien vom frühen 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs: Die Broedies und von Sedlitz' stehen auf verfeindeten Seiten - und versuchen doch, Freunde zu bleiben.
Ein guter Roman entführt seinen Leser an spannende Orte. Dorthin, wo er noch nie war – oder schon lange nicht mehr. Cora Stephan hat mit „Über alle Gräben hinweg“ einen solchen Roman vorgelegt. Die Autorin erzählt darin vom Leben zweier Familien in Schlesien und der urwüchsigen schottischen Landschaft. Doch Stephan tut mehr. Sie lässt ihre Leser auch in die Vergangenheit reisen – zurück in die letzten Tage des Kaiserreichs bis in die Wirren der beiden Weltkriege.
Die Geschichte beginnt mit der Ärztetochter Benita, die die erste Hälfte des Romans bestimmt. Sie ist im heiratsfähigen Alter und lernt auf einem Ball Ludwig von Sedlitz kennen, der die Liebe ihres Lebens wird und der sich sofort in sie verliebt. Dennoch finden sie nur langsam zueinander. So manche Schilderung des Balls, der Schauplätze, Ausstattung und Garderobe erinnert an Filme wie „Sissi“, die von einer vorindustriellen Zeit erzählen, die verlässlich und glücklich gewesen zu sein schien.
Doch als Ludwig um Benita wirbt, steht die Moderne schon vor der Tür. Der Adlige beeindruckt seine Braut damit, dass im Hofteich seines Landgutes Karpfen schwimmen – und der Besitz über eine eigene Elektrizitätsversorgung verfügt. Die Moderne verspricht Verlockungen. Aber die Figuren ahnen auch: Es ist etwas in der Luft. Veränderung. Die Fortschritt bringt. Aber auch Konflikte. Der Erste Weltkrieg bricht aus und reißt die heile Welt Benitas und Ludwigs entzwei.
Benita hält die Familie zusammen, verteidigt das Gut und damit die Lebensgrundlage ihrer Lieben. Ludwig wird in Krieg und Politik verstrickt. Benita ist die starke Frau. Und wie so häufig, wenn die Mütter dominant und die Väter abwesend sind, wird ihr gemeinsamer Sohn Alard etwas weich. Als er später in Cambridge studiert, trifft er dort auf Liam Broedie, einen kernigen Schotten. Der führt den Deutschen weg aus seinem Hang zur Vergeistigung, hinein in die Männerwelt von Alkohol und Abenteuern.
Es ist ein geschickter Zug Stephans, die Handlung vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs beginnen zu lassen. Der war ein Familienkrieg. Die Monarchen Deutschlands, Russlands und Großbritanniens waren miteinander eng verwandt. Die Autorin spiegelt diese Verwandtschaft feindlicher Mächte in der Erzählebene wider. Russland bezieht sie durch den Kniff ein, dass Ludwigs Schwester ins Zarenreich verheiratet wurde – ausgerechnet an einen Adligen, der sich später im Kampf gegen die Kommunistische Revolution von 1917 hervortut.
Die Historikerin Stephan lässt in „Über alle Gräben hinweg“ solche historischen Ereignisse ganz selbstverständlich lebendig werden. Ihre Figuren erleben alles – vom Leid der Kriege bis zum Siegeszug des Autos; vom Börsencrash bis zu Max Schmelings legendären Boxkämpfen. In der zweiten Hälfte des Romans wechselt der Fokus von Benita auf Liam und Alard. Als die Menschen glauben, die Härten des Ersten Weltkriegs überstanden zu haben, müssen sie erfahren, dass ihnen die weit größere Härten noch bevorstehen.
Liam und Alard versuchen, sich den Entbehrungen, Zumutungen und Konflikten dieser Zeit entgegenzustellen. Dies gelingt manchmal. Sie erreichen Großes. Aber die Katastrophen können sie nicht verhindern – nur überstehen.
Stephan beschreibt damit liebevoll aber auch aufrichtig, was eine Freundschaft leisten kann, die „Über alle Gräben hinweg“ hält. Aber auch, woran sie scheitern muss. Der Leser ist dabei immer bestens unterhalten auf einer spannenden, gut 400 Seiten langen Reise durch Raum und Zeit.
Cora Stephan, Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch, Hardcover mit Schutzumschlag, 432 Seiten, 24,00 €.
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