Wenn das Volk und die Elite nicht mehr miteinander übereinkommen, um gemeinsam zu funktionieren, dann hat der Begriff der repräsentativen Demokratie keinen Sinn mehr: Wir landen bei einer Elite, die nicht mehr vertreten will, und bei einem Volk, das nicht mehr vertreten werden will.

Exzentrisches oder Marginales an sich: Er ist banal und wird, wenn auch mit Abstrichen, von einem guten Teil der Intellektuellen und Politiker geteilt.
Versuchen wir, einen Idealtyp für diesen demokratischen Verfall herauszuziehen. Um dies zu tun, lohnt es sich, im Vorfeld einen Idealtyp der liberalen Demokratie zu definieren oder, etwas bescheidener, sie in groben Zügen zu beschreiben. Als Rahmen hat sie einen Nationalstaat, innerhalb dessen die Bürger sich dank einer gemeinsamen Sprache ungefähr verständigen können – meistens, aber nicht immer. Es finden dort allgemeine Wahlen statt. Parteienpluralismus, Meinungs- und Pressefreiheit sind sicher. Und schließlich als grundlegender Wesenszug: Es gilt die Mehrheitsregel, während zugleich Minderheiten geschützt sind.
Explizite Gesetze reichen nicht aus, jedenfalls nicht, um aus einem Land eine liberale Demokratie zu machen. Diese Gesetze müssen belebt, verkörpert und empfunden werden durch demokratische Sitten. Die durch allgemeine Wahlen gewählten Vertreter müssen sich selbst vollständig als Vertreter derjenigen begreifen, die sie gewählt haben. Und die Übereinstimmung zwischen Gesetzen und Sitten wurde im 20. Jahrhundert durch die allgemeine Alphabetisierung möglich gemacht.
Wenn ich die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben als Fundament der Demokratie betrachte, so geschieht dies nicht einfach, weil die Alphabetisierung es erlaubt, Zeitungen zu entziffern und seinen Stimmzettel auszufüllen, sondern weil dadurch ein gewissermaßen metaphysisches Empfinden von Gleichberechtigung unter allen Bürgern genährt wird. Lesen und schreiben zu können, was früher das Exklusivrecht des Priesters war, steht inzwischen allen Menschen zu. Und dennoch scheint dieses Gefühl einer grundlegenden demokratischen Gleichberechtigung zu Beginn dieses dritten Jahrtausends erschöpft. Die Entwicklung der Hochschulbildung gab schlussendlich 30 oder 40 Prozent einer Generation das Gefühl, tatsächlich überlegen zu sein: die Massenelite – ein Oxymoron, das schon eine Ahnung dieser ungewöhnlichen Situation vermittelt.
Wenn das Volk und die Elite nicht mehr miteinander übereinkommen, um gemeinsam zu funktionieren, dann hat der Begriff der repräsentativen Demokratie keinen Sinn mehr: Wir landen bei einer Elite, die nicht mehr vertreten will, und bei einem Volk, das nicht mehr vertreten werden will. Journalisten und Politiker sind im Übrigen laut Meinungsumfragen in den meisten »westlichen Demokratien« die am wenigsten respektierten Berufe. Das Verschwörungsdenken, diese spezifische Pathologie eines Gesellschaftssystems mit Elitismus-/Populismus-Struktur, verbreitet sich durch soziales Misstrauen.
Das demokratische Ideal reichte zwar nicht bis zum Traum einer perfekten Gleichheit aller Bürger, doch es brachte die Vorstellung einer Annährung der sozialen Bedingungen mit sich. In der Phase der maximalen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man sich sogar vorstellen können, wie Proletariat und Bürgertum in den USA und später auch anderswo zu einer breiten Mittelklasse verschmelzen würden. In den letzten Jahrzehnten haben wir jedoch stattdessen eine Ausweitung der Ungleichheiten erlebt, wenn auch je nach Land in unterschiedlichem Ausmaß.
Dieses Phänomen hat in Verbindung mit dem Freihandel die traditionellen Klassen zwar aufgebrochen, aber dabei die materiellen Voraussetzungen und den Zugang zu Beschäftigung für Arbeiter und Mittelschicht verschlechtert. Wieder ist das, was ich hier beschreibe, von frappierender Banalität: eine Feststellung, über die sich alle einig sind.
Als Mitglied einer Massenelite mit Hochschulausbildung respektiert der Volksvertreter die Bevölkerung mit Volks- oder Realschulabschluss nicht mehr, und welcher Parteizugehörigkeit er auch sei, er kann nicht anders, als die Werte der Höhergebildeten für die einzig legitimen zu halten. Er ist einer von ihnen, diese Werte sind er selbst, und der ganze Rest ist in seinen Augen bedeutungslos und leer; niemals wird er irgendeine Alternative repräsentieren können.
Liberale Oligarchen gegen die autoritäre russische Demokratie
Ich werde die politischen Systeme, die in unseren Medien, unseren Universitäten und bei unseren Wahlkämpfen als westliche liberale Demokratien beschrieben werden – die über die Ukraine gegen die russische Autokratie antreten –, umqualifizieren. Im Adjektiv »liberal« in Verbindung mit »Demokratie« kommt der Schutz von Minderheiten zum Ausdruck, der die Kraft des Mehrheitsprinzips zügelt.
Der ideologische Sinn des Krieges verändert sich. Im vorherrschenden Denken deklariert als Kampf liberaler Demokratien des Westens gegen russische Autokratie, wird er nun zur Konfrontation zwischen den liberalen Oligarchien des Westens und der autoritären russischen Demokratie. Das Ziel einer solchen Neuklassifizierung des Westens und Russlands ist es nicht, Ersteren anzuprangern, sondern seine Ziele in diesem Krieg, seine Stärken und Schwächen besser zu begreifen.
Einige wichtige Punkte können hier schon hervorgehoben werden:
- Wir haben es mit der Konfrontation zweier in ideologischer Hinsicht entgegengesetzter Systeme zu tun, auch wenn der Gegensatz nicht der ist, den man uns angegeben hat. Dass Parteien, die das Arbeitermilieu oder das unterdrückte Kleinbürgertum vertreten (in Frankreich der Rassemblement National und France Insoumise, in Deutschland die AfD und in den USA Donald Trump), verdächtigt werden, mit Putin zu sympathisieren, ist soziologisch betrachtet normal, wenn man so sagen kann. Die herrschenden Eliten haben Angst, die unteren Schichten der Gesellschaft könnten sich Richtung Russland bewegen, dessen autoritär-demokratische Werte einem charakteristischen Zug der westlichen Populisten nicht unähnlich sind.
- Dass die liberalen Oligarchien wirtschaftliche Sanktionen als Mittel der Kriegsführung akzeptiert haben, wird leichter verständlich: Es sind die unteren Schichten der westlichen Gesellschaften, die unter Inflation und sinkendem Lebensstandard am meisten leiden.
- Die chaotische Funktionsweise liberaler Oligarchien bringt diplomatisch inkompetente Eliten hervor und damit massive Fehler in der Bewältigung des Konflikts mit Russland oder China. Diese strukturelle Dysfunktion verdient es, dass wir uns ein wenig mit ihr beschäftigen.
Würden wir erwarten, dass ein solches System harmonisch und natürlich funktionieren könnte, lägen wir ziemlich falsch. Die Menschen bleiben alphabetisiert, und die Grundlage des allgemeinen Wahlrechts wird zwar von der neuen Bildungsschicht überlagert, ist aber immer noch lebendig. Die oligarchische Dysfunktion der liberalen Demokratien muss also geordnet und kontrolliert werden.
Was bedeutet das? Ganz einfach, dass, obwohl die Wahlen weiterbestehen, das Volk von der wirtschaftlichen Verwaltung und der Verteilung des Wohlstands ferngehalten werden muss, mit einem Wort: getäuscht. Für die politischen Klassen bedeutet dies viel Arbeit, wenn nicht sogar die Arbeit, der sie sich vornehmlich widmen. So kommt es zur Hysterisierung rassistischer oder ethnischer Probleme und zum wirkungslosen Geschwätz über gleichwohl wichtige Themen: Umweltschutz, die Stellung der Frauen oder globale Erwärmung.
All dies steht in einem negativen Verhältnis zur Geopolitik, zur Diplomatie und zum Krieg. Völlig in Beschlag genommen durch ihre neue Beschäftigung – Wahlen zu gewinnen, die zwar nichts anderes mehr sind als Theaterstücke, die aber dennoch, wie das wahre Theater, spezifische Kompetenzen und Einsatz erfordern –, haben die Mitglieder der politischen Klassen im Westen nicht mehr die Zeit, sich im Umgang mit internationalen Beziehungen zu üben. So betreten sie die große Weltbühne ohne jegliche notwendigen Grundkenntnisse.
Schlimmer noch: Sie sind daran gewohnt, zu Hause über die weniger Gebildeten zu triumphieren, zwar mühsam, aber meistens mit Erfolg (denn das ist ihr Job), fühlen sich dadurch in ihrer intrinsischen Überlegenheit bestätigt und finden sich nun gegenüber echten Gegnern wieder, die sie kaum beeindrucken können und die ihrerseits die Zeit hatten, über die Welt nachzudenken und zugegebenermaßen keine solche Energie in die Vorbereitung der russischen Wahlen stecken mussten oder in die internen Kräfteverhältnisse der chinesischen Kommunistischen Partei.
Leicht gekürzter Auszug aus:
Emmanuel Todd, Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Westend Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 352 Seiten, 28,00 €.
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Ich habe das Buch gelesen. Vieles ist richtig und gut analysiert undf aufbereitet. das Buch ist auch verständlich geschrieben. Man kann es als Bereicherung einstufen, weil es auch die Realität und bestimmte Hintergründe widerspiegelt. Nicht in allem, was in diesem Buch steht, würde ich mitgehen und das so unterschreiben. Aber das ist vielleicht Ansichtssache, vielleicht aus französischer Sicht so zu emfinden. Aus deutscher Sicht eher nicht. Teilweise hat die Realität manche Einschätzung überholt.
Laber, Laber, Laber?
„Das demokratische Ideal reichte zwar nicht bis zum Traum einer perfekten Gleichheit aller Bürger,“
Die am nächsten an der Gleichheit dran sind, sind für mich die Schweizer Bürger.
Ich kann gar nicht alles beschreiben, was ich und meine Mitbürger alles nicht bekommen hätten, wenn man uns gefragt hätte.
„und bei einem Volk, das nicht mehr vertreten werden will.“ Ich weiß nicht recht. Es ist in meinen Augen so, dass sich bei uns der Rechtsstaat mit dem Gewaltmonopol beim Staat sehr verinnerlicht hat. Wir gehen wählen, um unseren Willen kundzutun. Wer dagegen unseren Staat zerstören will, sieht zu, dass der beides ausnutzt. Und wie stark dieser Zerstörungswille ist, sieht man m. E. an den „friedlichen“ Demos und an der Gewalt von Aktivisten. Aber der Grundstein für diese Zerstörung ist in meinen Augen ein kaputtes Bidlungssyystem. „Die Konservativen“ haben einen Kompromiss nach dem anderen geschlossen, anstatt zu überlegen, welche Maßnahmen… Mehr
Karaganow:
„Wenn die deutschen Politiker vergessen haben wie die Hölle aussieht, wir können es ihnen gerne zeigen“❗
Liberale Oligarchen sind eine seltene Spezies, selten wie wohlwollende Diktatoren. Das Konstrukt der autoritären Demokratie kann ich hingegen nachvollziehen, wenn die Bevölkerung ihrer Sicherheit einen höheren Stellenwert beimisst, als ihrer Freiheit.
Wobei Todd die vorgeblich liberalen Merkmale westlicher Gesellschaften, also Diskriminierungsfreiheit und sexuelle Freizügigkeit, korrekt als Ablenkungsmanöver beziehungsweise staatlich geförderte Hysterie einstuft.
Scheint ein interessantes Buch zu sein. Aber gibt es für uns eine andere Lösung, als unseren von Oligarchen bestellten Täuschern schleunigst zu entfliehen?
Liberal ist kein Identbegriff von wohlwollend. Der Inhaber einer Spinnerei in Manchester Anno 1850 war liberal, aber sicher nicht wohlwollend.
Zwischen 1945 und 1990 hat Politik für Mittelschicht und Mittelstand mehr Nutzen als Schaden produziert. Egoistisch waren Parteien und Politiker auch damals schon, aber der Nutzen war da. Nach 1990 immer mehr Egoismus und immer mehr Schadenstiftung.
Politik hat die Existenzgrundlage von Mittelschicht und Mittelstand inzwischen systematisch und dauerhaft zerstört. Das sind die Früchte „unserer“ Demokraten.
Geht auch kürzer: Die machtversessenen Egoisten verachten das Volk, sie beuten es aus und sie belügen und betrügen es. Ja, sie sind bereit, das eigene Volk untergehen zu lassen, ja, auszutauschen. Da entlarvt sich das Bigotte als bloße Idiotie!
Wenn es nur die Geopolitik wäre, die die da oben nicht verstehen. Die sind in jeder Hinsicht verstrahlt, außer in der Textgeschwindigkeit.
P.s., das Buch kann ich empfehlen, der Mann ist völlig unorthodox und voller origineller Gedanken.
Danke.
Eine Meinung zu dem Buch „Traurige Moderne“: Wer hofft, die Welt mit diesem Buch etwas besser verstehen zu können, wird enttäuscht. Nicht überzeugender Versuch, die Menschheitsgeschichte mit innerfamiliären Beziehungen zu erklären. Besser bei K. Marx: „Ökonomische Beziehungen als Triebkrafte menschlicher Entwicklung“. Und F. Engels: „Über den Ursprung der Familie“. Beides fast 200 Jahre alt, deshalb habe ich auf neue gesellschftswissenschaftliche Erkenntnisse gehofft … aber keine gefunden!
Nein, nicht der Westen, es ist der deutsche Westen der niedergegangen ist. Gegen ideologische Dummheit ist eben kein Kraut gewaschen.
Die 30 % mit akademischer Bildung sind aber eine teilweise ziemlich dysfunktionale Massenelite. So erinnere ich mich, vor etlichen Jahren einmal gelesen zu haben, dass in Österreich ca. 50 % aller Universitätsabsolventen im Staatsdienst landen. Das wird in anderen Ländern Europas nicht anders sein. Übersetzt heißt das, die akademische Überproduktion an Absolventen, viele davon von Studienrichtungen, für die absolut kein Bedarf besteht, wird lebenslang von den Steuerzahlern alimentiert. Wenn, was abzusehen ist, auch Migrantenlobbies ihre nachwachsenden Kohorten auf bequemen und stressfreien Posten unterbringen werden wollen, wird es auch in diesem sehr systemtreuen Milieu auf Grund der Überforderung der Ökonomie zum… Mehr