Was sagt uns die Bibel über unsere Existenz? Und was liest Peterson aus der Beschaffenheit unserer Welt in die Bibel hinein? Dass Experten, etwa Soziologen oder Psychologen, der Bibel die Prämissen ihres Fachs aufzwingen, ist nichts Neues. Bei Peterson fällt dieser Versuch um einiges sympathischer, frischer und ja, demütiger aus.
Von der Bibel zu Harry Potter und weiter zum babylonischen Schöpfungsmythos; über Breaking Bad und Pinocchio wieder zurück zum Alten Testament: Wer in Jordan B. Petersons jüngstem Werk eine stringente Erzählung sucht, wird mit Sicherheit eine herbe Enttäuschung erleben. Eklektisch und mäandernd, wie es für ihn zum typischen Habitus geworden ist, erzählt Peterson in neun Kapiteln Kernepisoden des Alten Testaments nach und analysiert sie in unterschiedlicher Weise. Mal psychologisch, mal politisch, mal philosophisch oder kulturgeschichtlich, vor allem aber fast durchweg assoziativ und intuitiv entfaltet Peterson sein Weltbild an den biblischen Geschichten entlang.
Das ist anstrengend, aber auch spannend – und lohnend! Der Leser wird Zeuge einer Annäherung, die zuweilen die Bibel ernster nimmt, als man es von manchen Theologen gewohnt ist. Peterson nimmt zum Beispiel den in der Bibel zentralen, in der modernen Theologie aber vielfach kritisierten Begriff des „Opfers“ auf und an, ohne sich an theologischen Diskursen zu stören.
Diese Unbefangenheit ist Stärke und Schwachpunkt zugleich: Begrifflichkeiten, bei denen unklar bleibt, ob sie gemäß ihrer theologischen Definition verwendet werden, offensichtliche Projektionen und Fehldeutungen und der Hang, in den Text hinein- statt aus dem Text herauszulesen, um ihn in sein Weltbild zu integrieren, machen ersichtlich, dass es sich nicht um theologische Lektüre handelt – und über weite Strecken auch nicht um eine genuin religiöse oder spirituelle, wenn auch beide Parameter eine Rolle spielen.
Ein Buch für keinen – ein Buch für alle?
Dies führt zur drängenden Frage, an wen sich dieses Buch eigentlich richtet. Der Christ wird zwar wohltuend feststellen, dass seine oft als überholt und archaisch diffamierte Heilige Schrift hochaktuell ist, und auch Nichtchristen Wertvolles zu sagen hat. Andererseits wird er sich an der unzuverlässigen Verwendung von Begriffen stoßen, und sich unwillkürlich fragen, ob Peterson über den jüdisch-christlichen, oder über seinen Privatgott spricht.
Die Assoziationen und Andeutungen sind so zahlreich, dass man sie kaum überblicken kann. Daher ist durchaus zu empfehlen, die Kapitel auch für sich stehend zu begreifen – zumal sich eine gewisse Redundanz durch das Werk zieht, die bereits im Titel angelegt ist: Gott – Das Ringen mit einem, der über allem steht, oder im Englischen: We Who Wrestle with God: Perceptions of the Divine. Peterson zeichnet als roten Faden die Wahrnehmung des Göttlichen im biblischen Text nach, und so ergeben sich Wiederholungen und (Rück-)Verweise notwendigerweise und zwanglos.
Ein Buch, das herausfordert und aneckt
Petersons Buch ist im besten Sinne irritierend: Wie bereits dargelegt, ist es weder explizit an Christen noch an Nichtchristen gerichtet. Auch für Beteiligte am „Culture War“, die in Peterson eine Gallionsfigur gefunden haben, die ihnen in der Auseinandersetzung mit der woken Ideologie patente Argumente an die Hand gibt, ist es nur in Maßen nützlich. Zwar weist Peterson verschiedentlich auf ideologische Irrtümer unserer Zeit hin, aber ob man seine Lesart der Heiligen Schrift als autoritative Begründung für die Anliegen der antiwoken Bewegungen heranziehen kann, ist fraglich.
Diese Irritation löst sich auf, wenn man das Buch nicht als zielgruppenorientiert versteht, sondern als Einladung, Peterson auf seiner Reise zu begleiten, egal, ob das Ergebnis, zu dem er kommt, den eigenen Ansichten entspricht. Allein das ist in unserer an Echokammern gewöhnten Welt mittlerweile ein Wagnis, das für den Leser immer wieder neue Einsichten bereithält.
Was sagt uns das Bibelwort über unsere Existenz? Und was liest Peterson aus der Beschaffenheit unserer Welt in die Bibel hinein? Dass Experten, etwa Soziologen oder Psychologen, der Bibel die Prämissen ihres Fachs aufzwingen, ist nichts Neues. Immer wieder gibt es Versuche, sich den heiligen Schriften des Juden- und Christentums in dieser Weise zu nähern.
Allerdings wirken jene Passagen, in denen er sich auf ihm vertrauten Terrain bewegt, zwangsläufig auch auf den Unkundigen fachlich deutlich klarer als jene, wo es philosophisch oder theologisch zugeht. In letzterem Fall werden Behauptungen ohne Argumentation und einigermaßen wahllos hingestreut.
So wirkt etwa der Versuch der Parallelsetzung des biblischen und des babylonischen Schöpfungsmythos als Ausdruck derselben denkerischen Bewegung fast grotesk: Dass sich das Alte Testament in seinen Schöpfungserzählungen in bahnbrechender Weise von orientalischen Mythen und deren Welt-, Gottes-, und Menschenbild abgrenzt, gehört zum theologisch-religiösen Grundwissen. Peterson aber möchte aufgrund seiner Überzeugungen in Bezug auf ein kollektives Unbewusstes eine Parallelität konstruieren, und ignoriert dafür missliebige Fakten – was dem unbedarften Leser aufgrund des fragmentarischen Duktus nicht auffallen dürfte.
Sobald er aus seinem psychologischen Wissen schöpft, noch stärker da, wo er sich ganz in den assoziativ-sprunghaften Zugang fallen lässt, entstehen poetische Panoramen und mitunter verblüffende Perspektiven : Zu Beginn etwa schafft Peterson mit seinen Erörterungen zum Zusammenhang zwischen der Metamorphose eines Schmetterlings, der Psyche (Griechisch: Schmetterling) und der Entwicklung und Vollendung des Propheten Elia ein tief berührendes Bild, in dem der Leser staunend und andächtig von einer Assoziation zur nächsten getragen wird.
Und wenn er die Vergötzung der Technik im alten Babylon verknüpft mit der biblischen Bezeichnung Babels als „Hure Babylon“, und dies mit der postmodernen zerstörerischen, ja satanischen Vereinigung von digitaler Technik und Pornographie verbindet, dann ist das sicher keine belastbare Exegese, und auch nicht so gemeint: Das Aufscheinen von Parallelen, Zusammenhängen und – aus Petersons Sicht keinesfalls zufälligen – Entsprechungen ist aber außerordentlich anregend.
Schade, dass sich Peterson dem nicht gänzlich ausliefert, sondern immer wieder die Kontrolle über sein Narrativ übernimmt.
Narrativ oder Wahrheit?
Denn um das Narrativ geht es ihm: Darum, eine Menschheitserzählung nachzuzeichnen, die die Welt von „dem, was ist, zu dem, was sein sollte – vom Fakt zum Akt“ führt: Peterson führt aus, dass wir nie bloße Fakten wahrnehmen, sondern diese immer schon im Prozess der Wahrnehmung selbst in einen erzählerischen Kontext einbinden, um sie einordnen zu können. Die Geschichten des Alten Testaments sind für ihn solche Einordnungen der Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Auch hier scheut sich Peterson nicht, Irritation zu erzeugen. Denn diese Unbestimmtheit führt an manchen Stellen zu einem beinahe wissenschafts- und faktenfeindlichen Ton, sobald die Wahrheitsfrage deutlich aufscheint – so, als verlöre rationales Denken an dieser Stelle seine Relevanz.
Ein Buch, das Anregungen bietet, nicht Antworten
Während das Buch also zahlreiche Anregungen bietet, um sich auf Wahrheitssuche zu begeben, stellt sich Peterson selbst der Wahrheitsfrage nur unzureichend. Er umgeht ein Bekenntnis zur Faktizität der geschilderten Geschichten, und fokussiert sich stattdessen auf die Realität, die sie hervorbringen:
Zum Beispiel hat für Peterson Vorrang, dass die biblischen Narrative den Westen der Freiheits- und Menschenrechte hervorgebracht haben – in einer radikal säkularen Welt bereits eine herausfordernde Einsicht – nicht aber, ob das, was diese Narrative aussagen, wahr ist. Mehr noch, Peterson stellt die Möglichkeit einer „Aussage an sich“ in Frage, als wolle er sich grundsätzlich dagegen verwahren: Es bleibt eine nagende Ungewissheit, ob er dies der Begrenzung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zuordnet, oder ob er letztlich alles, auch die Wirklichkeit, für ein Narrativ hält.
So unbefriedigend dies sein mag, es beweist, dass Peterson tatsächlich ein Ringender ist. Er lässt uns Her und Hin eines Geistes beobachten, dessen intellektuelles Überlegenheitsgefühl den letzten Schritt einer Unterordnung unter mehr als nur ein Narrativ (noch) verbietet: Über die Deklarierung als Erzählung behält er sich eine gewisse Hoheit über die „Wahrheit“ vor. Trotz seiner Appelle an den Leser, alles dem Höchsten zu „opfern“, vermag er selbst dieses Opfer nicht zu bringen.
Ist dieses Ringen ein Ringen mit Gott, oder ein Ringen mit sich selbst? Am sinnvollsten wird sein, diese Frage unbeantwortet zu lassen, und sich schlicht einzulassen auf die Zerrissenheit zwischen Anspruch, Wollen und Vermögen, an der Jordan B. Peterson uns teilhaben lässt.
Jordan B. Peterson, Gott. Das Ringen mit einem, der über allem steht. Fontis Verlag, Hardcover, 656 Seiten, 34,90 €.
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Wir denken viel zu wenig über Gott nach. Dieses Buch erklärt uns auch nicht, was der Liebe Gott heute zum Frühstück hatte oder was er heute zum Abendessen essen wird, wenn es denn Tageszeiten bei ihm gibt.
Aber solange wir über Gott nachdenken, solange sind wir nicht verloren.