Ein ebenso zeitgemäßes wie unzeitiges Buch: »Abendland«

Paul Badde nimmt uns mit zu den Schauplätzen der Christianisierung und erklärt anhand historischer Figuren und Ereignisse, was Europa einmal zusammenhielt. Sein spannender Schmöker ist auch als ein entschlossenes „Basta!“ gegenüber kirchensteuergenerierten Theologen zu verstehen, die die katholische Kirche für nicht mehr „systemrelevant“ halten. Von Matthias Matussek

Mit Paul Baddes „Abendland“ in den Händen können, nein, müssen wir feststellen, dass der katholische Glaube eine Sache der Romantik ist. Chesterton, der britische „Apostel des gesunden Menschenverstandes“ schwärmte von Feen und Märchen und fand sie im Glauben. Und nichts beschreibt das Erkenntnisverfahren der Seele wie jene Zeilen Eichendorffs, in denen der katholische Adlige reimte: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“

Noch ein anderer reitet da ins Bild: der junge und schöne, der schwärmerisch liebende und todessüchtige Novalis, der Jim Morrison dieser Goldenen Horde der deutschen Romantiker um 1800, die über die gesamte damalige Geisteswelt ausstrahlte und bis heute nachwirkt mit diesem spezifischen „deutschen Gefühl“, wie es Rüdiger Safranski in seiner Monografie nannte.

Der lockige Jüngling auf dem Pferd, Novalis, und seine Schrift „Die Christenheit oder Europa“, und sie beginnt mit den Zeilen: „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.“

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Und dennoch, Badde korrigiert Novalis rigoros wie ein pedantischer Geschichtslehrer schon in den ersten Sätzen seines Buches. Nicht die Christenheit ist die Mutter des Abendlandes, ruft er dem schwäbischen Schwärmer zu, also nicht der Glaube an Jesus Christus in seiner lateinischen, griechischen oder orientalischen Ausfaltung, sondern – viel aufreizender: „Seele und Ferment des Abendlandes war viele Jahrhunderte, da beißt keine Maus den Faden ab, die römisch-katholische Kirche mit der Schlüsselgewalt ihrer Päpste.“

In dieses Brausen hin zum Paradies, in diesen Strom stellt sich Paul Badde mit seinem Buch, und schon der Klang des Wortes allein – Abendland! – illuminiert unsere Fantasie so schlicht und schön wie die in der Ferne rot aufleuchtenden gotischen Kathedralen auf dem Gemälde von Jan van Eyck, die das Buchcover zieren, und von denen Badde sagt, dass das Abendland von Westen so weit in den Osten reicht, wie diese Kathedralen in den Himmel ragen.

Badde, einst Geschichtslehrer, dann, ein für alle außer für Katholiken wunderlicher Ausfallschritt: „Pardon“-Redakteur, schließlich lange Jahre Reporter des FAZ-Magazins, danach Korrespondent der „WELT“ in Jerusalem und Rom, gleichzeitig Herausgeber des „Vatican Magazins“ (mit dem Untertitel: „Schönheit und Drama der Weltkirche“), einem Zentralorgan der Rom-treuen Intelligenz.

In Rom lebt er jetzt noch, inzwischen als Korrespondent des US-amerikanischen Senders EWTN (Eternal Word Television Network), der auch ein deutschsprachiges Programm ausstrahlt. In seinem „Abendland“ präsentiert er von dort aus die Schauplätze, an denen dieser geistige Kontinent aufblühte und weitergereicht wurde, mit einer Vielzahl seiner Hotspots und Konfliktpunkte.

Er präsentiert es in architektonischer Form, als Himmelsbau mit unzähligen Kammern und Zimmern und Innenhöfen, den Grundriss entlehnt er dem himmlischen Jerusalem aus der Offenbarung des Johannes. Selbstverständlich stellt das Coenaculum den ersten Raum dar: der Saal des letzten Abendmahls, der noch heute neben dem Komplex der Dormitio-Abtei der deutschen Benediktiner in Jerusalem betreten werden kann – rötliche Bodenquader, Säulen mit gotischen Kuppelstreben, spärliches Licht, schon durch Augenschein für katholische Romantiker ist klar: hier brach Jesus das Brot, hier erschien den verängstigten Jüngern zu Pfingsten der Heilige Geist.

Nächster Schauplatz ist die Palasthalle des Kaisers Konstantin in Nicäa um 325, mit Teppichen ausgelegt und besetzt von 300 Bischöfen, die sich auf ein verbindliches und verbindendes Glaubensbekenntnis in der zersplitterten Frühphase des Christentums zu einigen haben.

Dann schaut Aurelius Augustinus aus einem verbarrikadierten Raum im heute algerischen Hippo Regio auf die Flotte der belagernden Vandalen über die Stadtmauer hinab, der Kirchenlehrer, der in den Kämpfen mit den Häretikern die große erste Autobiografie der Weltliteratur verfasste, die Innenschau der „Confessiones“. „Du hast uns zu dir hin geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.“

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Wir springen zum heiligen Benedikt von Nursia, 475 nach Christus, der das Meister-Schüler-Verhältnis aus der ein Jahr zuvor geschlossenen antiken Athener Akademie übernahm und deren heidnische Gelehrsamkeit, eine erste, Europa überstrahlende Aufklärung, mit Ordensregeln, die als durchaus praktische Lebensregeln noch heute gelten könnten, „ora et labora“, Arbeit und Gesänge, Buchkunst und Gebete.

Wieder ein paar Sprünge – Karl Martells Sieg über den kriegerischen Islam in Poitier 732, die Königssalbung Pippins 751, zum ersten Mal kommt hier „Europa“ zusammen, dann die wundervoll umgebaute Moschee aus den hundert Säulen in Cordoba zu einer Basilika nach der Reconquista – hin zu dieser Kammer in einem schlichten Bauernhaus in Domrémy, wo das Mädchen Jeanne Stimmen hört und in deren Bann das französische Heer zum Sieg über die Briten führt.

Wir müssen das Parlament der Heiligen unter Cromwell, die Selbstkrönung Napoleons in Notre Dame, die perversen Lichtdome der Nazis und vieles mehr überspringen, um die im zweiten Teil versammelten poetisch und theologisch durchglühten Reportage-Essays zumindest zu erwähnen. Glücksfälle eines geradezu filmreif schreibenden Reporters, in dessen Notizblock die „Welt zu singen anhebt“.

So ist dieser über fast 500 Seiten lang spannende Schmöker auch als ein entschlossenes „Basta!“ zu verstehen, das allen kirchensteuergenerierten Theologen entgegengerufen wird, die die katholische Kirche inzwischen und offenkundig für nicht mehr „systemrelevant“ halten.

Unter den beiden Motti, die Badde dem Buch als Eichendorffsche Zauberworte wie einen Notenschlüssel voranstellt, hat mich besonders das traumwandlerische von Karl Valentin fasziniert: „Ich weiß nicht mehr genau, war es gestern oder war’s oben im vierten Stock.“

In der Tiefe aber scheint mir dieses ebenso zeitgemäße wie unzeitige Buch – ohne jede Erwähnung seines Namens – einem geschichtsvergessenen Kirchenfürsten wie Reinhard Kardinal Marx gewidmet, dem ehemaligen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, der auf dem Tempelberg in Jerusalem mit seinem lutherischen Amtskollegen das Kreuz ablegt, weil es an das Marterholz erinnert, an dem – wie dort jeder Jude oder Muslim weiß – einen Hügel weiter westlich Jesus von Nazareth zu Tode kam, und der als todesmutiger Vorreiter der neukatholischen „Cancel-Culture“ zwischen Görlitz und Aachen sogar den Begriff des christlichen Abendlandes abschaffen wollte, weil es angeblich ein „ausgrenzender Begriff“ sei. Ihm und allen anderen Schläfern seiner Art und Gattung setzt Badde in dieser Confessio voller Zauber ein einziges „Ha!“ entgegen – und auf vielen Seiten auch ein herzliches „Haha“.

Paul Badde, Abendland. Die Geschichte einer Sehnsucht. Fe-Medienverlag, 464 Seiten, 17,80 €


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Kommentare ( 3 )

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ossiosser
3 Jahre her

Fulminante Rezension von M.M. !
Auch wenn es dem Zeitgeist nicht passt:
„Seele und Ferment des Abendlandes war viele Jahrhunderte, da beißt keine Maus den Faden ab, die römisch-katholische Kirche mit der Schlüsselgewalt ihrer Päpste.“ (Paul Badde, „Abendland“)

Dieter Kief
3 Jahre her

Wer Novalis für einen Schwaben hält denkt vermutlich auch, Roland Tichy sei ein Preuße? -Oder doch aus „Poitier“, wie es oben ein wenig irreführend heißt? – Wo Ordensregeln eine heidnisch-aufgeklärte Gelehrsamkeit verbürgen? – 1 kleine Frage: Hat das da oben wer redigiert? Nö? – Hätte man können. – Nach den Regeln des redlichen abendländischen Journalismus vielleicht sogar sollen. – Aber ich will nicht ordentlicher als der heilige Benedikt selber sein. Schließlich führt ein direkter Weg von der sexualfeindlichen Ordnung der Orden in die Ordensburgen und Zwangslager der Marxistischen Internationalsozialisten. – Sappradie, ’s geht emt alles rumadum.

Frank v Broeckel
3 Jahre her

Das Christentum zumindest in Europa ist letztendlich der Industrialisierung und des daraus resultierenden kapitalistischen Wirtschaftsmodell zum Opfer gefallen!

Der westliche Kapitalismus ist in Wahrheit aufgrund der daraus entstandenen fortgesetzten Kinderlosigkeit der eigenen Bevölkerung dauerhaft und auch vollständig gescheitert!