Eigentlich könnten die Deutschen Freiheit. Vorbilder gab es.

Der Historiker Gerd Habermann stellt in spannenden Beispielen die leider vielfach verdrängten Preziosen freiheitlichen Denkens und Handelns in der deutschen Geschichte dar – die sich auch als Vorbilder für Gegenwart und Zukunft eigneten.

Kann das Volk der Dichter und Denker Freiheit? Kann es Rationalität? Kann es souveräne Individualität und Bürgerlichkeit? Kann es bürgerliche Revolte? Kann dieses Volk Liberalismus, auch wenn unter deutschen politischen „Denkern“ die Sozialisten und Kommunisten hervorstechen: Engels, Marx, Liebknecht, Rosa Luxemburg und ihre Epigonen.

Ja, ideell kann dieses Volk „Liberalismus“. Die Aufklärung mit einem Immanuel Kant sowie die Klassik mit Wieland, Herder, Goethe (siehe seinen „Götz von Berlichingen“, „Egmont“ und „Faust“), Schiller (siehe seinen „Don Carlos“ und „Wilhelm Tell“), ferner mit Wilhelm von Humboldt waren Epochen eines liberalen Habitus, vor allem Epochen liberal programmatischen Denkens. Und auch real-politisch konnten die Deutschen Freiheit und Liberalismus – wenn auch nur gelegentlich. In der deutschen Geschichtsschreibung, die Bibliotheken füllt, kommt deutsche Liberalität zu kurz. Es dominieren die deutschen Diktaturen, der Liberalenfresser Bismarck, der „Fürstenknecht“ Luther, auf den sich die „terra oboedientiae“ (das brav gehorsame Land) gründet usw.

Martin Luther in Worms
»Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.«
Dennoch können die Deutschen Liberalität und Freiheit. Man muss daran erinnern. Es könnte dies helfen, die mittlerweile semi-sozialistische Bundesrepublik mit ihrer hohen Staatsquote, ihrem wirtschaftlichen Protektionismus, ihren gouvernantenhaft ins Private ausgreifenden Ge- und Verboten, ihren Denk- und Gesinnungsdiktaten sowie ihren „Cancel-Culture“- und „No-Platforming“-Auswüchsen auf den Pfad liberaler Tugend zurückzubringen.

Die Lektüre eines soeben neu erschienenen Buches wäre hier wahrlich hilfreich – auch für eine in Sachen historischer Bildung nur sehr begrenzt unterkellerte „hohe“ Politik. Gerd Habermann hat es geschrieben. Der Titel lautet: „Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart.“ Es ist ein anspruchsvolles und dennoch gut zu lesendes Buch von 288 Seiten. Dieser Umfang ist für ein Werk dieses Anspruchs kein üppiges Volumen. Doch es ist gut, dass die Darstellungen überschaubar bleiben. Wer die Lektüre untermauern möchte, der kann das anhand der über 600 homogen eingearbeiteten Quellenangaben problemlos tun.

Für Habermann sind die Voraussetzungen eines deutschen Liberalismus historisch in reichem Maße gegeben. Er beschreibt unter anderem: das Freiheitsbewusstsein unabhängiger Bauern und Bürger, genossenschaftliche Bauernrepubliken, 3000 stolze konföderierte Städte (zum Beispiel Stendal, Nürnberg, Schwäbisch-Hall sowie die Hanse), um Wohltaten für ihre Bürger konkurrierende Kleinstaaten mit liberal „aufgeklärten“ Herrschern. Jeder Libertäre wird staunend zur Kenntnis nehmen, dass es sogar unabhängige Dörfer, „Frauenstaaten“, ja freie Bauernhöfe, auch Hunderte von kleinen Ritterstaaten gab, dazu viele selbständige Bistümer, Klöster und Abteien, schreibt Habermann. Hier kann er dem Föderalismus und der in Misskredit geratenen Kleinstaaterei sehr viel abgewinnen. Ja mehr noch: Habermanns durchgängiger Leitgedanke heißt Dezentralisation bzw. Polyzentrismus. Das fördere, anders als der paternalistische Wohlfahrtsstaat, den Wettbewerb der Ideen und der Kreativität – bis hinein in die idealerweise eigenständige kommunale Ebene. Zentralisation pur dagegen verkommt schnell zum Machtstaat, mit dem die Deutschen kein Glück hatten. Mit Polyzentrismus meint Habermann im Übrigen vor allem die deutsche Sprach- und Kulturnation, die sich ja im Laufe der Jahrhunderte fortentwickelt hat mit Deutschland als Kernland sowie mit Österreich, der Schweiz, Lichtenstein, Luxemburg, zu Teilen mit Südtirol und der deutschsprachigen Minderheit in Belgien.

Habermann beginnt mit einer Klassifikation von Freiheitstypen. Typ I ist eine Freiheit, die den Menschen aus seiner instrumentalen Rolle befreit und ihm die Würde zurückgibt. Typ II ist die Garantie einer inneren und äußeren Freiheit durch ein Gemeinwesen. Typ III ist die Freiheit der kollektiven Selbstbestimmung. Und Typ IV ist die Freiheit von Mangel und Not.

Die Erfindung der sozialen Marktwirtschaft
Ludwig Erhard - Der Exot im Kanzleramt
Diese Typen von Freiheit dekliniert Habermann in sehr anschaulicher und historisch fundierter Weise durch die Epochen deutscher Geschichte hindurch. Beginnend mit den Germanen und ihrem Befreier Arminius über Karl den Großen, die Ottonen, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, den Widerstand gegen Rom und Papst, ferner die Bauernaufstände, bei denen Luther als Advokat der Obrigkeit eine eigenwillige Rolle spielte. Preußen erscheint bei Habermann in einem anderen, zu Recht auch positiven Licht. Denn zu Unrecht wird bis hinein in den Geschichtsunterricht ein negatives Preußenbild vermittelt – ohne auf dessen aufgeklärten Absolutismus, den „Philosophenkönig“ Friedrich II. und die Reformen nach 1806/07 zu rekurrieren. Was den Wirtschaftsliberalismus betrifft, so ist Habermann überzeugt: „Die Epoche vom Zolltarif 1818 bis zum Bismarcktarif 1879 war die wirtschaftliche freieste Epoche der deutschen Geschichte.“

Habermann fährt gegen all die illiberalen Entwicklungen deutscher Geschichte namhafte liberale Denker auf. Sein 14. Kapitel ist denn auch überschrieben mit „Wiedererwachen und neuer Kampf.“ Es wird an Ludwig von Mises, Wilhelm Röpke, vor allem an Friedrich August von Hayek und an den offenbar auch in der CDU längst vergessenen Ludwig Erhard erinnert. Hoffnung macht Habermann, indem er an den Widerstand im Dritten Reich, an den Aufstand in der DDR vom 17. Juni 1953 und an das „annus mirabilis 1989“ erinnert, mit dem eine deutsche Diktatur endete.

Alles in allem: Habermann widmet sich in seinem mit einem attraktiven Cover illustrierten Werk den leider vielfach verdrängten oder auch angeblich politisch inkorrekten Preziosen freiheitlichen Denkens und Handelns in deutscher Geschichte. Hier wären Vorbilder zu finden: für heute und für die Zukunft – vielleicht auch für eine (neue?) Partei, die sich wirklich dem Liberalismus widmet und nicht im Schielen auf Kabinettsposten dem Mainstream unterwirft.

Zum Autor: Professor Dr. Gerd Habermann ist Initiator und geschäftsführender Vorstand der Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft. Seit 2003 ist er Honorarprofessor an der Universität Potsdam. Zu seinen bislang wichtigsten Publikationen gehören: „Der Wohlfahrtsstaat. Die Geschichte eines Irrwegs“ (3. Aufl. 2013) und „Freiheit oder Knechtschaft? Ein Handlexikon für liberale Streiter“ (2011).

Gerd Habermann, Freiheit in Deutschland. Geschichte und Gegenwart. Lau-Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 24,00 €


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Kommentare ( 12 )

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giesemann
3 Jahre her

Unfrei ist man dann, wenn man erpressbar ist. Als unser Sohn geboren wurde, hat meine Firma bereits am Tag darauf den Druck auf mich erhöht. Spürbar. Da half nur ein Gegenmittel: Ich habe die erpresst mit der Androhung einer Strafanzeige wegen Betrugs an mir und anderen Mitarbeitern. Da hatte doch tatsächlich die Zentrale ein Produkt (ein Antibiotikum) in meinem Gebiet, für das ich Umsatzverantwortung trug, an eine Versorgerapotheke verkauft – zu Konditionen, die man mir strikt verboten hatte. Die Differenz strich der Apotheker ein, mein Umsatz war natürlich geschmälert – und die hatten ein weiteres Erpressungsinstrument gegen mich in der… Mehr

Wolf Koebele
3 Jahre her

Darf ich an das Buch eines Freundes erinnern, das schon zehn Jahre früher (auch) diese Gedanken aufnimmt: Kaevan Gazdar, Zwischen Dichtern und Denkern, Richtern und Henkern. Auf der Suche nach der deutschen Identität. Mit einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel, München (Olzog) 2010. Der Blick eines nicht in Deutschland Sozialisierten mag in mancherlei Hinsicht geeignet sein, sich der freiheitlichen Geschichte zu vergewissern.

thinkSelf
3 Jahre her

Da möchte ich dem Autor mal grundsätzlich widersprechen. Nicht nur die Deutschen können „Freiheit“ nicht, sondern Menschen können „Freiheit“ nicht. Das letzte Jahr war nichts anderes als ein schlagender Beweis für diese Tatsache. Es ist immer nur einer kleinen Minderheit von etwa 5-10% gegeben. Der Rest ist dazu wahrscheinlich schon biologisch gar nicht in der Lage (da fehlen die entsprechenden Schaltkreise). Menschen können auch „Realitätsbezug“ nicht, sondern leben in einer Wahnwelt deren Inhalte von der Peer Group und von völlig kritiklos als „Autoritäten“ wahrgenommenen Personen definiert werden. Die Widersprüche mit der Realität können da grenzenlos sein. Das stört überhaupt nicht.… Mehr

Ben Goldstein
3 Jahre her
Antworten an  thinkSelf

Maggie Thatcher hat sich von unten nach oben geturnt. Ronald Reagan auch. Phillis Schlafly hat eine Verfassungsänderung für eine diffuse „Gleichheit der Geschlechter“ verhindert, obwohl die schon von vielen US-Staaten angenommen wurde. Es gab immer wieder diese Individuen. Das Individuum macht Geschichte. Bedenken Sie z.B., dass Maggie Thatcher gerade in den Bereichen Erfolg hatte, in denen alle Sowjetnachfolgerepubliken scheiterten. Es waren also keine Selbstläufer. Der Einsatz des Individuums entscheidet.

Peter Mueller
3 Jahre her
Antworten an  thinkSelf

Letztendlich ist es so, wie Sie sagen. Man muß sich nur ansehen, wieviele Menschen sich bereitwillig erpreßbar machen, indem sie sich in die Lohnsklaverei der abhängigen Beschäftigung begeben, sich ihr Leben lang einem Herrn unterwerfen und sich von ihm herumkommandieren lassen, anstatt selbst Verantwortung zu übernehmen und sich selbständig zu machen. Es ist ja so schön bequem, nicht selbst entscheiden zu müssen, nicht selbst akquirieren zu müssen, nicht selbst den Laden verwalten zu müssen, nicht selbst Ideen haben zu müssen usw. sondern nur Anweisungen auszuführen. Für mich wäre es unvorstellbar, mich einem anderen zu unterwerfen. Hatte ich in der Jugend… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Peter Mueller
Ralf Schweizer
3 Jahre her

Ich denke, dass die Frage nicht ganz korrekt gestellt ist, denn vor der Frage des Könnens steht immer die Frage des Wollens und dann die des Reifegrades für die Sache. Und hier kenne ich wenige, die die Freiheit in all ihren Facetten über den Staat als Kümmerer, Regler und Bevormunder stellen. Die Mehrheit will keine echte Freiheit in Deutschland, sie wird als Bedrohung empfunden. Nicht von ungefähr durfte unter dem letzten deutschen Führer Schillers Tell nicht mehr aufgeführt werden, weil darin ein Exempel für die Beseitigung eines Tyrannen statuiert wird und vielleicht auch gerade deswegen wird Schiller heute immer weniger… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Ralf Schweizer
Hairbert
3 Jahre her

Danke Herr Kraus, dass Sie auch die „Geschichte bemühen“, Freiheitsideale haben eben auch ihre Wurzeln.
Ein aufgrund nicht mehr zeitgemäßer Sprache sicher nicht einfacher Stoff, aber dafür mit zeitlosem Freiheits-Gedankengut: Max Stirners Hauptwerk ‘Der Einzige und sein Eigentum‘.

Last edited 3 Jahre her by Hairbert
Peter Mueller
3 Jahre her

Alles schön und gut und vieles richtig. Aber mit Sozialismus hat die aktuelle Situation so viel zu tun wie Timbuktu mit einer Marsmission. Dreh- und Angelpunkt jeder Sozialismustheorie ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Das ist eine derartige Binsenweisheit, daß man sie sogar im Duden nachlesen kann. Davon sind wir so weit entfern, wie noch nie. Oder haben Leute wie Jeff Bezos, Stephen Feinberg, Klaus Schwab oder George Soros angekündigt, ihr Privateigentum an PM zu verschenken? Das wäre mir neu. Tatsächlich geht es genau in die entgegengesetze Richtung: Man benutzt eine vorsätzlich verursachte Krise, um den Markt neu aufzuteilen, dabei den… Mehr

Last edited 3 Jahre her by Peter Mueller
Ben Goldstein
3 Jahre her
Antworten an  Peter Mueller

Ja, und die Branchenriesen sind wieder mit dem Staat verfilzt und Josef Ackermann durfte schon im Kanzleramt Geburtstag feiern. Damit sind dann die Produktionsmittel in staatlicher Hand, ergo vergesellschaftet, und es ist alles „gut“.

Peter Mueller
3 Jahre her
Antworten an  Ben Goldstein

Bitte informieren Sie sich über den Unterschied zwischen Filz und Eigentum. Danke.

Vogelfrei
3 Jahre her
Antworten an  Peter Mueller

Die Produktionsmittel sind faktisch in der Hand der politisch Machthabenden. Können sich die z.B. Anteilseigner der Autohersteller dagegen wehren, dass ihre Produktionsmittel aktuell entwertet werden? Sehen Sie. Können sich die Besitzer der Produktionsmittel in Deutschland dagegen wehren, dass sie die weltweit höchsten Energiepreise zu berappen haben? Sehen Sie. Können sie sich gegen ungezählte Gesetze und Bestimmungen wehren, mit denen sie gefesselt und ausgeplündert werden? Sehen Sie. Meines Wissens hat Schwab angekündigt, dass demnächst keiner mehr Eigentum haben wird. Wenn das kein Sozialismus ist.
Faschismus: war das nicht eine italienische Karnevalsveranstaltung zwischen den Kriegen?

rainer erich
3 Jahre her

Mag sein, dass „der Deutsche“ Freiheit „kann“, allerdings sind Extrapolationen wie hier immer problematisch. Zu fragen waere, ob der (juengere) Deutsche der Gegenwart Freiheit „kann“, so wie er nun mal (sozialisiert) ist. Und ob er Freiheit auch dann kann, wenn er vor lauter Angst, von oben“getriggert, nicht mehr denken und fuehlen kann, wenn er permanent von Affekte ueberrollt wird. Nicht zu vergessen ist, dass wir uns in einer sehr“ speziellen „Phase des Westens und dessen Schuld und der besonderen, nicht wiedergutzumachenden Schuld der Deutschen befinden, Phaenomene, die frueheren Gesellschaften eher fremd waren, einigen im Osten und Sueden auch heute noch… Mehr