Dostojewski. Ein Mann von gestern? Von wegen!

Am 11. November jährt sich der Geburtstag Dostojewskis zum 200. Mal. Sein Leben gleicht einer atemraubenden Achterbahnfahrt – wie diese temporeiche Biographie: Man beendet ihre Lektüre mit dem Gefühl neu geweckten Interesses an diesem Ausnahmeschriftsteller, mit neuer Leselust und Neugierde. Von Markus Günther

Es gehört zur typisch deutschen Genie-Romantik, sich einen großen Schriftsteller als verinnerlichten Künstler, eben als „Dichter und Denker“ vorzustellen, der schnöden Welt entrückt, auf geistigen Wolken schwebend, von der Unbill der Alltäglichkeiten verschont und nur im Innern kämpfend und leidend. Wie wenig passt dazu das Leben von Fjodor Dostojewski! Dass er mit beiden Beinen im Leben stand, dass ihm nichts Menschliches fremd war – all das ist noch ein drastisches Understatement. In Armut geboren, mit 18 Jahren Vollwaise, ein Leben lang in finanziellen Nöten und oft auf der Flucht vor seinen Gläubigern, zum Tode verurteilt und schließlich begnadigt, als Sträfling in Sibirien und dann wieder einfacher Soldat – schier unglaublich, wie auf einem solchen Lebens- und Leidensweg fast en passant einige der größten Romane der Weltliteratur entstanden sind, darunter „Schuld und Sühne“, „Die Dämonen“ und „Die Brüder Karamasow“, von dem so unterschiedliche Menschen wie Sigmund Freud und Marcel Reich-Ranicki einmütig meinten, dass es überhaupt der größte Roman aller Zeiten sei.

Am 11. November jährt sich der Geburtstag Dostojewskis zum 200. Mal. Wer das faustdicke Buch von Martin Spieker und David Bühne liest, lernt viel über Dostojewski und seine Zeit, über das zaristische Russland, in dem es noch bis 1861 Leibeigene gab, aber auch über das Spannungsfeld zwischen innerem und äußerem Leben, über Abgründe der menschlichen Existenz, doch auch über die Größe des menschlichen Geistes, der sich selbst von grausamsten äußeren Geschehnissen und Zumutungen einfach nicht kleinkriegen lässt, im Gegenteil: Dostojewski, so scheint es nach 560 Seiten informativer, aber kurzweiliger Lektüre, hat sich gerade unter dem Eindruck schlimmster Schicksalsschläge zu menschlicher und künstlerischer Größe aufgeschwungen.

Klassiker neu gelesen
Heimito von Doderer: „Die Dämonen“
In 20 Kapiteln zeigen die beiden Autoren Dostojewski nicht nur in den höchst unterschiedlichen Lebensphasen, sondern auch in seinen vielfältigen Rollen, die er sich selbst ausgesucht hat, doch noch häufiger wurden sie ihm vom Leben zugeschrieben: Politischer Aktivist, zum Tode Verurteilter, Sträfling, Pilger und Familienmensch, Spielsüchtiger und Patient – Dostojewskis Leben gleicht einer atemraubenden Achterbahnfahrt, und die temporeiche Biographie von Spieker und Bühne tut es auch. Man beendet die Lektüre mit dem Gefühl, das den Autoren wichtiger zu sein scheint als alles andere: mit einem neu geweckten Interesse an diesem Ausnahmeschriftsteller, mit neuer Leselust und Neugierde.

Aber muss Dostojewski überhaupt neu entdeckt, muss für ihn geworben werden? Ja und nein. Seinen Platz in der Literaturgeschichte macht ihm niemand streitig, seinen Status als Klassiker auch nicht, das ist wahr. Aber anders als etwa in den USA, wo „Schuld und Sühne“ bis heute zur Pflichtlektüre an vielen Schulen gehört, ist Dostojewski in Deutschland wohl zu sehr zum Klassiker geworden – bewundert, aber leicht angestaubt, beheimatet in den Bücheregalen eher älterer Semester.

Spieker und Bühne wollen ihn aus diesem ehrenwerten, aber verstaubten Bücherregal herausholen und Dostojewski in seiner Relevanz im Hier und Jetzt zeigen. Der Rahmen, das Russland des 19. Jahrhunderts, hat sich geändert, nicht aber das, worum es eigentlich in seinen Romanen geht: die menschliche Seele, die Tiefenpsychologie des Individuums in einer Welt, die auch schon vor 150 Jahren als überkomplex und verführerisch, als bedrohlich und vereinsamend wahrgenommen wurde. Wo der Mensch selbst das Thema der Literatur ist, wird die Erzählung niemals alt. Das gilt für alle guten Schriftsteller, und für Dostojewski gilt es ganz besonders.

Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft
Ohne Zugehörigkeit kann es keine Freiheit geben
Es gehört zu den Eigenarten dieses Buches, dass es einen Ton anschlägt, der für die traditionelle Literaturkritik ungewöhnlich ist und oft eher zum mündlichen Austausch unter Jugendlichen unserer Tage passt als zum Genre der Schriftstellerbiographie. Unverkennbar soll damit der mutmaßlich schwere Stoff leichter zugänglich gemacht und das Leben eines russischen Schriftstellers im 19. Jahrhundert in seiner Zeitlosigkeit und manchmal verblüffenden Aktualität gezeigt werden. So nennen die Autoren Dostojewskis Hinrichtung (erst in letzter Minute wird ihm die Begnadigung durch Zar Nikolaus I. mitgeteilt) eine „sadistische Psycho-Show“ und den Trommelwirbel für das Erschießungskommando, der schon eingesetzt hatte, den „gruseligen Soundtrack dazu“. Auch der Titel des Buches schlägt diesen Ton an: „Rock me, Dostojewski!“

Mit einer flotten Sprache allein wäre freilich wenig gewonnen. Spieker und Bühne, denen man ihre eigene Dostojewski-Begeisterung auf jeder Seite anmerkt, gehen aber viel weiter und verbinden die auf ein jüngeres Publikum zielende Sprache mit einer Fülle von wertvollen Informationen und Hintergründen, vor allem aber mit einer klugen Auswahl von Dostojewski-Zitaten. Nicht nur als großen Erzähler, auch als lebensklugen Menschen mit prägnanten Aphorismen, lernt man den mit 59 Jahren gestorbenen Russen hier ganz neu kennen.

Und verdienstvoll ist nicht zuletzt, dass die Autoren Dostojewski als gläubigen Menschen zeigen, als Christen durch und durch, der einmal notiert: „Ohne Jesus gibt es nur das Nichts.“ Allzu oft in den letzten 150 Jahren ist Dostojewskis Glaube unter den Tisch gefallen; er passt nicht jedem ins eigene Weltbild. Deshalb ist es gut, dass Spieker und Bühne so akribisch nachweisen, wie zentral der christliche Glaube im Leben und im Werk des Russen war, wobei Glaube hier nicht etwas Abstraktes und Intellektuelles, sondern auch etwas ganz Lebenspraktisches ist: Dostojewski, so fällt dem Gefängniswärter auf, steht abends in der Ecke und betet, kniet nieder und küsst sein Brustkreuz, bevor er zu Bett geht. Dass eine stramm säkularisierte Literaturwelt heute Dostojewski von seinem christlichen Glauben befreien will, lassen Markus Spieker und David Bühne ihr nicht durchgehen. Sie verteidigen die Frömmigkeit seines Lebens und seiner Poesie gegen alle Übergriffe der Nachgeborenen.


Dr. Markus Günther war Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen und arbeitete viele Jahre als freier Korrespondent in Washington u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.


Markus Spieker & David Bühne, Rock Me, Dostojewski! Poet. Prophet. Psychologe. Punk. Fontis Verlag, 560 Seiten – opulent ausgestattet – 25,00 €.


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Kommentare ( 6 )

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kasimir
3 Jahre her

So geht es mir auch. Das ist eins der Dinge, wofür ich sehr dankbar bin: uns wurden die russischen Klassiker bereits in der Schule nahe gebracht.
Ich weiß nicht, ob ich sonst heute einen Zugang dazu hätte…

kasimir
3 Jahre her

Die Russen haben ganz hervorragende Schriftsteller, Tolstoi, Turgenjew, Maxim Gorki….aber Dostojewski war der Größte von ihnen: ein unglaubliches Genie und eine Sprache, die einen von Anfang an in den Bann zieht.
Dieses Buch hier werde ich mir auch gleich bestellen, vielen Dank für den Tipp!
Wer auch noch etwas russische Literatur sucht, die in unsere heutige Zeit passt, der sollte auch noch unbedingt Alexander Solschenizyn lesen („Archipel Gulag“)…
Die russischen Klassiker sind einfach zeitlos schön!

Harry Charles
3 Jahre her

„Es gehört zur typisch deutschen Genie-Romantik, sich einen großen Schriftsteller als verinnerlichten Künstler, eben als „Dichter und Denker“ vorzustellen, der schnöden Welt entrückt, auf geistigen Wolken schwebend, von der Unbill der Alltäglichkeiten verschont und nur im Innern kämpfend und leidend.“ Ja, und das ist eine allzu biedere, um nicht zu sagen kleinbürgerliche Vorstellung von Bildung. Wie sie allerdings heutzutage an den Schulen überwiegend vermittelt wird (überwiegend von dem „Oma gegen rechts“ – Studienrätin Typus). Sofern dort überhaupt noch Literatur Unterrichtsgegenstand ist, denn der wurde und wird zunehmend ersetzt durch Berieselung und Indoktrination mit scheußlicher, linksgrüner woke-Ideologie. Gerade die großen Literaten… Mehr

Ludwig Thoma
3 Jahre her

von schier unglaublicher Aktualität sind auch die politischen Schriften Dostojewskis aus den 1870er und 1880er Jahren, Rußland und die Welt.

Lizzard04
3 Jahre her

Vielen Dank für diesen wunserbaren Literaturtipp! Bin von der geistigen Größe dieses Mannes spätestens seit „seinem“ Großinquisitor begeistert! Das Buch wird schon sehr bald in meine Sammlung wandern!

Regenpfeifer
3 Jahre her
Antworten an  Lizzard04

Auch ich bin über den „Großinquisitor“ (=fünftes Kapitel des fünften Buches aus seinem Roman „Die Brüder Karamasow“) zu Dostojewski gekommen. Was für eine sprachliche Wucht, die da den ganzen Raum greift! Mich verwundert allerdings auch nicht, dass er heute kaum noch gelesen wird: Der Roman mäandert in über 1000 Seiten einmal komplett durch die gesamte russische Gesellschaft, die Abgründe des Menschseins und jene des Katholizismus hindurch -dafür muss man sich Zeit nehmen. Und die Schwere und Düsternis, die Dostojewskis Erzählung ausbreitet, sind auch nicht jedermanns Sache.