Manches von dem, was Dostojewski schreibt, scheint eine direkte Antwort auf die Debatten unserer Tage zu sein, etwa, wenn er notiert: „Die Wissenschaft in unserem Jahrhundert bestreitet alles, was früher galt.“ Von Barbara Stühlmeyer
Der junge Mann steht in eisiger Kälte auf einem großen Platz. Er und die anderen Häftlinge kümmern sich nicht mehr darum, dass sie sich in den viel zu dünnen Kleidungsstücken den Tod holen werden. Denn der wird ohnedies gleich zu ihnen kommen, direkt nach dem Popen, der ihnen das Kreuz zum Kuss reicht und die Gelegenheit zur Beichte gibt. Doch dann geschieht das wohlkalkuliert vom Zaren inszenierte Wunder. Fjodor Michailowitsch Dostojewski und die anderen wegen revolutionärer Umtriebe angeklagten Männer werden in letzter Sekunde begnadigt und zu Haft und anschließendem Militärdienst in Sibirien verurteilt. Nicht, dass die Überlebenschancen dort besonders brillant gewesen wären.
Für Dostojewski aber, den Shootingstar am russischen Literaturhimmel, erwies sich die Reise ins ewige Eis als herzerwärmende Heimkehr in die Arme Gottes. Dass der in einem gläubigen Elternhaus aufgewachsene junge Mann – sein Vater, ein Arzt, stammt aus einer russisch-katholischen Familie – die Verbindung zu seinen geistlichen Wurzeln verloren hatte – folgt dem vielfach zu beobachtendem Schema der Entwicklungswege junger Menschen, die auf der Suche nach sich selbst und ihrer Berufung der Versuchung erliegen, zu schnelle Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden.
Dostojewski hatte sich, wenngleich manchem in diesen Kreisen Vertretenem skeptisch gegenüberstehend, einer Gruppe von Revolutionären angeschlossen, sich regelmäßig mit ihnen getroffen und durchaus kontrovers diskutiert. Diese Offenheit gegenüber Ideen, philosophischen und politischen Vorstellungen und der Wille sich damit auseinanderzusetzen, sollte ihn lebenslang begleiten. Aber zunächst einmal war er unterwegs in einen Teil des Landes, aus dem nur wenige gesund und wohlbehalten zurückkehrten.
In einem Brief an eine Mutter, die ihn um Leseempfehlungen für ihr Kind bittet, schreibt er: „Machen Sie es mit dem Evangelium bekannt, lehren Sie es an Gott glauben, und zwar streng nach der Überlieferung. Dies ist alternativlos. Etwas Besseres als den Heiland können Sie gar nicht finden.“
Fjodor Michailowitsch Dostojewski hat weit über zehntausend Seiten in neun Romanen, zahlreiche Novellen, Erzählungen und unzähligen journalistischen Arbeiten hinterlassen. Er war ein unermüdlicher Arbeiter, ständig unter Zeitdruck schreibend, weil er die immer wieder neu gesetzten Deadlines, die auch für den Druck verantwortlich waren, unter dem seine großen Romane standen, aus finanziellen Gründen akzeptieren musste. Aber dennoch nahm Dostojewski sich immer wieder Zeit für die Menschen, die ihn um Rat fragten, die nach Antworten auf ihre Lebensfragen suchten und sich deshalb an ihn wandten, der zu wissen schien, wo der Weg zum Leben verlief.
Dass dies so war, liegt keineswegs daran, dass der Schriftsteller eine sonnige, konfliktfreie Natur war. Dostojewski hatte nicht nur in Sibirien die Untiefen der menschlichen Natur kennengelernt. Schon seine Kindheit war vom Alkoholismus seines Vaters geprägt gewesen, der später das Leben seiner Brüder begleitete. Er selbst war ein Spieler und verlor im Rausch der Sucht immer wieder neu das Geld, das er unter viel Mühe am Schreibtisch erarbeitet hatte.
Seine mitreißende Schilderung der Persönlichkeit des Spielers ist ebenso wenig ein Zufall wie seine punktgenaue Beschreibung der Glaubenszweifel die er dem Leser in den Figuren seiner Romane so lebendig vor Augen stellt. Er ist ein Menschenkundler aus Leidenschaft, einer, der beobachtet, analysiert und wo immer nötig, andere mit Ratschlägen auf den guten Weg zu führen versucht, den er selbst, wie er wohl weiß, immer wieder verfehlt.
Friedrich Nietzsche bezeichnet ihn als den „einzigen Psychologen, von dem ich etwas zu lernen hatte“. Er selbst hingegen widerspricht: „Man nennt mich einen Psychologen. Das ist nicht richtig. Ich bin nur ein Realist im höheren Sinn, das heißt: Ich zeige die Tiefen der Menschenseele.“ Was sie angeht, ist Dostojewski überzeugt, dass sie ohne den Glauben an Jesus Christus in einem endgültigen Sinne verloren ist. Deshalb wirkt der Schriftsteller in seinen Werken, in seinem Briefwechsel und im persönlichen Austausch mit Menschen, die seinen Rat suchen, immer wieder katechetisch und missionarisch. Dieser Impetus zur Verkündigung prägt auch seine journalistischen Arbeiten. Hellwach beobachtet er den Verfall des Glaubens und die mangelnde Glaubwürdigkeit derer, die zu verkünden berufen sind.
Die Erosion des christlichen Glaubens beobachtet Dostojewski mit Sorge und dokumentiert deren Stadien scharfsichtig im „Tagebuch eines Schriftstellers“. Und er stellt dabei, wie in „Der Jüngling“ grundsätzliche Fragen: „Welche Verbindlichkeit haben Werte, wenn es dafür keinen absoluten Maßstab gibt?“ Die Antwort gibt er in den Notizen, die er unermüdlich für seine Schreibprojekte sammelt: „Es reicht nicht, Moral als Haltung zu definieren. Man muss sich auch noch fortwährend fragen: Ist meine Haltung richtig? Der Prüfstein aber ist – Christus.“ Denn, so ist Dostojewski überzeugt: „Gewissen ohne Gott ist etwas Entsetzliches; es kann sich bis zur größten Unsittlichkeit verirren.“ Deshalb verteidigt der Schriftsteller, der so gerne und so tief denkt, den Glauben vor dem Wissen, Herz und Seele vor dem Verstand und stellt fest: „Natur, Seele, Liebe und Gott erkennt man mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand.“
Manches von dem, was Dostojewski schreibt, scheint eine direkte Antwort auf die Debatten unserer Tage zu sein, etwa, wenn er notiert: „Die Wissenschaft in unserem Jahrhundert bestreitet alles, was früher galt. Sie sagt, dass sich alle Sünden zurückführen lassen auf unbefriedigte Bedürfnisse, die ganz natürlich sind und deshalb befriedigt werden müssen. Eine radikale Widerlegung des Christentums und seiner Moral.“ Die aber hält Dostojewski für unverzichtbar für die Gesellschaft. Denn ohne sie geschieht, was er schon in seiner Zeit konstatiert: „Die Idee der Desintegration ist omnipräsent, denn alles fällt auseinander, und es gibt keine Bindungen mehr… Die Konfusion über unsere Vorstellungen von Gut und Böse ist jenseits aller Vorstellungskraft.“
Schon eine kursorische Sichtung der Weisheit, die sich in Dostojewskis Werk findet, zeigt in beeindruckender Fülle jene Heilmittel, die in der derzeitigen Krise vonnöten sind – deren Anfänge er bereits vor nahezu 200 Jahren beobachtet und beschrieben hat. Sie zu entdecken ist ein Gewinn.
Dieser Beitrag von Dr. Barbara Stühlmeyer erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken Autorin und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.
Markus Spieker und David Bühne, Rock me, Dostojewski. Poet. Prophet. Psychologe. Punk. Fontis Verlag, Hardcover mit goldbedrucktem Überzug, Lesebändchen, goldfarbenem Schmuckvorsatzpapier, 560 Seiten, 25,00 €
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Leider habe ich durch das Internet das Lesen größerer Texte verlernt.
Dostojewski und Flaubert sind meine Erzieher gewesen. Und Dostojewski – gerade seiner tiefen, mystischen Religiosität wegen – gilt es noch einmal zu lesen.
Klingt spannend. Und der Mann ist mir symathisch, so wie er geschildert wird.
Dazu stehe ich: Ohne Glauben und Moral ist die Menschheit verloren.
Ich habe einige Bücher von ihm gelesen, da sie in einer Kassette ein Geschenk waren, aber eins kann ich Ihnen versichern: Spannend geht anders. Dostojewski ist sehr langatmig und nach meinem Geschmack wenig unterhaltend.
Ich selbst besitze „Der Idiot“ von Dostojewski. Und ich kann behaupten, dass das keine einfache Lektüre ist. Im Gegenteil, es wird einem als Leser viel Geduld abverlangt.