Sarrazin: Die Unschuldigen verfolgen den ewig Schuldigen

Die Bücher des Thilo Sarrazin mag man mögen oder nicht. Wie sie besprochen werden, offenbart mehr über die Besprecher als über das Besprochene. Selbstvergewisserungen derer, die unbedingt zur "guten Herde" gehören wollen.

© Sean Gallup/Getty Images

Es scheint verwunderlich, doch selbst die unschuldigen Verfolger brauchen von Zeit zu Zeit einen Sündenbock, auf den sie ihr Gift verspritzen und gegen den sie ihren inneren Schweinehund loslassen können.

Von Schweinehunden und Sündenböcken

Das ist wohl notwendig zur Entlastung von der andauernd verübten Toleranz und den anstrengenden Tugenden der Willkommenster. Aber auch Sündenbocke brauchen Routine. Einmal S., immer S. Kaum jemand eignet sich so gut wie Thilo Sarrazin. Ihn braucht man nicht einmal zu lesen. So schreibt der Rezensent der WirtschaftsWoche am Ende eines Stückes, das nur unzureichend Verriss genannt werden kann: „Wobei ich sogleich sagen muss: Ich kenne das Buch nicht…“ An Sarrazin weiß der Rezensent, was er kriegt, auch wenn er es noch nicht hat. Das spart der Qualitätspresse die schwere Arbeit des Lesens und Sich-Kundig-Machens.

Sarrazin hat es aber auch verdient

Schon 2010 brach der Sündenbock Thilo Sarrazin mit seinem bösen Prophetenwort „Deutschland schafft sich ab“ ein entsetzliches Tabu, was nachhaltig wirkt und auch sei neues Werk „Wunschdenken“ sträflich überschattet. Er mag schreiben, was er will: Es gibt keine Resozialisierung in die Gemeinde der guten Schafe für solche, die einmal als schwarze erkannt wurden. Und wenn, ist es schrecklich anstrengend. Ein hochseriöses Qualitätsblatt wie die Zeit schickt daher einen OIe von Beust vor, der nichts Geringeres als das Böse bloßstellen will. Das muss er auch. Er hat sich aus der Herde der Guten entfernt, weil er mit einem „Rechtspopulisten“ seine erste Amtszeit als Bürgermeister von Hamburg begann. Er hat dann noch zwei weitere hinter sich gebracht. Aber der Makel bliebt, er hat sich beschmutzt, für immer.

Dass Ole jetzt gegen das Böse wettert, versteht man gut vor diesem Hintergrund. Eine Gelegenheit zur Rehabilitation. Also Ole von Beust gegen das Böse: „Thilo Sarrazin schürt den Hass. Gegen diese Brutalisierung der Flüchtlingsdebatte gibt es nur einen Weg: Stimmen wie seine gesellschaftlich isolieren.“ Sarrazin befinde sich nahe „am Naziniveau mit manchen seiner Theorien, in seinem neuen Machwerk Wunschdenken“. Zum Beispiel mit der Behauptung, – verliest und verschreibt sich Ole von Beust prompt – „Menschen aus bestimmten Regionen der Welt stünden kognitiv unter den Deutschen, sind also, kurz gesagt, dümmer. Deshalb müsse die Einwanderung dieser Menschen unbedingt unterbunden werden, weil sonst nicht nur unser Wohlstand, sondern der Fortbestand unserer Nation gefährdet sei.“

Das unbedingte Böse

Unbedingt? Von Beust ist ein ungeübter Leser und tatsächlich kognitiv damit überfordert, Sarrazins Buch zu verstehen. Davon zeugt allein das Wort unbedingt. Sarrazin spricht immer nur von sozialen und politischen Bedingungen. Die kann man ändern, nur nicht, wenn sie unbedingt sind. Die Nazikeule im Gepäck der unschuldigen Verfolger trübt zuverlässig die Chancen einer kognitiv angemessenen Lektüre. Sich-hinein-steigernd-lesen ist die Steigerung des Nicht-Lesens, unbedingt.

Etwas gerechter möchte der Rezensent der Süddeutschen immerhin erscheinen, doch auch er hat großes Verständnis, vor allem für die Unschuld der Verfolger. Sarrazin-Kritiker nennt er sie vornehmlich: „ sie haben sich wiederum eingerichtet in der Gewissheit, Teil einer guten Herde zu sein– Alles Stellungen, die man nicht einfach so aufgibt.“ Natürlich nicht, und auch er findet nach längerer Suche sogleich ein Haar in der Suppe, nämlich eine verdächtige unter den Hunderten von Fußnoten, in welcher Sarrazin sein Ohr doch tatsächlich einem Wortführer der neuen Rechten leiht. Wie unglaublich!! Sorgfältig gelesen hat er immerhin; denn Sarrazins Fußnoten sind penibel wie die eines gewesenen Finanzsenators, der sich und seinen Lesern dies immer wieder beweisen muss. Denn sonst war ja das Unterschlagen von Fußnoten böse. Bei Sarrazin sind Fußnoten böse. Und es geht nicht um Inhalt. Es geht um ein Zitat eines aus der bösen Herde.

Die Stellung in der guten Herde

Auch Esslinger von der Süddeutschen möchte also seine „Stellung in der guten Herde“ nicht einfach aufgeben, wie er schreibt. Erst recht nicht der Jakob Augstein, der im Phoenix-Fernsehen dem unerhörten Zahlenwerk Sarrazins in lässiger Manier des Jetset-Journalisten entgegen schleudert: „das glaube ich alles nicht, ihre Zahlen dienen Ihnen doch nur dazu, ihre Ideologie unter die Leute zu bringen.“ Ideologie? Sarrazin enttarnt ideologische Argumentationen, ja. Er hat einen starken politischen Willen, er macht sich Gedanken über die Kunst der Politik und des Regierens. Aber er hat keine Ideologie. Ist ja egal, sagt sich Augstein, was kümmern ihn als Journalisten noch Worte? Er findet das Buch eben vor allem gefährlich. So gefährlich, dass ihm der Maßstab abhanden kommt – und die normalel Nazikeule reicht da nicht mehr. Nein, Sarrazin ist der leibhaftige Hitler!

„Den ersten Platz der SPIEGEL-Liste der bestverkauften Sachbücher besetzt zurzeit Thilo Sarrazin. Den zweiten Adolf Hitler. Der große Rechtspublizist direkt vor dem großen Verführer. Es gibt offenbar Kontinuitäten im deutschen Leseverhalten. Mit etwas Spott lässt sich sagen: Da stehen die richtigen nebeneinander. Sarrazin hat ein Buch darüber geschrieben, was die Politiker alles falsch machen. Hitler hat ein Buch darüber geschrieben, wie man in der Politik alles richtig macht. Das hat bekanntlich nicht funktioniert. In Wahrheit steht in beiden Büchern großer Unsinn. Da endet der Spott. Denn Thilo Sarrazin predigt einen neuen Rassismus, und auch weit unterhalb der Schwelle eines Holocausts hat solcher Rassismus katastrophale Folgen.“ 

Wenn die Herde losgelassen ist, trampelt sie über Stock, Stein und Halm. Liest eigentlich bei Spiegel-Online niemand mehr Texte gegen und bewahrt so den kleinen Augstein vor den großen Fehlern? Oder ist die Herde blind für jede Form der selbsterzeugten Lächerlichkeit? Oder schützt der Name des großen Vaters davor, berichtigt zu werden und so in Dummerland anzukommen? Oder ist es Absicht, den ungeliebten Erben genau da hin zu schicken? Fragen eines Lesers.

Es scheint vielen alles so gefährlich, die sich nicht lange mit der Kunst des Lesens aufhalten. Es erscheint ihnen schon gefährlich, wegen der Kontexte, in die Sarrazin unverdrossen hinein spricht. Selbst das Selbstverständliche scheint, zur Unzeit festgestellt von ihm, als hätte er einen Zünder gelegt, z.B. wenn er schreibt: „Es offenbart ein grundlegendes Missverständnis vom Wesen und von den Aufgaben des Staates und ist Ausfluss eines verkitschten Weltbildes, wenn ( ..) man, sei es Deutschland, sei es Europa für die Behebung von Unglück und Misswirtschaft im Rest der Welt verantwortlich machen will“. Wie mag es einem Amateur-Leser wie Ole Von Beust, wie mag es einem typischen grünen Tugendwächter im Gemüte rumoren, wenn er solches liest und gar noch weiter:“ Staaten haben vor allem den Interessen ihrer eigenen Bürger zu dienen. Sie leisten viel, wenn sie dabei andere Länder und Völker nicht beschädigen.“ Und diese Beschädigung kann sogar mit dem besten Willen und mea culpa Gewissen geschehen. Aber darf, soll man denn so reden? Sarrazin, der begeisterte Empiriker, empört die „gute Herde“ wieder mit seinen neusten Zahlen, die ihm, dem Patrioten und ungefragten Politikberater, Sorgen bereiten. Aber Journalisten kennen keine Zahlen, es sei denn, sie bestätigen ihre eigene Voreingenommenheit.

Journalisten kennen keine Zahlen, Stoiber schon

Die Zahlen kennt selbst Edmund Stoiber, unser Fachmann aus Brüssel. Wohlwollend rezensiert er das Wunschdenken-Buch Sarrazins im neuen Heft von Cicero und winkt dennoch ab: „Alles gut, aber nichts Neues.“ Wie bitte, Edmund Stoiber kannte die neusten Zahlen auch schon, die Sarrazin in seinem Buch ausbreitet? Ja, warum hat er denn nie davon gesprochen in den unzähligen Talkshows, in welchen er doch ausreichend zu Wort kam?

Nein, der falsche Umgangston mit einem Buch, der im Ganzen herrscht, die unaufgeklärte Art und Weise, in der diejenigen, die so gerne von Aufklärung, Toleranz und Freiheit schwadronieren, mit Thilo Sarrazin als Autor verfahren, lässt tiefer blicken, als jene Guten der Herde glauben und denken. Something is wrong in „der offenen Gesellschaft“. Genau das zeigt der Fall. Als Sarrazin jüngst in einem Landgasthof im Bayern sein Buch vorstellte, sprühten in aller Früh schon fanatische Anhänger der Antifa, die wohl angereist waren aus der nächsten Kleinstadt, üble Sprüche an die Wände. Der Wirt ließ sie sofort übermalen, doch die biedere Lokalzeitung, der die Veranstalter den Vorverkauf anvertrauten, wusste in vorauseilendem Gehorsam ihren CSU-Oberen gegenüber zu verhindern, dass der Saal am Abend ganz ausverkauft war.

Wo kämen wir hin, wenn die gute Herde sich ihr eigenes Urteil bilden wollte? Gut, dass es noch die guten Hirten gibt, die die guten von den bösen Schafen zu scheiden wissen.

Wim Setzer ist Kabarettist, Kunstkritiker und Journalist.

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