Der vollkommen sichere, gesunde und glückliche Zustand der Welt

Ein Hyper-Konzern aus Google und Amazon erschafft einen neuen Menschen, der sich bereitwillig überwachen und führen lässt. Dave Eggers verhandelt in seinem neuen Roman – einem der wichtigsten der Gegenwart – eine Kernfrage: will die Mehrheit der Menschen überhaupt frei sein?

Auf einer halb natürlichen, halb künstlichen Insel in der San Francisco Bay, auf einem Untergrund aus militärischem Müll früherer Jahrzehnte und umgeben von einem dreieinhalb Meter hohen Metallzaun liegt der neue Regierungssitz der Vereinigten Staaten.

Das weitläufige Gelände heißt nicht offiziell Regierungssitz, sondern Campus. Es handelt sich auch um keine staatliche Institution, sondern formal um das Unternehmen Every, gelenkt von einer Frau namens Maebelline Holland, die sehr oft auf Videoscreens und fast nie leibhaftig erscheint. Wobei die Bezeichnung „Unternehmen“ für Every nicht ernsthaft passt, ein Konglomerat, das in Dave Eggers Roman aus einer Fusion von Google (und auch ein bisschen Facebook) und Amazon entstanden ist, wobei das Netzwerk in dem Roman Circle heißt und der übernommene Onlinehändler dschungel.

In dieser nicht allzu fernen Zukunft gibt es kaum noch irgendein Angebot in der virtuellen und auch in der analogen Welt, das nicht von Every stammt. Die Mitarbeiter auf der Insel produzieren nicht nur Programme, Apps, alle vorstellbaren und auch eigentlich unvorstellbaren Datensammelsysteme und die entsprechenden Geräte dazu, sie erzeugen vor allem ein einheitliches Bewusstsein für hunderte Millionen Menschen weltweit. Das geschieht durch ein faktisches Monopol, aber nicht durch altmodischen Zwang. Die allermeisten Bewohner der von Every durchstrukturierten Welt wollen diese Struktur, die ihnen wie ein Exoskelett Halt gibt.

Die zentralen Botschaften Everys für die Welt lauten: Niemand sollte so verrückt sein, sich bei seinen Lebensentscheidungen an die eigenen Instinkte zu halten. Im eigenen Interesse sollte sich jeder der Weisheit des Kollektivs unterordnen, verdichtet in Daten und Algorithmen, die ihm sagen, welche Begriffe er benutzen soll (und vor allem, welche nicht), welches Essen er wählen, welche Kleidung er kaufen und welche Texte er lesen sollte. Das Glück des Einzelnen liegt in der Planbarkeit des Lebens, im Vermeiden von Zufällen, kurzum – das ist das Every-Schlüsselwort überhaupt – in der Sicherheit. In seiner Arbeit, sagt der musterhafte Every-Angestellte Francis, gehe es darum, „möglichst jedes Vielleicht zu eliminieren“.

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Die zweite freundliche Anweisung des Hyperunternehmens lautet: Transparenz. In der Gesellschaft, die Eggers als literarische Versuchsanordnung aufbaut, herrscht dank der erfolgreichen Every-Lobbyarbeit längst das „Right To Know“, das Recht, alles über den Mitbürger zu wissen, über seinen Lebenslauf inklusive begangener Gesetzesverstöße, seinen Gesundheits- und Impfstatus und selbstverständlich alles, was er irgendwann einmal in der elektronischen Welt hinterlassen hatte. „Geheimnisse“, heißt ein Spruch, der oft auf dem riesigen Screen in der Every-Kantine und nicht nur dort auftaucht, „sind Lügen.“

Selbstverständlich durchdringt Every die Gesellschaft nicht mit dem Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen (das auch, aber auf die Umsätze verschwendet die Unternehmensleitung des Monopolisten zu Recht kaum Gedanken). Es geht durchweg um höhere Ziele: Die Reduzierung des Kohlendioxidabdrucks für jeden Einzelnen, die endgültige Ausmerzung von Straftaten, Krankheiten, beleidigenden Worten, überhaupt von allem, was jemandem schaden könnte.

Auf diesem Weg sind Mae Holland und ihre Kunden schon so weit vorangekommen, dass der vollkommen sichere, gesunde und glückliche Zustand der Welt zum Greifen nah liegt. Über fast alle Politiker, die irgendwann versuchten, die Macht von Every zu stoppen, tauchten zuverlässig Dossiers über finanzielle und/oder private Verfehlungen auf, die wiederum karrierevernichtende Empörungsstürme in den Netzwerken auslösten.

Nur eine kleine Minderheit der sogenannten Trogs – abgeleitet von Troglodyten (Höhlenbewohner) – entzieht sich noch der totalen Vernetzung und Transparenz. Sie weigern sich, in smart houses mit Kameras zu leben, tragen keine Körpersensoren und verwenden von den vielen sicherheits-, gesundheits- und klimafreundlichen Programmen nur das, was sie nicht umgehen können. In der Entwicklungsstufe der besseren Welt, in der Eggers’ Roman einsetzt, gibt es immerhin schon das gesetzliche Verbot, Kinder in den unsicheren Trog-Häusern großzuziehen.

Wer zum ersten Mal die Kontrollschleuse des Every-Geländes passiert, um dort zu arbeiten, lässt die immer noch nicht ganz geordnete Welt draußen zugunsten des reinen Modells hinter sich. Das gilt auch für die Romanheldin Delaney Wells, die aus der Trog-Welt stammt. Every, vor allem das fast allumfassende Every-Bewusstsein hält sie für die Verkörperung des Bösen schlechthin. Delaney legt sich einen manipulierten Lebenslauf zurecht, was in Zeiten der totalen Nachverfolgbarkeit außerordentlich viel Intelligenz und Mühe erfordert, und schleust sich zusammen mit ihrem Trog-Freund Wes als Agentin ihrer eigenen winzigen Untergrundbewegung in den plastikfreien, verpackungsfreien, fossilstofffreien, fleisch-, lachs- und nussfreien Every-Campus auf der Insel hinter dem Zaun ein, mit dem Plan, das Unternehmen von innen heraus zu sprengen.

So viel zum Plot von Eggers Roman. „Every“ gehört neben Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ zu den wichtigsten Büchern der Gegenwart. Beide schildern Dystopien in westlichen Gesellschaften, und in beiden geht es im Grunde um das Gleiche. Eggers selbst zieht diese Verbindung mit einem Zitat von Erich Fromm, das er dem Text voranstellt: „Gibt es vielleicht außer dem angeborenen Wunsch nach Freiheit auch eine instinktive Sehnsucht nach Unterwerfung?“

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Dave Eggers, 1970 in Boston geboren, wurde berühmt, indem er aus Sicht des jungen amerikanischen Literaturbetriebs praktisch alles von Anfang an falsch machte. Er belegte keine creative-writing-Kurse, er stellte sich gar nicht erst dem Wettbewerb mit anderen Autoren seiner Generation um die post- und postpostmoderne metafiktionale Großerzählung (nichts dagegen, auch die können großartig sein, siehe David Foster Wallace), sondern schrieb mit dreißig seine Lebensgeschichte unter dem Titel „Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität“ (A Heartbreaking Work of Staggering Genius), für das er auch noch, obwohl blutiger Debütant, mit Trotz und Fußaufstampfen sein Wunschcover durchsetzte, ein romantisches, fast kitschiges Bild eines durchleuchteten Wolkenhimmels mit einem beiseitegezogenen roten Vorhang. Das Buch fand Millionen Leser, weil es sich tatsächlich um ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität handelte, aber auch, weil es quer zu allem lag, was sonst von Dreißigjährigen auf den Literaturmarkt geworfen wurde.

Mit seinen Büchern, die dann folgten, schlug Eggers immer wieder neue Haken, es folgte sein Weltreiseroman „Ihr werdet noch merken, wie schnell wir sind“ (You Shall Know Our Velocity), der Dokumentarroman „Zeitoun“ über einen amerikanisch-syrischen Familienvater, der 2005 in dem überfluteten New Orleans in die Mühlen der Terrorbekämpfung gerät, und nach einigen weiteren Stationen 2013 der Roman „The Circle“, ein Schlüsselroman über einen kalifornischen Tech-Konzern, dessen Angestellte in einem an Apples Menlo Park-Ring erinnernden Hauptquartier sitzen und versuchen, die Welt zu formatieren. Hier tritt schon die Figur Mae Holland auf, und zwar als noch von allerlei Skrupeln geplagte Rekrutin des Unternehmens.

„Every“ erzählt diesen Roman fort. Hier beschreibt er die Ausmaße der neuen Erlösungslehre, die den Menschen endlich von seiner Unsicherheit befreien soll. „Every“ handelt also von der Kubatur des Circle. Der Roman ähnelt auch darin Houellebecqs „Unterwerfung“, dass es sich um ein überragendes Buch handelt, aber nicht um überragende Literatur. Die stünde auch der Geschichte im Weg, die er dringend mitteilen muss. In „Every“ gibt es nicht die auf Diamanthärte verdichteten Sätze von Flaubert, nicht den erzählerischen Witz, mit dem Lampedusa praktisch jeden anderen Autor zur Verzweiflung treibt, nicht die Kälte eines Nabokov und nicht den gewaltigen Bogenschlag eines Thomas Pynchon.

Eggers’ Mittel ist die Kolportage, er muss schließlich seine Leser ständig darüber informieren, wie es in der Every-Zukunft aussieht, obwohl seine Figuren naturgemäß schon darüber Bescheid wissen (das Problem aller dystopischen Erzählungen).
Die Geschichte folgt auf ihren 579 Seiten ihrem Pfad ohne große Abirrungen, seine Hauptfiguren stattet er ziemlich unaufwendig und ohne größere Ambivalenz aus. Die meisten Personen der Every-Belegschaft sind Karikaturen – wobei jeder Leser genau diese Art lebender Karikaturen auch in seiner Umgebung mühelos wiedererkennen dürfte.

Andererseits schreibt hier ein Profi, der weiß, wann es nötig ist, die Handlung auf eine neue Bahn zu schubsen, einen neuen Charakter einzuführen, das Tempo zu verzögern, um es dann wieder anzuziehen, kurzum, der Roman entwickelt einen Sog, der seinen Leser mühelos in das Everyversum saugt. Im intelligenten Umgang mit der Kolportage zeigt sich wahrscheinlich ein schriftstellerisches Talent, das eher noch seltener vorkommt als die große Dichtung. Außerdem besitzt Eggers, was in der Every-Welt selbst nicht oder nur als Verunreinigungsspur vorkommt, nämlich Witz. Auch bei Karikaturen gibt es gute und schlechte, und der Autor gehört zu den Meistern.

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Seine Dichte erhält der Text dadurch, dass Eggers keine völlig neue Geschichte über den Freiheitsverlust schreibt, sondern in seinem kalifornischen Plot auch ganze Motivketten aus den großen dystopischen Klassikern unterbringt, vor allem aus Orwells „1984“ und Bradburys „Fahrenheit 451“. An „1984“ (und natürlich an die neolinke Orthodoxie der Gegenwart) erinnert die Praxis der Everyones, Begriffe zu entkernen und ins Gegenteil zu wenden. Die Mitarbeiter des Konzerns, der, wie es einmal heißt, „Konformität herstellt“, nennen sich selbst „widerständig“. Sie nennen sich nicht nur so, sie glauben, es zu sein: „Widerständig war ein seit neuestem beliebtes Wort. Es hatte rebellisch verdrängt, das aufsässig verdrängt hatte, das Störung/Störer verdrängt hatte.“

Das von Every entwickelte Programm, das 24 Stunden am Tag die Tätigkeit seines Nutzers trackt, analysiert, ihm unentwegt Anweisungen erteilt und Menschen in Reaktionsautomaten verwandelt („damit du deine Ziele besser erreichst“), heißt „OneSelf“. Das Programm, das die Sprache kontrolliert und jedes potentiell anstößige und/oder diskriminierende Wort anmerkt, „TrueVoice“. Die App, mit der kleine Mikroverstöße gegen die Ordnung (ein fallengelassenes Einwickelpapier, ein Vordrängeln in einer Schlange) gefilmt und in eine Strafpunktekartei hochgeladen werden können, aus der nie etwas gelöscht wird, nennt sich „Sham“, ein Kofferwort aus Shame und Samaritian. Samariter ist, wer jemanden mit seinem Handy shamt, weil er dadurch seinen Mitbürger erzieht, also verbessert.

Eine Every-Abteilung, die das Land nach noch unkontrollierten öffentlichen Plätzen absucht, um dort Kameras auszustellen, sagt über sich, dass sie hilft, „Orte sichtbar zu machen“. Die Wohneinheiten auf dem Every-Campus, in die im Romanverlauf fast jeder Beschäftigte einziehen muss, tragen die Namen berühmter historischer Dissidenten. Delaney Wells landet im „Vaclav Havel“. Die Unterkünfte erweisen sich übrigens als Wiederauflage der guten alten sowjetischen Gemeinschaftsbehausungen, der Kommunalnajas, allerdings ausgestattet mit nachhaltig produziertem Obst und High-End-Design im Stil von Zaha Hadid.

Orwellesk arbeitet auch ein ganzer Every-Unternehmensbereich daran, nicht mehr korrekte, aber auch einfach zu komplizierte Figuren und ganze Szenen aus historischen Romanen zu entfernen, damit sie ein sicheres Leseerlebnis bieten. Eine der führenden Mitarbeiter dieser Abteilung weiß zwar nicht, von wem eigentlich „Jane Eyre“ stammt, dafür aber über die ideale Zahl von Figuren, Seiten und komischen Stellen, die ein Buch haben sollte, ermittelt aus dem Durchschnitt von Millionen Leserbewertungen.

In Everys Feldzug gegen das Papier wiederum klingt „Fahrenheit 451“ an. Zur unternehmerischen Tätigkeit von Mae Holland gehört es, ständig Papierfabriken aufzukaufen, um sie für immer stillzulegen, ihr wichtigstes politisches Projekt zielt auf die Zerschlagung des Postsystems, das noch immer als Überbleibsel der alten Ordnung existiert.

Das Every-Personal lässt Eggers aufmarschieren, um den Phänotyp noch nicht einmal zu parodieren, sondern eher zu skizzieren, der mittlerweile fast alle Universitäten, Redaktionen, NGOs und neuerdings auch etliche Großunternehmen im Westen fest im Griff hält.

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Auf dem Insel-Campus finden außerordentlich viele zwanghafte, neurotische, komplexbeladene, angstbesessene Figuren zusammen, die mit der Welt draußen schlecht zurechtkommen, aber in dem Kraftfeld ihres durchformatierten und abgeschirmten Unternehmens zu erstklassigem Diktatorenmaterial aufblühen. Fast alle sprechen einen hochformalisierten Jargon, der aus abgesegneten, garantiert reinen Versatzstücken besteht (was allerdings auch jedes herkömmliche Gespräch sabotiert). Alle fürchten trotzdem unentwegt, irgendetwas falsch zu machen. Was die Everyones außer ihren hautengen, zur Transparenzverbesserung getragenen Bodysuits eint, ist ihre völlige Humorlosigkeit, kombiniert mit einer passiv-aggressiv verdrahteten Psyche. Keiner von ihnen zeigt auch nur die geringste Hemmung, mit immer neuen Produkten die Persönlichkeit von Millionen Menschen zu deformieren. Aber fast jeder Everybeschäftigte bräche traumatisiert zusammen, wenn ihm jemand ein toxisches Wort wie „Diktatorenmaterial“ an den Kopf werfen würde. Was selbstredend nie passiert. So etwas verhindern Sham, TrueVoice, Kameras und KI, ohne dass sich noch ein altmodischer Geheimdienst bemühen müsste.

Die Inselwelt in der Bucht von San Francisco bildet also eine Art wertschätzendes, wokes Weltsicherheitshauptamt, deren Mitarbeiter sich mit der Weißen Rose identifizieren.

Wie will die Agentin Delaney diese Festung aufknacken? Ihre mit dem Mitverschwörer Wes ausgeheckte Idee besteht darin, Every zu radikalisieren und es dadurch in die imperiale Überdehnung und die Nutzer draußen in den Wahnsinn zu treiben. Irgendwann, glauben die beiden, müsste den Endverbrauchern die Bevormundung einfach zu bunt werden. Sie erfinden eine App, mit der Menschen per Algorithmus feststellen sollen, ob ihnen das Essen, das sie gerade verzehrt haben, geschmeckt hat. Es folgen noch ein paar weitere Ideen. Alle finden begeisterte Kunden. Weit und breit rebelliert niemand. „Ich schätze, wir müssen wohl noch absurder werden“, meint Wes.

Auf ihren Vorschlag hin analysiert das an Alexa erinnernde Kommunikationsgerät, das in fast jedem Haushalt steht, alle privaten Gespräche auf Lautstärke und Tonhöhe. Hebt jemand die Stimme? Streiten sich Leute? Sobald die künstliche Intelligenz registriert, dass Bewohner eine bestimmte Schwelle überschreiten, schickt sie automatisch die Polizei zu dem Haus, selbstverständlich, um häusliche Gewalt schon im Keim zu ersticken. Auch nach diesem Zugriff auf das letzte private Terrain beginnt kein Protest gegen Every, geschweige denn ein Aufstand. Die Hausbewohner werfen ihre HearMe-Geräte nicht aus den Fenstern. Die Welt geht nicht aus den Fugen. Sie fügt sich.

Anders als in den klassischen linken Bewegungen gibt es bei Every kein Fernziel, kein Telos. Zwar müssen noch ein paar Winkel der Welt gereinigt und perfektioniert werden. Aber grundsätzlich ist die Zukunft schon da. Die Macht liegt in den richtigen Händen. Der Schlüssel zu Mae Hollands Erfolg steckt in einem Begriff, der ihr die Gefolgschaft auch der konservativen Amerikaner und mehr oder weniger aller Bewohner der westlichen Welt bringt: Sicherheit. Für das Versprechen eines planbaren und überraschungsfreien Lebens geben die meisten die Kontrolle ab, was ihnen um so leichter fällt, da sie nicht direkt eine Diktatorenfigur oder eine Partei damit beauftragen, sondern ein technisches System.

Eggers Roman führt über das Gegenspiel von Untergrundagentin und System ziemlich schnell zu der innersten Frage, ob eine Mehrheit überhaupt wünscht, ihre Lebensentscheidungen selbst zu treffen. Wenn die vielen technischen Hilfen, die das Leben strukturieren, für Millionen irgendwann zum Exoskelett werden – ist dann nicht derjenige grausam, der ihnen diesen Halt zerstört, der ja für viele schon alternativlos ist?

Zu den komischsten und zugleich traurigsten Szenen des Buchs gehört ein Strandausflug, den Delaney für ihre Kollegen organisiert. Jeder neue Every-Beschäftigte muss zum Einstand eine kleine Veranstaltung organisieren, in der er sich vorstellt, und die Untergrundagentin – eine ehemalige Park-Rangerin – hält es für eine gute Idee, mit den Kollegen an eine Bucht zu fahren, in der eine Kolonie von See-Elefanten besichtigt werden kann. Fast alle Every-Beschäftigten im Bus erleben beziehungsweise überleben – sie bezeichnen sich später als Überlebende – die Exkursion in die Natur als zutiefst verstörendes Ereignis.

Schon der Anblick von Weidekühen auf der Fahrt erschüttert einige nachhaltig („Für einen Veganer ist das hier der Holocaust“), der Strand ist einigen zu sandig, die Sonne zu gefährlich, fast alle bemängeln die fehlenden Absperrungen zwischen sich und den See-Elefanten und stellen die Frage, ob es moralisch angemessen ist, sie anzuschauen. Aber auch die härteste Gruppe, die Sand, Sonne und Tiere überhaupt erträgt, schießt nur ein paar Fotos von sich und den Säugern im Hintergrund. „Das dauerte acht bis zehn Minuten, danach wussten sie nichts mehr mit sich anzufangen.“

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Der Roman erzählt von einer, wie es jemand nennt, „Evolution innerhalb der Spezies“, die einen neuen Menschen hervorbringt. Der Homo novus everyensis muss tatsächlich von einer App ablesen, ob ihm das Essen geschmeckt hat. Er braucht Programme, die ihm den Tag strukturieren, und es stürzt ihn in tiefste Verwirrung, wenn es ihn in ein derart chaotisches und unoptimiertes Etwas wie der Natur verschlägt. Der Hauptvorwurf der Überlebenden des Drake Bay Desasters lautet, Delaney habe ihnen mit dem Ausflug etwas zugemutet, worauf sie nicht vorbereitet waren.

Neben Sicherheit ist Reinheit das zweite Schlüsselwort für die neuen Menschen. In seinem Agententhriller wechselt Eggers raffiniert, gewissermaßen undercover die Perspektiven: Eigentlich erweisen sich die von Everys Produkten geformten und genormten Menschen als höchst zerbrechlich, und Delaney als deren größte anzunehmende Bedrohung.

Bei Eggers spricht niemand die Erkenntnis explizit aus, aber sie bildet den Kern des Romans, und es ist mehr oder weniger der gleiche wie in „1984“, in „Fahrenheit 451“ und in „Unterwerfung“: Die Freiheit einer Gesellschaft hängt in letzter Instanz nicht von einer Partei oder einem Konzern ab, sondern davon, ob ausreichend viele Mitglieder der Gesellschaft frei sein wollen. Es ist ein Paradox, oder um es mit Hegel zu sagen, eine schiefe Stellung der Logik:

Der Grad der individuellen Freiheit unterliegt der kollektiven Entscheidung.

Bei „Every“ fällt natürlich auch auf, wie Eggers sich mühen muss, sein Buch noch als Dystopie erscheinen zu lassen, also einen Mindestabstand zwischen der Gegenwart und seiner Handlung herzustellen. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern beispielsweise, die verkündet: Your government is your single source of truth“, könnte samt Mimik und Tonlage aus dem Führungszirkel von Every stammen. Von Ardern stammen auch die Sätze: „Menschen, die geimpft sind, wollen wissen, dass sie von Menschen umgeben sind, die auch geimpft sind. Sie wollen wissen, dass sie in einer sicheren Umgebung sind.“

Ob hier, ob bei der Einrichtung von „safe spaces“ in westlichen Universitäten, der Säuberung von Bibliotheken und Verlagsprogrammen oder der kürzlich vorgetragenen Forderung, beispielsweise die gesamte Frankfurter Buchmesse zu einem einzigen safe space zu machen – immer steht Sicherheit im Zentrum der Argumentation, aus der folgt, dass dann alles, was jemanden auch nur irritieren könnte und die Reinheit stört, eliminiert werden muss.

In den Everyones erkennen die Leser auch Figuren wie Luisa Neubauer und Greta Thunberg wieder, die sich eigentlich auf kein Gespräch mehr einlassen, sondern nur ihre Textbausteine in Endlosschleife wiederholen, und immer wieder auf die Daten verweisen, mit denen man nicht diskutieren könne, und auf die Wissenschaft, die der Gesellschaft sagt, wo es langgeht. Diesen Phänotyp gab es natürlich schon immer. Neu ist, dass er zur Überlebensgröße aufsteigt und ganze Gesellschaften lenkt. Eggers Romanzukunft ist also eigentlich schon da.

In seinem Buch gibt es das klassische Finale aller Held bzw. Heldin kommt in das Zentrum des Imperiums um es zu zerstören-Plots: Die direkte Konfrontation der Hauptfiguren, also Delaney Wells und Mae Holland allein in den Bergen mit zauberhafter Aussicht.

Und es gibt nur eine, die gewinnt.

Diese Besprechung von Alexander Wendt erschien zuerst auf Publico.

Dave Eggers. Every. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, 592 Seiten, 25,00 €.


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Kommentare ( 17 )

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Heiner Mueller
1 Jahr her

Das gleiche Thema wird in John Brunners Dystopie: „Der Schockwellenreiter“ von 1979 behandelt. Dazu eine Rezension aus „Phantastic. couch“: Wenn es ein Phänomen wie das absolute Böse überhaupt gibt, dann besteht es darin, einen Menschen wie ein Ding zu behandeln. (John Brunner) Es sind diese entsetzlich tüchtigen Leute, die mit ihren präzise funktionierenden Fischgehirnen Menschen auf Stückgut, auf Menschenmaterial, auf Zahlenkombinationen reduzieren, um sie in den Griff zu bekommen, um sie als numerische Größe in ihren Kalkülen handhaben zu können. Dieser Roman zeigt am Beispiel des Superhackers Nick, was geschehen kann, wenn dieser elektronische Perfektionismus erreicht ist. Dann bedarf es… Mehr

Medienfluechtling
2 Jahre her

Auch wenn man es kaum glauben mag, ich fühle mich immer mehr an den Film „Demolition Man“ mit Sylvester Stallone erinnert. Trotz martialischem Titel eine Parodie auf aktuelle Zeiten. Auch wenn damals noch nicht absehbar war, das es keine männlichen Hauptdarsteller mehr geben darf…

luxlimbus
2 Jahre her

Antwort – (sehr) frei nach Woody Allen: Nein – sie (die Menschheit) will allerdings auch nicht ohne Not einem Klub angehören, der Aspiranten, welche frech die Unfreiheit postulieren, bei sich aufnimmt. 

j.heller
2 Jahre her

Das ist vielleicht DIE Frage schlechthin. Wollen die Menschen frei sein?
Meine These zum Irrsinn, der sich seit Jahren hier und im Westen allgemein zeigt, ist:
er hat sein Ursache darin, dass die Menschen die Freiheit nicht ertragen. Höchstens solange es ihnen anscheinend materiell immer besser und besser geht, wie bis ca. zur Jahrtausendwende. Sobald das Vertrauen darin schwindet (HartzIV, Bankenkrise, usw.) greifen religiöse und quasi-religiöse Wahnideen, wie Islam und der neolinke Wokeismus, um sich. Das Christentum ist allerdings im Westen so abgehalftert, dass es sich auch mit dem Wokeismus verbündet hat.

thinkSelf
2 Jahre her

„Will die Mehrheit der Menschen überhaupt frei sein?“
Die Frage ist für eine Gattung die als Herdentier konstruiert ist eh nur rhetorischer Natur. Die Mehrheit will das nicht nur nicht, sie ist genetisch bedingt dazu gar nicht in der Lage.
Herdenverhalten ist eine Methode der Optimierung (Minimierung des energetischen Aufwandes), während Individualität, also Autonomiefähigkeit eine Methode zur Erhöhung der Anpassungsfähigkeit ist. Das erzeugt allerdings, entsprechend den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, energetische „Kosten“. Das Optimum aus beiden lässt sich daher in der Realität gut beobachten. 80% Heloten und 20% Autonomiefähige.
Das war immer so und es wird immer so bleiben.

Mausi
2 Jahre her
Antworten an  thinkSelf

Das sehe ich auch so. Ich frage mich, ob es in Zukunft über die Digitalisierung denjenigen der 20%, die die Macht errungen haben, gelingt, einen so langen Hebel zu schaffen, dass sie nicht mehr zu stürzen sind.

j.heller
2 Jahre her
Antworten an  thinkSelf

Man könnte auch sagen 80% Idioten, mindestens. Schopenhauer sah das auch etwa so. Menschen die sich niemals selbst wirklich in Frage stellen können, fehlt, so hart es klingt, eine wesentliche Bedingung zum Menschsein. Die Meisten werden schlicht getrieben von ihren Prägungen und Gefühlen und benutzen ihren Verstand nur um das was sie wollen, scheinbar rational zu begründen.

Politkaetzchen
2 Jahre her

Ich stimme ihnen zu, aber eine Abspaltung wird nicht funktionieren. Der Westen ist komplett von der Dekadenz verseucht und in 3 Weltländer aus wandern kann auch nicht jeder.

Aber ich bin insofern zuversichtlich, dass ein Zsmbruch gerade in Deutschland den Spuk ein Ende setzen wird. Wenn die Glotze aus, der Bauch leer und die Bude kalt ist, während es nachts draußen ziemlich unschön wird, wird so manchen ein Augenöffner sein, auch wenn sie zunächst heulen werden, dass „sie nix gewusst hätten“.

Teiresias
2 Jahre her

Kollektivisten träumen vom glücklichen Kollektiv.

Für das Ziel des glücklichen Kollektivs erscheint es ihnen angemessen, das Glück von Individuen zu opfern.

Wenn nötig aller Individuen.

Hoffnungslos
2 Jahre her
Antworten an  Teiresias

Es geht nicht um Glück. Es geht um Macht, die Macht einzelner über alle anderen.

Johann Thiel
2 Jahre her

Laut Wikipedia sieht Eggers in Trump „einen wahrhaft Verrückten, einen absolut instabilen Irren“
Damit ist dieser Autor für mich mehr ein angepasster Kenner der Wünsche des Literaturbetriebs, als ernstzunehmender Gesellschaftskritiker. Alexander Wendts Begeisterung stehe ich dementsprechend eher skeptisch gegenüber, sicher aber ein wenig ermüdet, ob des langen Beitrags.

Mausi
2 Jahre her
Antworten an  Johann Thiel

Nun, des Autors Meinung zu Trump bedeutet ja nicht, dass der Roman schlecht sein muss.

Johann Thiel
2 Jahre her
Antworten an  Mausi

Keineswegs, aber man möchte doch wissen wer der Autor ist und wie er denkt und dann macht auch ein gutes Buch manchmal nur nur noch halb soviel Spaß.

Schwabenwilli
2 Jahre her

„eine Kernfrage: will die Mehrheit der Menschen überhaupt frei sein?“

Dürfte doch geklärt sein.
Schöne neue Welt gibt die Antwort darauf.

Hoffnungslos
2 Jahre her
Antworten an  Schwabenwilli

Argumente kommen selten von Mehrheiten. Minderheiten stellen ihre Argumente öffentlich zur Diskussion. Die Mehrheit hört zu und kann dann entscheiden. Aus genau diesem Grund ist die freie, öffentliche Diskussion so wichtig. Das Verbot freier, öffentlicher Debatten auf allen Ebenen ist der bewusste Tod jeglicher Freiheit.

gorbi
2 Jahre her

Die Taktik vom Normalbürger hat grosse Vorteile. Jeweils das bestehende System gut finden . Jahr 1936, das findet man toll. Dann 1970 , DDR- Super. Heutzutage Klima retten, Impfen ist ganz wichtig, und Migration, ja,ja, selbstverständlich.Dafür gibt’s überall Schulterklopfen und Anerkennung. Freiheit ? Wozu ? Für eine posthume Ehrung auf dem Friedhof ?