Aus der Spannung zweier Zeitebenen, die den Roman durchziehen, der Zeit der Wende und dem August 2015, der Zeit der Wende der Wende, der Rückkehr zu vielem, was man aus der DDR kennt, einer neuen sozialistischen Utopie, jetzt klimaneutrale Gesellschaft genannt, wird Tellkamps Roman zu einem Geschichtswerk.
Was früher zum literarischen Betrieb gehörte, dass man auf den „neuen Grass“ oder die „neue Christa Wolf“ gespannt gewartet und der literarische Betrieb kurz vor Erscheinen bereits in eine wohlige, vibrierend-neugierige Aufregung geriet, was mit dem Verlust des Konzepts der Nachwelt nun der Vergangenheit anzugehören scheint, trat in diesem Frühjahr mit Tellkamps neuem Roman „Der Schlaf in den Uhren“ unerwartet wieder zurück ins literarische Leben. Kein Text wurde mit so großer Spannung wie dieser erwartet. Mancher wird darin nur allzu gern ein Produkt des Marketings sehen wollen, doch erlahmt die Kraft des Marketings, wo es an Literatur, an literarischer Qualität gebricht. Tellkamps Roman, um es in einem Satz zu fassen, ist Literatur. Und er ist, wie es zum Wesen der Literatur gehört, eine Zumutung.
Literatur muss dem Leser etwas zumuten, sonst nimmt sie weder den Leser noch sich selbst ernst. Weil das die Kritiker und Rezensenten, die Juroren und Preisrichter und Stipendienverteiler vergessen haben – Texte weitgehend nicht literarisch, sondern lediglich ideologisch oder auch nach der Herkunft oder sexuellen Orientierung ihrer Autoren beurteilt werden, ist die deutsche Literatur in weiten Teilen nur noch eine melancholische Verlustmasse, Texte, die unter Wirklichkeitsauszehrung leiden. Auch deshalb, auch aus Gründen der gegenwärtigen Öde, wurde der „neue Tellkamp“ wie in alten Zeiten erwartet.
Es sei gleich vornweg gesagt, Tellkamps Roman erinnert an eine Kathedrale der Spätgotik, in der sich alle Orthodoxien und alle Häresien der Zeit im gewaltigen Raum, der entdeckbar, aber letztlich in seiner Gesamtheit unerkundbar bleibt, finden. „Der Schlaf in den Uhren“ erinnert an die universellen Summen des Hochmittelalters, den Summen des Thomas von Aquin, in der keine Tatsache des Lebens, nicht einmal die allerkleinste unerwähnt bleibt.
Das ist es, was Fabian Hoffmann, Tellkamps Protagonist, seinen Lesern bekannt aus seinem letzten, zurecht gefeierten Roman „Der Turm“, eigentlich herauszufinden versucht, er fahndet in all dem, was passiert ist, nach dem inneren Sinn des Geschehenen:
„ … in die Chronik, heißt es, kommen die Sucher,
die meist, wie »Nemo«, wie ich, Suchende sind und geblieben sind,
in die Chronik kommen diejenigen, denen alles ein Rätsel ist:
Liebe, Geld, das andere und das eigene Ich, runde Gullydeckel, Buntspechte, die schwarzweiß sind, Büroklammern,
Bleistifte mit ihren Minen aus dem Material der Schrift.“
Diese Stelle erinnert sehr an Jack Kerouacs romantisches Bekenntnis: „Denn die einzigen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt sind aufs Leben, verrückt aufs Reden, verrückt auf Erlösung, voll Gier auf alles zugleich, die Leute, die niemals gähnen oder alltägliche Dinge sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen und wie Feuerräder unter den Sternen explodieren, und in der Mitte sieht man den blauen Lichtkern knallen und alle rufen »Aaah!« Wie nannte man solche jungen Leute in Goethes Deutschland?“
Es soll hier nicht vertieft werden, aber Tellkamp ist auch ein Romantiker, sein Roman spielt mit der Poetik der Romantik, mit der E.T.A. Hoffmanns unter anderem.
Fabian Hoffmann, aus dessen Perspektive zumeist die Geschichte erzählt wird, ist Sohn des Toxikologen und Dissidenten Hans Hoffmann. Fabian ist der Bruder der aufrührerischen Zwillingsschwester Muriel. So wie Zwillinge eine besondere Nähe besitzen, der eine schwer ohne den anderen zu leben vermag, so ist auch Muriel Teil von Fabians Wesen: der andere Teil, das, was in ihm ist und von ihm nicht gelebt wird, der stete Vorwurf an ihn, an seine mangelnde Kompromisslosigkeit, seine Neigung, sich anzupassen.
Mit wenigen Strichen zeichnet Tellkamp meisterhaft den Zwiespalt zwischen Provokation, Rebellion und Klugheit, der sich in allen Schülern im Klassenzimmer – vor allem aber in Fabian – auftat, nachdem Muriel im Staatsbürgerkundeunterricht den Lehrer mit dem Vorwurf konfrontierte, dass der Lehrer lüge, wenn er behauptete, dass es „eine alleinseligmachende Wahrheit geben“ könne, „daß Marx klüger sei als der Philosoph Kant, daß überhaupt alle die sogenannten bürgerlichen Philosophen ein bißchen doof seien, nicht ganz zurechnungsfähig“.
„Der Lehrer, Herr Hecht, beobachtete die Reaktion der Schüler,
kratzte sich sein weißes Haar langsam und bedächtig,
ich saß reglos in meiner Bank, teils stolz auf meine Schwester,
daß sie aufzustehen und zu sagen wagte, was in der Klasse fast alle dachten, aber nicht aussprachen, so wie auch ich es dachte
und nicht aussprach, teils gekränkt über die Rücksichtslosigkeit,
die im Verhalten Muriels uns, aber auch dem Lehrer Hecht gegenüber lag, sie stempelte uns durch ihren Mut, ihr Aufsspielsetzen aller Zukunftschancen, zu Duckmäusern, und keiner konnte behaupten,
daß das nicht so sei, einer vor dem andern, eine vor der anderen waren wir dadurch, daß Muriel aufgestanden war, zu denen gerückt,
die nicht aufgestanden waren, nicht ihren Mund aufgemacht hatten,
um zu sagen, was sie wirklich dachten, und rücksichtslos
war es auch Herrn Hecht gegenüber, der natürlich, was erwartete Muriel, daß er antworten würde, sein Gesicht nicht verlieren durfte,
ja ich fragte mich, gelähmt in meiner Bank, ob Muriel nicht spürte,
in welche Klemme sie Herrn Hecht brachte.“
Dieser Zwiespalt wird auch in den beiden Aufgaben, die der Chronist Fabian Hoffmann erledigen will, die von der Tausenduneinenachtabteilung bestellte Chronik zum Jahresstag der Wiedervereinigung und der selbstgestellten Mission, herauszufinden, wer damals Muriel und seinen Vater an die Stasi verraten habe, deutlich. Doch wie gehen diese beiden Projekte in einer Person zusammen, denn die eine der Pointen lautet, dass die Stasi ihr überleben nur in der Operation „Uno“, in der Operation Wiedervereinigung sichern konnte und Fabian in ihrem Auftrag und zugleich gegen sie handelt?
In den Tiefen der Gesellschaft arbeitet eine mächtige Organisation, die den Staat übernommen hat, seine Narrative bestimmt und die Information seiner Bürger überwacht, eine Institution die Herrschaft durch Diskursherrschaft produziert. Doch Tellkamp, und darin liegt die Meisterschaft des Romans, baut in geschliffener Prosa und mit untrüglichem Gespür für den Prosarhythmus der Sätze eine Welt, etwas das im naturalistischen Sinne nicht real, aber im realistischen Sinne wirklich ist, eine Welt, die aus sich selbst heraus lebt, wie es Literatur immer wieder vermag, die dadurch erst wirklich wird, dass sie eben nicht die Welt wie ein Postkartenmotiv wiederzugeben versucht, sondern das Wesentliche zur Erfahrung bringt.
Aus der Spannung zweier Zeitebenen, die den Roman durchziehen, der Zeit der Wende und dem August 2015, der Zeit der Wende der Wende, der Rückkehr von vielem, was man aus der DDR kennt, einer neuen sozialistischen Utopie, jetzt klimaneutrale Gesellschaft genannt, entsteht deutsche Geschichte, wird Tellkamps Roman ein Geschichtswerk, das sowohl in die unmittelbare Gegenwart, bis in die Zeit unmittelbar vor dem ersten Weltkrieg, der deutschen Urkatastrophe reicht.
Im Mittelpunkt des Romans steht auch das Wesen der Macht, was Menschen mit ihr machen, was sie aus Menschen macht. Man kann in den Figuren des Romans, in kurzen wie in längeren Auftritten unter vielen anderen Konrad Adenauer, Helmut Kohl, Erich Honecker, Peter Hacks, Günter Grass, Rudolf Augstein, Lothar de Maiziere, Thomas Kuczynski und als Hauptfiguren auch Thomas de Maizière und Angela Merkel sehen. Aus vielen Strömen fließt in diesem Roman Geschichte zusammen, ob es die Wendereignisse sind, die Arroganz westdeutscher Eliten gegenüber den Ostdeutschen, denen man die Friedliche Revolution vorwarf, die die biedermeierliche Welt des westdeutschen juste milieu störte, die Erfindung der Klimaapokalyptik oder Merkels Migrationspolitik – all das wird mit feiner Parodie in überraschenden Episoden erzählt.
Doch der eigentliche Protagonist des Romans ist der Roman selbst, die erzählte Welt als Kosmos. Treva, das manche für einen fiktiven Staat halten mögen, ist eigentlich nicht der erzählte Staat, sondern eher eine Schicht, eine Soziologie als Zoologie des erzählten Staates, die tonangebende, letztlich linksliberale, saturierte westdeutsche, hier hanseatisch karikierte Schicht. Nicht die Geographie der Erde, sondern die Geographie der Gesellschaft bildet den Handlungsraum.
Hölderlins großes Gedicht „Der Archipelagus“, auf das Tellkamp im Untertitel des Romans verweist, ist eine Verlustanzeige, es erzählt den Verlust von Kultur und Geist, von Herkunft, von Geschichte und Tradition, von dem, was man im klassischen Sinn Griechisch oder Athenisch nennen kann. So fragt Hölderlin in seinem Großen Gesang:
„Sage, wo ist Athen? ist über den Urnen der Meister
Deine Stadt, die geliebteste dir, an den heiligen Ufern,
Trauernder Gott! dir ganz in Asche zusammengesunken,
Oder ist noch ein Zeichen von ihr, daß etwa der Schiffer,
Wenn er vorüberkommt, sie nenn‘ und ihrer gedenke?“
Gedenken, Erinnern, Erkunden – all das unternimmt Tellkamp in seinem Roman, der erst der Anfang ist für ein Werk gegen den Zeitgeist im Auftrag der Zeit:
„und wenn die reißende Zeit mir
Zu gewaltig das Haupt ergreift und die Noth und das Irrsaal
Unter Sterblichen mir mein sterblich Leben erschüttert,
Laß der Stille mich dann in deiner Tiefe gedenken.“
Noch gehen wir an den Uhren vorüber, noch schläft die Zeit in ihr. Doch wenn der Verlust beschrieben wird, dann wird die Zeit in den Uhren geweckt. Davon hofft man, im Archipelagus II zu lesen.
„Die Zeit im Grund, Quin-quin, die Zeit, die ändert doch nichts an den Sachen. Die Zeit, die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie“, zitiert der Romancier das Hofmannsthalsche Libretto des „Rosenkavaliers“ in seinem anspielungsreichen und überaus lesenswerten Roman, Anspielungen, die von E.T.A. Hoffmanns „Goldenen Topf“, aus dem die Idee der Vigilien stammen mag, bis hin zu Uwe Johnsons „Jahrestage“ und Heimito von Doderers Poetik herrühren.
Die Maßeinheit des Verlustes ist die Zeit – vorerst.
Uwe Tellkamp, Der Schlaf in den Uhren. Archipelagus I, Suhrkamp Verlag, Hardcover mit Schutzumschlag, 904 Seiten, 32,00 €.
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Literaturkritik vom Feinsten, Herr Mai! Was für ein Unterschied zur „Behandlung“ des Romans durch die selbsternannten „Qualitätsmedien“.
Obgleich ich ein Satzzeichen- u. daß-Fetischist bin und außdem glaube, daß hier ein ganz besonders gutes Buch vorliegt, werde ich mir den „neuen“ Tellkamp nicht holen oder lesen. Wozu 904-Seiten-Zeit darauf verschwenden, um über Dinge zu lesen, welche mir bereits bekannt?
Zieht ihr anderen euch das mal rein. Ich empfehle es ausdrücklich.
Für mich wurde das „Lexikon der politischen Symbole“ geschrieben. Es liegt hier auf meinem Schreibtisch und ich bewundere allein schon seine physische Existenz 🙂
Ja, toller Roman. Man kommt nicht ganz so schnell rein in eine lineare Handlung – wer so etwas erwartet, muss sich einen Houellebecq hereinziehen. (Damit meine kleine Nebenempfehlung.)
Doch, der neue Tellkamp ist wirklich ein Genuss und eine intellektuelle Bereicherung. Aus der DDR-Erfahrung und aus den heraus gefilterten Machtstrukturen lernt man viel über unser heutiges Deutschland.