Dieses Buch ist kein Abenteuerroman, keine Beziehungskiste und wenig actiongeladen. Es lebt vom Paradoxon epischer Reisebeschreibung und winziger Anekdoten. Es führt kein Weg daran vorbei: wer wirklich etwas über Marco Polo und die Welt, in der er sich bewegt hat, wissen will, muss an die Quellen, muss an das Milione
Genua, Ende des 13. Jahrhunderts. Im Kerker des Palazzo San Giorgio fristet der Pisaner Rustichello seit Jahren ein tristes Dasein. In der Freiheit hatte er sich einen Namen als Verfasser von Ritterromanen gemacht. Doch seine Heimat Pisa hat im jahrhundertelangen Konflikt mit der Rivalin Genua den Kürzeren gezogen. Nach der verlorenen Galeerenschlacht von Meloria, einer der größten der Weltgeschichte, gerät er wie tausende seiner Landsleute in Kriegsgefangenschaft. Im Mittelalter rudern noch die freien Bürger; das heißt allerdings auch, dass eine verlorene Schlacht den Verlust der tonangebenden männlichen Bürgerschaft bedeutet. Zynisch spotten die Italiener in dieser Zeit: willst du Pisaner sehen, dann geh nach Genua!
Rustichello harrt nun bereits seit Jahren aus. Doch ein Mann bringt Abwechslung in seine Routine. Denn Genua ringt nicht nur mit Pisa, sondern auch mit Venedig. Und wie Pisa hat auch Venedig eine ziemliche Schlappe hinnehmen müssen, namentlich in der Schlacht von Curzola (Korčula). Den Pisanern leisten seitdem auch zahlreiche Venezianer Gesellschaft. Einer davon ist ein Händler, der Rustichellos Aufmerksamkeit besonders weckt. Der Mann ist mehr in der Welt herumgekommen als jeder andere. Sein Name: Messer Marco Polo. Er erzählt Rustichello von seiner abenteuerlichen Reise bis an den Kaiserhof des Mongolen Kublai Khan und der sagenhaften Welt des fernen Orients, der für Europäer einem Märchenland ähnelt.
Sagen, Märchen, Legenden – das gilt auch für diese Geschichte. Denn Historiker haben mittlerweile berechtigte Zweifel geäußert, ob Rustichello wirklich ein Gefangener von Meloria, Marco Polo von Curzola war; dass die beiden wirklich im Gefängnis saßen; und überhaupt wie sich die Entstehung jenes Buches „Der Wunder der Welt“ ereignete, das nicht nur das Hochmittelalter inspirieren, sondern auch Entdecker wie Christoph Columbus faszinieren sollte. Sie sollten Jahrhunderte später, angestachelt von den Erzählungen über den Reichtum des Ostens, den Seeweg nach Indien suchen.
Letzteres allein führt vor Augen, dass Marco Polos Reisebericht einen Bestsellercharakter hatte, der in der Kultur des Mittelalters auf einer Höhe mit Dantes Göttlicher Komödie rangierte; und wie Dantes Epos, so war auch dieses in das Gewand eines Ritterromans gehüllte Werk eine Summe mittelalterlicher Erkenntnisse und nicht nur bloße Unterhaltung.
Das Vorurteil, die Reisen seien nichts weiter als ausgedachte Märchen, ist immer noch virulent. Noch gegen Ende des letzten Jahrhunderts hatte Frances Wood mit ihrem populärwissenschaftlichen Buch (Marco Polo kam nicht bis China) teils irrige Theorien und vermeintliche Belege angeführt, die immer noch fest im Kulturbetrieb stecken. Dazu gehören Scheinargumente wie die Nichtnennung der Chinesischen Mauer – die in der Mongolenzeit keine Rolle spielte und deswegen verfallen war – oder die Nichtnennung von Tee in einer Gesellschaft, die zu Polos Zeiten Stutenmilch bevorzugte. In eine ähnliche Richtung geht der Vorwurf, Polo habe nie die chinesischen Schriftzeichen erwähnt; ein interessantes Argument, hat Polo doch auch nie die arabischen, armenischen oder indischen Schriften genannt. Für einen Kaufmann war es schlichtweg üblich, dass andere Völker andere Schriften hatten, doch so viel gesunden Menschenverstand will man dem mittelalterlichen Menschen wohl nicht zutrauen.
Die Frage nach der Authentizität der Reise kann man jedenfalls nicht vom Wert des Buches trennen. Um es klarzustellen: trotz einiger Ungereimtheiten besteht in der wissenschaftlichen Fachwelt längst der Konsens, dass Marco Polo in China war, insbesondere, weil er über Dinge schreibt, die er kaum aus zweiter Hand erfahren haben konnte: etwa die Details zur Papiergeldherstellung und den Salzhandel, die so wichtig für den chinesisch-mongolischen Staatsapparat waren, dass sie ein Ausländer wohl kaum beim Plausch mit dem persischen Händler von nebenan erfahren hätte. Dazu gehört auch die Beschreibung des Geleits einer mongolischen Prinzessin nach Persien und nicht zuletzt der Besitz einer paiza, also jener goldenen Platte, die als Ausweis im riesigen Mongolenreich galt – und testamentarisch verbürgt ist.
Die Unstimmigkeiten, die auch dem Leser auffallen, wenn er den ansonsten nüchternen Reisebericht liest, sind auch stark mit der Person des Romanschreibers Rustichello verbunden. Man kann letzteren einen Dan Brown des Hochmittelalters bezeichnen, der eine trockene Story „aufgepeppt“ hat, um Polos Bericht mit Elementen des Artusromans anzureichern: Kublai Khan und sein Hofstaat werden so zu einer fernöstlichen Tafelrunde, die Polos zu Händlern auf Mission im Namen des Kaisers. Die Kunst, das Milione zu lesen, besteht darin, diese „zwei Seelen in der Brust“ des Buches zu begreifen: der Romanschreiber, der das Publikum begeistern will und der Venezianer, der berichtet, wie es war.
Es sind solche Anekdoten, deretwegen das Milione auch für das moderne Publikum Wert hat: es räumt mit einigen Vorstellungen auf, was die vermeintliche Enge der Vergangenheit betrifft. Der Venezianer, sein Onkel und sein Vater treffen auf ihrem Weg nach China immer wieder nestorianische Christen. Das mongolisch beherrschte China ist ein Vielvölkerstaat, in dem etwa die Türken eine große Rolle spielen. Überall trifft der Erzähler auf Personen und Geschichten, die er wiedergibt. Kaum ein Mensch dieser Jahrhunderte hat einen solchen Reichtum an gesammelten Darstellungen und Erzählungen aufzuweisen, die aneinandergereiht den Kosmos des 13. Jahrhunderts ergeben. Es spielt dabei keine Rolle, ob das, was er erzählt, immer den Fakten entspricht: für die Menschen ist diese Welt wahr. Michael Yamashita hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts einen beeindruckende Fotodokumentation (Marco Polo. Eine wundersame Reise) von den Reisestationen des Marco Polo vorgelegt und sich dabei zutiefst gerührt gezeigt, dass diese Welt zumindest in einigen Teilen Zentralasiens immer noch besteht.
Marco Polo teilt damit eine merkwürdige Verwandtschaft mit J. R. R. Tolkien in der Hinsicht, dass sein Stoff trotz einiger Versuche als unverfilmbar gilt. Alle Marco-Polo-Projekte, ob eine Netflix-Serie der 2014er, ein Film aus dem Jahr 2007 oder auch die italienische Mini-Serie aus den 1980er Jahren sind im Grunde am Stoff gescheitert und qualitativ durchwachsen; zumindest von letzterer bleibt der Soundtrack von Ennio Morricone. Der Grund für dieses Scheitern ist nicht zuletzt die Schwierigkeit, dass das Buch kein Abenteuerroman, keine Beziehungskiste und wenig actiongeladen ist. Es lebt von dem Paradoxon epischer Reisebeschreibung und winziger Anekdoten; das ist ein Stoff, der deswegen wenig für die Leinwand taugt, will man ihn nicht komplett zerstückeln. Es führt kein Weg daran vorbei: wer wirklich etwas über Marco Polo und die Welt, in der er sich bewegt hat, wissen will, muss an die Quellen, muss an das Milione.
Der Manesse-Verlag hat nun zum 700. Todestag (8. Januar 1324) des mittelalterlichen Globetrotters eine Jubiläumsausgabe herausgebracht. Sie beruht im Kern auf der soliden Ausgabe von 1983, hat aber einen entscheidenden Vorteil: die unzähligen Fußnoten, die dem modernen Publikum die Orientierung in der Welt des 13. Jahrhunderts erleichtern, sind nun nicht mehr am Buchende, sondern in einer solchen Weise als Textumrandung eingebettet, dass das müßige Nachschlagen ein Ende hat. Bereichert um einen informativen Anhang und eine Zeittafel ist das Buch immer noch die ideale Einstiegshilfe für Marco-Polo-Interessierte. Illustrationen aus dem mittelalterlichen Manuskript schmücken den Text und unterstreichen einige der wichtigsten Passagen.
Alles, was an seinem Charakter spannend war, lässt Polo unerwähnt, es kann nur zwischen den Zeilen gelesen werden. Etwa, dass er seinen Vater Niccolò und seinen Onkel Maffeo im Grunde bis zum 18. Lebensjahr kaum gekannt hatte, und als diese aus dem Orient zurückkehrten, sie den jungen Marco sofort der Mutter entrissen; eine schwere Erkrankung, an der er beinahe frühzeitig gestorben wäre; dass er mehr Zeit im Ausland verbrachte als in der Heimat; und das unermessliche Heimweh der Polos, an dem sie trotz dieser langen Zeit litten; der Unglaube der Venezianer, ob es sich bei den Polos um Landsleute handelte, weil sie über die Jahrzehnte so fremdländisch geworden waren wie die Asiaten …
Nein, Polo nimmt sich zurück. Er muss es auch; die Geschichte, die er zu erzählen hat, erstickt ihn förmlich und drängt ihn in den Hintergrund. Polo weiß, dass das, was er mitzuteilen hat, größer ist als er selbst. Als man ihn auf dem Sterbebett darum anbettelt, er solle doch endlich seine Lügen beichten, damit ihm der Himmel nicht verwehrt würde, antwortet der Venezianer stolz: er habe ja nicht einmal die Hälfte dessen erzählt, was er erlebt habe. Das ist die einzige Melancholie, die dem Marco-Polo-Leser bleibt: die Urfassung des Buches, die eigentliche Geschichte, bleibt unbekannt. Marco Polos Buch ist auch immer ein Buch aus Rustichellos Hand. Deshalb war es auch nie ein Buch des Marco Polo – sondern das Buch der Wunder.
Marco Polo. Il Milione. Die Wunder der Welt. Der berühmteste Reisebericht aller Zeiten in einer prachtvollen Schmuckausgabe zum 700-Jahr-Jubiläum. Mit einem Nachwort von Tilman Spengler. Manesse Verlag, 432 Seiten, 45,00 €.
Ganzleinenband, fadengeheftet, Lesebändchen, mit zahlreichen vierfarbigen Illustrationen aus dem mittelalterlichen Codex Bodley 264.
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Klingt spannend. Das werde ich mir mal zulegen…