Das Sehen auf etwas und das Sehen entlang von etwas

Es gilt als ausgemacht, dass wir, um die wahre Beschreibung von Religion zu erhalten, nicht religiöse Menschen fragen müssen, sondern Anthropologen, dass wir, um die Wahrheit über erotische Liebe zu erfahren, nicht zu Liebenden gehen müssen, sondern zu Psychologen … Von C.S. Lewis

Ich stand heute im dunklen Geräteschuppen. Draußen schien die Sonne und durch einen Spalt am oberen Ende der Tür kam ein Sonnenstrahl herein. Von dort, wo ich stand, war dieser Lichtstrahl mit den sich in ihm bewegenden Staubkörnchen die auffälligste Gegebenheit im Raum. Alles andere war nahezu stockdunkel. Ich sah den Strahl, aber keine Dinge durch ihn.

Dann bewegte ich mich und der Strahl traf meine Augen. Sofort verschwand das vorherige Bild. Ich sah keinen Geräteschuppen mehr und (vor allem) keinen Strahl. Stattdessen sah ich, umrandet von der unregelmäßigen Ritze am oberen Ende der Tür, grüne Blätter, die sich draußen auf den Ästen eines Baumes bewegten, und dahinter, gut neunzig Millionen Meilen entfernt, die Sonne. Am Strahl entlang sehen und auf den Strahl sehen sind zwei völlig verschiedene Erfahrungen.

Aber das ist nur ein sehr einfaches Beispiel für den Unterschied zwischen dem Sehen auf etwas und dem Sehen entlang von etwas. Ein junger Mann trifft ein Mädchen. Die ganze Welt sieht anders aus, wenn er sie sieht. Ihre Stimme erinnert ihn an etwas, von dem er sein ganzes Leben lang versucht hat, sich daran zu erinnern, und zehn Minuten Unterhaltung mit ihr sind kostbarer als alle Gefälligkeiten, die ihm alle übrigen Frauen der Welt erweisen könnten. Er ist, wie man sagt, «verliebt». Nun kommt ein Wissenschaftler und beschreibt diese Erfahrung von außen. Für ihn ist das alles eine Sache der Gene des jungen Mannes, ein wohlbekannter biologischer Impuls. Das ist der Unterschied zwischen einem Sehen entlang des sexuellen Impulses und einem Sehen auf ihn.

Haben wir uns einmal daran gewöhnt, diese Unterscheidung zu machen, so werden wir täglich Beispiele für sie finden. Der Mathematiker sitzt und denkt nach, und ihm scheint, er betrachte zeitlose und raumlose Wahrheiten über mathematische Größen. Doch der Hirnphysiologe, könnte er in den Kopf des Mathematikers blicken, würde dort nichts Zeit- und Raumloses finden – nur kleine Bewegungen in der grauen Gehirnmasse. Der Wilde tanzt vor Nyonga und fühlt mit jedem Muskel, dass sein Tanz dazu beiträgt, die neuen Grünpflanzen und den Frühlingsregen und die Babys hervorzubringen. Der Anthropologe, der diesen Wilden beobachtet, stellt fest, dass dieser ein Fruchtbarkeitsritual des Typs Soundso vollzieht. Das Mädchen weint über seine zerbrochene Puppe und hat das Gefühl, einen echten Freund verloren zu haben; der Psychologe sagt, ihr aufkeimender mütterlicher Instinkt sei vorübergehend auf ein geformtes und bemaltes Stück Kunststoff übergeflossen.

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Haben wir diese einfache Unterscheidung einmal verstanden, so ergibt sich daraus ein Problem. Wir erhalten eine Erfahrung einer Sache, wenn wir ihr entlang blicken, und eine andere, wenn wir auf sie blicken. Welches ist die «wahre» oder «gültige» Erfahrung? Welche sagt uns am meisten über die Sache? Und wir können diese Frage kaum stellen, ohne zu bemerken, dass in den letzten gut fünfzig Jahren jedermann die Antwort für selbstverständlich hielt. Es galt als ausgemacht, dass wir, um die wahre Beschreibung von Religion zu erhalten, nicht religiöse Menschen fragen müssen, sondern Anthropologen, dass wir, um die Wahrheit über erotische Liebe zu erfahren, nicht zu Liebenden gehen müssen, sondern zu Psychologen, dass wir, um eine «Ideologie» zu verstehen (wie das mittelalterliche Rittertum oder die Vorstellung des 19. Jahrhunderts von einem «Gentleman»), nicht auf jene hören müssen, die sie innerlich gelebt haben, sondern auf Soziologen.

Es ging durchweg nach den Vorstellungen jener, die auf die Dinge sehen; die Leute, die entlang der Dinge sehen, hat man eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht.

Man hält es inzwischen sogar für selbstverständlich, dass die äußere Beschreibung einer Sache die von innen gegebene Beschreibung irgendwie «entlarvt» oder als falsch widerlegt. «All diese moralischen Ideale, die von innen so transzendental und so schön aussehen», sagt der Besserwisser, «sind in Wahrheit nichts als eine Ansammlung biologischer Instinkte und ererbter Tabus.» Und niemand dreht den Spieß um und erwidert: «Wenn du dich nur in die Innenperspektive begeben würdest, würden die Dinge, die für dich wie Instinkte und Tabus aussehen, plötzlich ihre wahre, transzendentale Natur offenbaren.»

Das ist in der Tat die ganze Grundlage der spezifisch «modernen» Denkweise. Und ist es nicht, so könnte man fragen, eine höchst vernünftige Denkweise? Denn schließlich täuscht uns der Blick von innen oft genug. Das Mädchen zum Beispiel, das uns so wunderbar erscheint, solange wir in es verliebt sind, kann in Wahrheit eine sehr unattraktive, dumme und unsympathische Person sein. Der Tanz des Wilden vor Nyonga lässt nicht wirklich das Saatgut wachsen. Hat uns der Blick entlang von etwas schon so oft getäuscht, sind wir dann nicht besser beraten, nur dem Blick auf etwas zu trauen – also in der Tat all diese Innenerfahrungen als wertlos zu betrachten?

Nein, das sind wir nicht. Es gibt zwei gravierende Einwände, die dagegen sprechen, sie alle zu missachten. Der erste Einwand ist der folgende: Wir können nicht nachdenken – und daher auch nicht richtig nachdenken –, wenn wir nichts haben, worüber wir nachdenken können. Ein Physiologe kann zum Beispiel Schmerz untersuchen und feststellen, dass er dieses oder jenes neuronale Ereignis «ist» (was immer ist bedeutet). Doch das Wort Schmerz hätte für ihn keine Bedeutung, wenn er nicht durch eigenes Leiden selbst einmal «innen gewesen» wäre. Hätte er niemals entlang von Schmerz geblickt, so wüsste er einfach nicht, worauf er schaute. Das eigentliche Objekt seiner Untersuchungen von außen existiert für ihn nur deshalb, weil er, zumindest ein Mal, innen war.

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Dieser Fall wird wohl kaum je eintreten, weil jeder Mensch schon einmal Schmerz empfunden hat. Doch es ist sehr wohl möglich, sein ganzes Leben lang Erklärungen über Religion, Liebe, Moral, Ehre und so weiter abzugeben, ohne sie jemals von innen erlebt zu haben. Und wenn wir das tun, so hantieren wir lediglich mit Spielmarken. Wir erklären ein Ding, ohne zu wissen, was es ist. Das ist der Grund, weshalb ein Großteil des modernen Denkens genau genommen Nachdenken über gar nichts ist – der ganze Denkapparat, sich emsig im Leeren drehend.

Der andere Einwand ist der folgende: Gehen wir zurück in den Geräteschuppen. Ich mag abgetan haben, was ich beim Blick entlang des Lichtstrahls gesehen habe (d.h. die sich bewegenden Blätter und die Sonne), weil dieser «in Wahrheit nur ein Streifen staubigen Lichts in einem dunklen Schuppen» war. Das heißt, ich könnte mich darauf festgelegt haben, meine «Seitenansicht» des Lichtstrahls als die «wahre» zu betrachten. Doch diese Seitenansicht selbst ist ebenfalls ein Fall jener Tätigkeit, die wir «Sehen» nennen. Und dieser neue Fall könnte ebenfalls von außen betrachtet werden. Ich könnte mir von einem Wissenschaftler erklären lassen, dass das, was ein Lichtstrahl in einem Schuppen gewesen zu sein schien, «in Wahrheit nur eine Erregung meiner Sehnerven» war. Und das wäre ebenso gut (oder schlecht) eine Weg-Erklärung wie die vorherige. Das Bild des Lichtstrahls im Werkzeugschuppen müsste nun ebenso beiseitegelegt werden wie das vorherige Bild der Bäume und der Sonne. Und wo stehen wir dann?

Mit anderen Worten, wir können aus einer Erfahrung nur heraustreten, indem wir in eine andere Erfahrung eintreten. Deshalb werden wir, wenn alle Innenerfahrungen in die Irre führen, immer in die Irre geführt. Der Hirnphysiologe kann, wenn er will, sagen, das Denken des Mathematikers sei «nur» kleine physische Bewegungen in der grauen Masse. Aber was ist dann mit dem Denken des Physiologen selbst in eben diesem Moment? Ein zweiter Hirnphysiologe könnte, wenn er darauf blickt, es ebenfalls zu nicht mehr als kleinen physischen Bewegungen im Schädel des ersten Physiologen erklären. Wo soll dieser Unsinn nur enden?

Die Antwort ist, dass wir erst gar nicht erlauben dürfen, dass dieser Unsinn beginnt. Wir müssen, um dem Irrsinn zu entgehen, von Anfang an bestreiten, dass das Sehen auf etwas grundsätzlich und wesenhaft wahrer oder besser ist als das Sehen entlang von etwas. Man muss entlang jeder und zugleich auf jede Sache blicken. In bestimmten Fällen werden wir Gründe finden, die eine oder die andere Sichtweise als unterlegen zu betrachten. So muss zum Beispiel die Innensicht rationalen Denkens wahrer sein als die Außensicht, die nur Bewegungen der grauen Masse sieht, denn wenn die Außensicht die richtige wäre, wäre alles Denken (diesen Gedankengang eingeschlossen) wertlos, und das widerspricht sich selbst. Es kann keinen Beweis geben, dass es keine Beweise gibt. Auf der anderen Seite mag die Innensicht des Tanzes des Wilden vor Nyonga als Täuschung erkannt werden, weil wir Gründe für die Annahme finden, dass Saatgut und Babys nicht wirklich von ihm beeinflusst werden.

Wir müssen in der Tat jeden Fall für sich betrachten. Aber wir müssen ohne Vorurteile für oder gegen eine der beiden Sichtweisen beginnen. Wir wissen nicht im Voraus, ob der Liebende oder der Psychologe die zutreffendere Darstellung von Liebe gibt, ob beide Darstellungen in ihrer jeweiligen Weise gleichermaßen zutreffend sind, oder beide gleichermaßen falsch. Wir müssen es halt herausfinden. Aber die Zeit des Einschüchterns muss enden.


Auszug aus:
C.S. Lewis, Durchblicke. Texte zu Fragen über Glauben, Kultur und Literatur. Übersetzt von Norbert Feindegen. Fontis Verlag, 416 Seiten, 18,00 €


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