Das lebenspralle Erbe des Karl Tichy

Seine Geschichten sind ein Exempel dafür, was authentisches Erzählen tatsächlich sein kann; eine Ansprache, die ohne Manieriertheiten und Selbstüberhöhung, in natürlicher Schlichtheit und untergründigem Humor zum Nachdenken anregt.

Die Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts – in der sich die Kindheit von Karl Tichy ereignet – werden heute gerne mit dem Edelprädikat „Die Goldenen“ verbunden. Das nostalgische Interesse gilt überwiegend dieser Blütezeit der Moderne, in der Jazz, Kubismus und Surrealismus, Kabarett, das Theater der Piscator und Reinhardt und der Siegeszug des Kinos Kulturgeschichte schrieben. Zahllose Serien oder Dokus in Film und TV entführen uns heute, das romantische Gemüt streichelnd, in diese eigentlich ziemlich sachlich-profane Epoche. Die Frauen trugen Bubikopf, gaben sich sexy, keck und fast schon emanzipiert! Die Mode liebte wie das Theater die Provokation. Frau rauchte aus langen Zigarettenspitzen, schminkte sich wie zuvor nur Halbweltdamen und trug Flapper-Kleider. Die hingen sackförmig lose am Körper bis unterhalb des Knies, das zum Entzücken der Jungs beim Tanzen sichtbar wurde. Die Arme blieben unbedeckt, die Gürtellinie rückte auf Hüfthöhe. Die Männer trugen Schiebermützen, Knickerbocker, rauchten Zigarren und standen auf Boxen, Motorsport und Sechstagerennen.

Für politisch Geprägte sind die Zwanziger vor allem der Beginn des großen Kriegs zwischen Demokratie, Kommunismus und Nationalsozialismus. Die Literatur der Epoche ist durchzogen von offenen oder indirekten Parteinahmen. Viele Autoren machen ihre Erzählungen aus Familie, Alltag, Arbeitswelt und Kriegserleben ideologischen Beweisführungen dienstbar. Für die große Schar der „proletarisch-revolutionären“ Schriftsteller etwa stand stets am Ende detaillierter Schilderungen von sozialem Elend und dem Grauen der Schützengräben die Bekehrung zu Pazifismus oder Kommunismus – sozusagen als utopisches Happyend. Auf der anderen Seite beschworen Blut-und-Boden-Autoren die Wurzelkraft der vom Untergang bedrohten altbäuerlichen Lebensart. Das sperrige Thema wurde im nächsten Jahrzehnt vom Nationalsozialismus erfolgreich zur Vision einer wehrhaften Volksgemeinschaft umgemodelt. Dasselbe passierte auch mit vielen heroisierenden Soldatenromanen, deren oft horrornahe Schilderungen der Kriegsschrecken bei heutigen Konsumenten Schaudern erzeugen, die damals aber als schlagendes Argument für die unabdingbare Revision der (unrechtmäßigen und unverdienten) deutschen Niederlage gelesen wurden.

Für den Sohn eines Eisendrehers im Fabrikdorf Hammerau an der bayrisch-österreichischen Grenze waren die Zwanziger nichts weniger als golden. Der 1917 geborene Karl Tichy hatte wie die ganze Familie in der Elendszeit, die nach Kriegsende über die abgelegene Fabriksiedlung gekommen war, kaum etwas zu Beißen. Der Lohn des sich 60-Stunden die Woche abrackernden Vaters reichte kaum zur Deckung der elementarsten Bedürfnisse: Kleidung, Essen, Heizung. Den Schultag, die kilometerlangen Fußwege, musste der kleine Karl mit einem Marmeladebrot überstehen. Zuhause fing man in der Not auch „Dachhasen“ (Katzen) und Hunde zum Verzehr. Und als der Vater einem erlegten Hund das schwarze Fell abzieht, staunt der Knabe bass über das rote, blutige Fleisch, das darunter zum Vorschein kommt. Für Ekel ist keine Zeit, der Hunger ist stärker. Die Familie hält sich ein paar Hühner, die neben Eiern auch Wärme liefern, sie „wohnen“ teilweise in der Küche hinterm Herd. Als in der Wirtschaftskrise die Not immer größer wird, verfällt der Vater auf die Idee, aus den Fluss-Auen der Saalach Frösche zu fangen. Er hat gehört, dass die Franzosen Froschschenkel für eine Spezialität halten. Und mit seinen beiden Söhnen fängt er hunderte Frösche, die geköpft und deren Schenkel dann von Mutter in den Kochtopf geworfen werden. Eine starke Proteinzufuhr, die aber kein zweites Mal wiederholt wird.

Maron, Bernig, Tellkamp
Auf den Malerklippen
Der Tichy Karl hat diese Geschichten in Zeiten von Krankheit und später auch im Ruhestand aufgeschrieben. Er hat offenbar wie viele gestandene bayerischen Mannsbilder – von den Weiberleut‘ ganz zu schweigen – eine natürliche Erzählerbegabung. Die zeigt sich in der konsequenten Distanz zu sich selbst und einem hellwachen Beobachtungssinn. Betroffenheitskitsch und Elendslamento gibt’s da nicht. Die Skizzen zeichnet ein scharfblickender Realismus aus, wie er so oft bei den großen Autoren der bayrischen Literatur gerühmt wird.  Man denke nur an Oskar Maria Graf, Ludwig Thoma, Georg Queri, Lena Christ oder Emerenz Meier.

Karl Tichys Aufzeichnungen sind keine große Literatur, aber sie eröffnen dem Leser einen Einblick in die Seele des bayerischen „Jedermann“. Da geht es nüchtern und unpathetisch zu. Hehre Weltbeglückungsideale werden mit Misstrauen bedacht und auf dahinterliegende Interessen befragt. Es wird nach dem Grundsatz gelebt: Der Einzelne muss es halt nehmen wie es kommt, aber schaun, dass er vor dem Geschick nicht kapituliert, aus dem Elend herauskommt, ohne dabei Rückgrat oder Anstand zu verlieren. Irgendwie hat der Erzähler es doch auch immer geschafft, zu überleben, bei allem, was an Grauslichem passiert ist – sonst könnt er jetzt nicht davon berichten. Darin steckt die Klugheit von Generationen „kleiner Leute“, die es trotz aller Misere schaffen, davonzukommen.

Karls autobiographische Skizzen berichten mehrfach von Situationen, in denen er nur knapp dem Tod von der Schippe springt – bei der jugendlichen Überschätzung der eigenen Kräfte, durch unbedachtes Mitmachen gefährlicher Streiche, beim Fastabsturz an der vereisten Bergwand. Das wird mit einem untergründigen Humor geschildert, der sich über die pubertären Tollheiten der Jugend nicht erhebt, sondern Nachsicht walten lässt. Als es ganz ernst wird, im Krieg, wird er in einem Hinterhalt albanischer Partisanen so schwer verwundet, dass er eigentlich schon die Schwelle zum Jenseits überschritten hat. Da hat wohl im allerletzten Augenblick ein barmherziger Schutzengel geholfen, daran darf man als katholischer Bayer mit oder ohne leisen Zweifel glauben.

Der Start ins Berufsleben beginnt für den Karl gleich mit einer Hürde. In der siebten Klasse bricht in der Siedlung eine Typhusepidemie aus. Quarantäne für alle, und die Schule wird geschlossen. Er bekommt zwar ein Zeugnis, aber es ist dann schwer eine Lehrstelle zu finden. Wenn sich doch eine anbietet, dann ist nach Gepflogenheit der Zeit „Lehrgeld“ zu zahlen. Und das in einer Höhe, die die Möglichkeiten des Vaters bei weitem übersteigt. So landet er erst einmal als Hilfskraft im Hammerwerk, wo Buben wie er Silos von innen reinigen oder Hufeisen und Eisenabfälle sortieren müssen. Das bei einem Zwölfstundentag in einer Sechstagewoche. Karl ist 15.

Ein im Wald hausender untergetauchter Kommunist freundet sich mit dem Halbwüchsigen an. Er ist arbeitslos, wird gesucht und fängt zum Überleben Eichhörnchen und Maulwürfe. Die abgezogenen und getrockneten Felle bringt er nachts über die grüne Grenze zu einem Kürschner ins nahe Salzburg. Dafür erhält er ein paar Mark. Karl steht bei den Grenzübertritten Schmiere, dafür kriegt er auch einen kleinen Anteil, den er sofort in Essbares eintauscht. Das geht so einen Sommer lang, dann zieht der Untergetauchte weiter. Für Karl stehen Berufsschule und erneute Lehrstellensuche auf der Tagesordnung. Und er lernt rastlos und ehrgeizig. Durch unermüdliche Suche und die Hilfe wohlgesinnter Bekannter kann er schließlich eine Buchhalterausbildung in Bad Reichenhall machen. In die Arbeit radelt er nun, Verpflegung bekommt er von den freundlichen Barmherzigen Brüdern, die ihm die Speisereste aus dem Reichenhaller Invalidensanatorium überlassen.

Aufrecht hält ihn der Sport. Da gibt es den Freien Turnverein, der im Tanzsaal vom „Fischerwirt“ üben darf. Bei Veranstaltungen müssen alle Geräte in einen Schuppen verräumt werden, und die Burschen gehen stattdessen Schwimmen. Da sind dann auch Mädchen mit dabei. Aber mit denen weiß man nicht so recht was anzufangen. Eine Freude ist es, als die Fabrikleitung den emsigen Sportlern eine stillgelegte Halle als Übungsstätte überlässt. Mit viel Elan werden alle wichtigen Gerätschaften aufgetrieben. Es gibt viel Zuspruch und viele neue Mitglieder, aber die Freude dauert nicht lang. Als die Nazis kurze Zeit danach den Staat übernehmen, darf man nur noch Turnen, wenn man in die HJ oder die SA eintritt. Da verlegen die Jugendlichen ihre Übungen auf ein stilles Plätzchen in der Saalach-Au. Das geht gut, bis eines Tages Polizei auftaucht und den Turnwart verhaftet. Der landet im KZ. Die Gruppe löst sich auf. Karl geht den Nazis nicht auf den Leim. Er liest und bildet sich, und verlegt sich aufs Bergsteigen. Nach einigen gefährlichen Touren wird er mit der Zeit ein versierter Kraxler.

"Die verdammte Generation"
Historiker nähert sich den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs
Aber dem Griff des Regimes entkommt er nicht. Er wird zum Militär eingezogen und wegen seiner alpinen Erfahrung zu den Gebirgsjägern gesteckt. Die werden dann 1942 im Kaukasus eingesetzt, fraternisieren mit der sowjetfeindlichen Stammesbevölkerung. (Stalin rächt sich an ihnen nach dem Krieg.) Die besten Kletterer der Truppe, Tichy unter ihnen, besteigen den Gipfel des 5642 Meter hohen Elbrus und hissen die Reichskriegsflagge. (Nach den Erinnerungen von Albert Speer soll Hitler gewütet haben über den „idiotischen Ehrgeiz, einen idiotischen Gipfel zu besteigen“ statt die Kräfte auf militärische Ziele zu konzentrieren. – Anmerkung des Rezensenten.) Anfang 1943 ist das Kaukasusabenteuer für die Wehrmacht vorbei. Es muss umgruppiert werden. Karl Tichy landet in Albanien und wird bei einem Partisanenangriff so schwer verwundet, dass der Krieg für ihn vorbei ist. Seine Gesundung dauert noch Jahre und die Blessuren peinigen ihn teilweise bis zum Lebensende. Er kommt als politisch Unbelasteter nach 1945 im Bad Reichenhaller Ernährungsamt unter, der Beginn eines langen beruflichen Aufstiegs bis zum geachteten Inhaber eines florierenden Steuerbüros.

Anrührend heiter ist die Geschichte seiner Liebeswerbung um die spätere Ehefrau. Er lernt sie auf der täglichen Zugfahrt nach Reichenhall kennen, und traut sich einmal, sie zu einem Tanztee einzuladen. Den gibt es jedes Wochenende in einer alten Fabrikhalle des Hammerwerks. Aber die Else ziert sich, weil sie meint, nicht tanzen zu können. Ab da nutzt er die gemeinsam zu gehenden Strecken vom Bahnhof ins jeweilige Zuhause, um ihr unterwegs das Tanzen beizubringen. Für zufällig vorbeikommende Passanten sicher ein lustiges Schauspiel. Es dauert, bis die beiden den Widerstand von Elses Eltern überwinden können, die dem Halbinvaliden misstrauisch gegenüberstehen. Die Ehe wird glücklich, Wohlstand, Kinder und Anerkennung der Umwelt stellen sich ein.

Der weitere Lebenslauf Karl Tichys folgt den Kurven der Wirtschaftswundergeneration: Aufstieg, Hausbau, Auto, Urlaubsreisen. Für erzählenswert hält er im Alter seine Erlebnisse in Amerika – das Tempo der Verkehrsverbindungen, die unübersehbaren Flughäfen. Und fast wäre das Ehepaar während einer Bootsfahrt auf dem Lake Powell in einem gigantischen Sturm verunglückt – aber da hilft vermutlich wieder der wachsame Schutzengel. Das Unwetter legt sich im rechten Moment.

Die Geschichten Karl Tichys sind ein Exempel dafür, was authentisches Erzählen tatsächlich sein kann. Eine Ansprache, die ohne Manieriertheiten und Selbstüberhöhung, in natürlicher Schlichtheit und untergründigem Humor zum Nachdenken anregt. Und es macht den heutigen Lesern vielleicht auch Mut, die Eltern und Großeltern anzuregen, einmal selber aufzuschreiben, was in deren Leben von Bedeutung war.

Karl Tichy, Der schwarze Hund mit dem roten Fleisch. Geschichten aus der Hammerau. Mit einem Vorwort von Roland Tichy. Edition Biographica, Frankfurt am Main, 2000. 124 Seiten, Förderpreis: 19,55 €.

Dieses Werk wurde aus besonderem Anlass, um Roland Tichy eine freudige Überraschung zu bereiten und ohne dessen Wissen ins TE-Shop Angebot aufgenommen und hier besprochen.
Es sind nur noch wenige Exemplare aus Privatdruck vorhanden und im Angebot solange der Vorrat reicht. Der Verkaufserlös kommt zur Gänze TE zugute.

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Kommentare ( 3 )

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Peter Gramm
4 Jahre her

diese Erlebnisse betrafen viele und nicht nur in den Zwanzigerjahren, auch nach dem II. WK. Da gab es keine Hilfen oder Unterstützungen wenn man nur laut genug schrie. Das wird heute oft vergessen.

Roland Mueller
4 Jahre her

Mir sind die „Goldenen Zwanzigerjahre“ nur durch Bankrott, Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit und Straßenterror in Erinnerung. Einen besseren Nährboden für ihre wahnwitzige Ideologie hätten sich die Nazis nicht wünschen können-

Hannibal ante portas
4 Jahre her
Antworten an  Roland Mueller

Nicht ganz: sie waren in Deutschland nur besonders kurz und betrafen längst nicht alle.