Ein ungeheuer produktiver Geist: Gilbert Keith Chesterton schrieb 80 Bücher, 200 Kurzgeschichten, 4000 Essays und Kolumnen sowie eine Unmenge an Gedichten und Theaterstücken – darunter die berühmten Pater-Brown-Krimis. Papst Pius XI. ehrte den Konvertiten mit dem Titel „defensor fidei“.
Gilbert Keith Chesterton, dessen 150. Geburtstag wir feiern wollen, war ein äußerst zerstreuter Mann. Er war Journalist, Philosoph, Romanautor und vor allem christlicher Apologet. Er stand als Koloss von knapp zwei Metern und 270 Pfund in der englischen Presselandschaft, was als äußerst raffiniertes Ablenkungsmanöver gelten muss; denn auf diesem unbeweglich erscheinenden Berg von Kerl saß, bedeckt von einem albernen Hütchen, ein Kopf, in dem es zugegangen sein muss wie in einer fantastischen Voliere mit äußerst bunten und lauten Vögeln, ein einziges fröhliches Zwitschern von Gedanken und Assoziationen und Paradoxa, die miteinander wetteiferten.
Ihn als zerstreut zu bezeichnen wäre eine Untertreibung. Oft konnte es passieren, dass er beim Überqueren einer Straße mitten auf derselben stehen blieb, weil ihm eine hübsche Idee, eine treffende Formulierung einfiel und er darüber nachsann.
Ja, er bildete eine Ein-Mann-Verkehrsinsel, was übrigens auch seine Position in einer gerade angebrochenen Moderne markierte, die schon damals in eine äußerst vage Zukunft voller Menschheitsverbesserungsideen und blutiger Irrtümer aufbrach.
Da Chesterton ein äußerst gefragter Redner mit einer Unmenge an Verpflichtungen war, konnte es passieren, dass er vergaß, wohin er aufgebrochen war. Bekannt ist die Anekdote, nach der er wieder einmal im Irgendwo strandete und seiner Frau ein Telegramm schrieb mit den Worten: „Bin in Market Harborough. Wo sollte ich sein?“, worauf sie, die ständig besorgte Frances, antwortete: „Zu Hause.“
Allerdings war diese Antwort bei aller Fürsorge doch streng genommen die falsche. Sie hätte lauten sollen: „Überall“; denn Chesterton wurde schon damals überall gebraucht, in jenen Tagen also, in denen die Bastionen der Familie, des Glaubens, ja des gesunden Menschenverstands überhaupt geschleift wurden.
Seine lesenswerte Autobiografie, die er kurz vor seinem Tode 1936 diktierte, beginnt er mit einer Pointe: mit dem Rückblick auf seine Taufe in einer Kirche, die neben einem gigantischen Wasserturm stand. Mit energischem Unernst weist er das Gerücht zurück, dass diese Kirche gewählt worden sei, weil es „der ganzen Wasserkraft von West-London bedurfte, mich in einen Christen zu verwandeln“.
Sein Vater war ein Liberaler, aber einer, der „wie alle vernünftigen Leute“ fest an das Privateigentum glaubte. Daneben war er Immobilienmakler, universell tätiger Erfinder und Amateurkünstler, Bewunderer romanischer Kathedralen und der englischen Literatur. Gilbert sog das auf. Er verliebte sich in das fromme Mittelalter und rezitierte den Hamlet, bevor er ihn verstand.
In der Schulzeit folgte er der Devise, sich dumm zu stellen, was problematisch war, da er in allen Fächern glänzte. Er übersprang Klassen. Eine erste Zeitung heckte er mit 16 aus. Die „Junior Debating Society“ folgte. Sein Plan, nicht aufzufallen, wurde spätestens dann durchkreuzt, als ein Gedicht von ihm prämiert wurde.
Er zeichnete viel, was er sein Leben lang beibehielt; überlegte, Architektur zu studieren, wechselte zur Kunstakademie. Eher zufällig stieß er zum Journalismus – oder der auf ihn, als er eine Buchkritik veröffentlichte. In der Folge schrieb er 4000 Essays und Kolumnen, 80 Bücher, 200 Short Stories und eine Unmenge an Gedichten und Theaterstücken. Seine Debatten waren legendäre Spektakel, seine BBC-Sendungen ab 1930 Kult.
G.K. Chesterton war ein Kollege, der größte seiner Zeit, ausgestattet mit Scharfsinn, britischem Witz und einer Fröhlichkeit, von der Kafka einst meinte, sie ließe sich nur dadurch erklären, dass er Gott tatsächlich gesehen habe.
Den durchschlagenden Erfolg seiner Detektivstorys um Father Brown, den er gegen andere zeitgenössische Meisterdetektive wie Sherlock Holmes oder Hercule Poirot ins Rennen schickte, zeigen die zahllosen Verfilmungen. Brown überzeugte durch Bescheidenheit und Gottvertrauen. Mit ihm, diesem unscheinbaren Priester und dessen im Beichtstuhl erlangter Menschenkenntnis, gewann er die Herzen des breiten Publikums. Selbstverständlich war auch Father Brown gesegnet einem messerscharfen Verstand.
Obwohl Chesterton erst 14 Jahre später zum Katholizismus wechselte, war seine „Orthodoxie“ bereits eine fulminante Apologie der Kirche und ihrer vernünftigen Autorität, die allerdings schon damals unter Beschuss stand.
Papst Pius XI. ernannte Chesterton zum „defensor fidei“, zum Verteidiger des Glaubens. Ja, er verteidigte die Kirche und das Christentum gerade an den vermeintlich schwächsten Stellen, mit ihren Widersprüchen und Paradoxa und fröhlichen heidnischen Überresten, denn genau diese seien es, die den Menschen ausmachen.
Für ihn war die Sündhaftigkeit des Menschen so „handgreiflich wie eine Kartoffel“. Er schrieb: „Egal, ob es ein Wunderwasser gab, in dem der Mensch sich reinwaschen konnte, waschen musste er sich auf alle Fälle.“ So viel zur Taufe. Und zum Wasserturm neben der Kirche seiner Kindheit.
Im vierten Kapitel äußert er sich zur „Ethik des Feenlandes“ und nimmt jenen Spruch aufs Korn, mit dem Ältere die Jüngeren zu belehren pflegen: Werde erst mal erwachsen, dann wirst du deine Ideale schon ablegen und pragmatisch werden. „Meine Ideale habe ich ganz und gar nicht verloren“, schreibt Chesterton, „eingebüßt habe ich lediglich meinen kindlichen Glauben an den Parlamentarismus.“
Was nicht als Aufforderung zur Schwärmerei und der Abkehr von der Vernunft zu missdeuten ist. Demokratie, sagte Chesterton, stütze sich auf die robusten Instinkte des einfachen Mannes, auf den gesunden Menschenverstand, und nicht auf die Überspanntheiten von Intellektuellen. „Solange der Witz Mutterwitz ist, kann er Kapriolen schlagen, so viele er will.“
Ich hatte mich dabei an das Verfahren gehalten, mit dem Chesterton seine Orthodoxie beginnt, nämlich dass ein Forscher zur See durch eine kleine Abweichung seiner Berechnung an der Küste jenes Landes von Bord geht, das er verlassen hatte, und es nun entdeckt wie ein neues. Nur so konnte ich mir die Verwunderung über alle die Verrücktheiten erhalten, mit denen sich unsere Nation in den Irrsinn stürzte, in eine Art LSD-Rausch, weshalb ich die psychedelische Hymne „White Rabbit“ zum Titel machte.
Die Hauptverrücktheit damals bestand wohl darin, dass, wie Chesterton ausführte, christliche Tugenden wie die der Barmherzigkeit völlig entfesselt werden. Sein damaliger Verleger war wie versessen auf diese Tugend und lehnte andere wie die Vernunft ab. Chesterton: „Mr. Blatchford ist nicht nur ein Vertreter des Frühchristentums, er ist auch der einzige frühchristliche Mensch, der es wirklich verdient hätte, von den Löwen gefressen zu werden.“
Unmöglich, alle weiteren Hauptwerke Werke Chestertons nur annähernd vorzustellen; den Lesern sei „Der Unsterbliche Mensch“ (1925) empfohlen, das Buch, das Marshall McLuhan zum Eintritt in die Una Sancta bewegte, sowie die großartigen Biografien über Franz von Assisi (1923) und Thomas von Aquin (1933) . Derzeit sitze ich an einem Reader über Chesterton, mit dem ich weitere Leser für den überschäumenden „fat guy“ zu begeistern hoffe, der 1936 in Beaconsfield 62-jährig starb – ein lebensfroher Trinker, der über jedem Glas Whisky das Kreuz schlug.
Ein bereits eingeleitetes Seligsprechungsverfahren dieses „Apostels des gesunden Menschenverstandes“ wurde wieder eingestellt. Wahrscheinlich, weil er zu vergnügt war.
Von Gilbert Keith Chesterton sind im TE Shop erhältlich:
- Pater Brown. Tod und Amen. Sämtliche Fälle in einem Band. Neu übersetzt und liebevoll ausgestattet, Kampa Verlag, 1272 Seiten, 35,00 €
- Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Fe-Medienverlag, Hardcover mit Überzug, 304 Seiten,14,90 €
- Thomas von Aquin. Der stumme Ochse. Edition Credo, Hardcover mit Schutzumschlag, 204 Seiten, 16,80 €
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Das war ja klar, Herr Matussek! Dass von Ihnen hier eine Lobeshymne zu Chesterton kommt, war irgendwie zu erwarten :-)) Ich stimme Ihnen aber zu: Die „Pater Brown“- Stories sind alle unglaublich unterhaltsam und man kann sich kaum davon lösen. Es gibt wenige Schriftsteller, die mich so gefangen nehmen, und das gleich von Seite Eins an. Seine Sprache und der Erzählstil sind sehr besonders. Auch beim zweiten oder dritten Lesen wird es niemals langweilig und diese Geschichten haben irgendwie einen besonderen Zauber, von dem man sich nicht lösen kann und will. Die anderen beiden Bücher kenne ich noch nicht und… Mehr
In annähernd normalen Zeiten müßte man einen Chesterton zitierenden Atheisten für verrückt halten: »Wer nicht an Gott glaubt, glaubt nicht nichts, sondern alles mögliche.« (Corona lieferte den Beweis!)
… Wenn nicht entgegen der in „unserem“ Sonnensystem funktionierenden Kepler’schen Gesetzmäßigkeiten die Rotationskurve von Messier 33, vulgo Dreiecksgalaxie, eine signifikante Abweichung aufwiese („Dunkle Materie“), sowie – noch „schlimmer“ – die zunehmende Expansionsgeschwindigkeit des Universums eine „dunkle Energie“ erzwingt, die das gegenwärtig gültige Lambda-CDM-Modell der Lächerlichkeit aussetzt.
Mit anderen Worten: Wir wissen gar nichts.
Tod und Amen hat mich restlos begeistert. Obwohl ich auf die englische Literatur stehe, kannte ich bis dato nichts von Chesterton. Der Stil ist völlig anders als das, was man aufgrund der Filme erwartet. Einfach klasse!
Man kann Chesterton nicht oft genug loben.
„Wenn die Leute aufhören, an Gott zu glauben, werden sie nicht an nichts glauben, sie werden allen möglichen Unsinn glauben.“
Prophetische Worte, die von der grünwoken Kirche täglich verifiziert werden.