Benedikt XVI. – sein Erbe für die Kirche und die Welt

Als Versöhner von Glauben und Vernunft, führender Intellektueller des Christentums und Förderer des interreligiösen Dialogs wird der „Mitarbeiter der Wahrheit“ wirkmächtig bleiben. Das ist auch seiner Ermahnung zu wünschen, die Kirche dürfe nie zu einer Kraft des politischen Kampfes werden, um diesseitige Utopien zu verwirklichen

Einer der besten Kenner Benedikts XVI., der Journalist Peter Seewald, hat wenige Wochen nach dem Tod des „Papa emeritus“ vom 31. Dezember 2022 ein weiteres Buch über den „deutschen Papst“ herausgebracht: „Benedikts Vermächtnis. Das Erbe des deutschen Papstes für die Kirche und die Welt“. Wer Seewalds große Benedikt-Biographie „Benedikt XVI. Ein Leben“ des Jahres 2020 mit seinen 1150 Seiten nicht gelesen hat, der kann nun in dichterer Darstellung auf 398 Seiten nachlesen, was die entscheidenden Stationen im Leben und Wirken des „deutschen Papstes“ waren. Unter Berücksichtigung der Seitenformate hat Seewald die große Biographie des Jahres 2020 mit seinen mehr als siebzig Kapiteln auf etwa ein Viertel des Umfangs und dreißig Kapitel komprimiert. So heißt es denn auch im Impressum des neuen Buches: „Die vorliegende Arbeit basiert auf der umfangreichen Biographie Benedikt XVI. Ein Leben, die 2020 im Verlag Droemer Knaur erschien und die Entwicklung Joseph Ratzingers im historischen Kontext nachzeichnet. Dort sind alle Zitate belegt.“ Belegt ist aufgrund editorischer Hinweise des Verlags auch, dass der am 1. Februar 2023 erschienene Seewald/Benedikt-Band, bereits am 5. Januar 2023 druckreif vorlag. Das heißt: Der Band war Ende 2022 mit Blick auf den mehr und mehr abzusehenden Tod des emeritierten Papstes weitestgehend fertig.

Seewald hatte die Jahre zuvor neben verschiedenen Benedikt-Biographien vier Interviewbände („Salz der Erde“, „Gott und die Welt“, „Licht der Erde“, „Letzte Gespräche“) mit Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt herausgegeben. Fast alle diese Bände wurden Bestseller. Seewald schreibt aktuell diesmal nicht im sonst üblichen Fließtext, sondern in Form eines „erzählerischen Dialogs“, wobei der Fragesteller Seewald und der Antwortgebende Seewald eins sind. Es ist daraus ein klar strukturierter Text mit je etwa zwei Fragen und zwei Antworten je Seite geworden, den man durchaus auch in kleineren Häppchen lesen kann. Wer mehr Hintergrund haben will, dessen „Appetit“ auf die große Biographie (inkl. 70 Seiten Anmerkungen und Register) wird zudem geweckt.

Es gibt auch eine Ökologie des Menschen
Der Herrschaft des Unrechts wehren und dem Recht dienen
Wir können hier aus Benedikts „Jahrhundertleben“ (1927 bis 2022), vor allem seinem Wirken als Präfekt der Glaubenskongregation (1982 – 2005) und als Papst Benedikt (2005 – 2013), nur wenige besonders markante Stationen herausgreifen. Die Lektüre vieler der Kapitel überlassen wir dem Leser des Buches: Joseph Ratzingers Kindheit und Jugend, seine Professorenjahre, sein maßgebliches Mitwirken am II. Vatikanischen Konzil, seine überraschend eindeutige und rasche Wahl am 19. April 2005 zum Papst (gegen den Widerstand einiger deutscher Kirchenfürsten), seine drei Deutschlandbesuche 2005 (Weltjugendtag in Köln), 2006 (mit der böswillig skandalisierten „Regensburg-Rede“) und 2011 (mit der Rede im Bundestag sowie der Begegnung in Erfurt mit dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland) und die Umstände seines Rücktritts …

Wir konzentrieren uns hier auf Stationen, in denen Benedikt von interessierter Seite tendenziös und gezielt in schiefes Licht gerückt wurde. Tonangebend für die vielen medialen Verzerrungen war der vormalige Professorenkollege Hans Küng (1928 – 2021), dem Papst Johannes Paul II. 1979 die Lehrerlaubnis entzogen hatte – also einige Jahre, bevor Ratzinger nach Rom berufen wurde. Küng war es, der die Marschrichtung gegen Kurienkardinal Ratzinger vorgab. Am 4. Oktober 1985 schrieb Küng in „Die Zeit“: „Die alte Inquisition ist tot, es lebe die neue.“ Ratzingers Wahl zum Papst nannte Küng eine „Riesenenttäuschung“, was ihn nicht daran hinderte, bei Benedikt, den er als „Hinterwäldler“ aufgewachsen sah, um einen vertraulichen Gesprächstermin nachzusuchen. Benedikt, der über Küng nie ein böses Wort verloren hatte, empfing ihn denn auch im September 2005 im Vatikan. Aber Küng blieb auch über dem Tod hinaus der Stichwortgeber. Medial tat sich dabei regelmäßig die „Süddeutsche“ hervor: Benedikt als das „unfreundliche Gesicht der Kirche“, Ratzingers Wahl zum Papst als „Schock“, Benedikt als „gedankenloser Amtsinhaber“, Benedikt als „ungelenker Greis“, der Katholizismus als „durch und durch verknöcherte Konfession“. Und in Anlehnung an die BILD-Titelseite zur Wahl vom 19. April 2005 („Wir sind Papst“) schließlich: „Wir wollen nicht mehr Papst sein.“

Merkels Frechheit

Am 3. Februar 2009 gab Merkel anlässlich eines Treffens mit dem kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew eine Pressekonferenz. Von Journalisten dabei angesprochen auf die soeben durch den Vatikan erfolgte Rücknahme der 1988 erfolgten Exkommunikation des Pius-Bruder-Erzbischofs und Holocaustleugners Williamson gab Merkel „zum Besten“: Wenn durch eine Entscheidung des Vatikan der Eindruck entstehe, dass der Holocaust geleugnet werden könne, dürfe dies nicht ohne Folgen im Raum stehen bleiben. Und weiter: „Es geht darum, dass vonseiten des Papstes und des Vatikans sehr eindeutig klargestellt wird, dass es hier keine Leugnung geben kann.“ Diese Klarstellung sei aus ihrer Sicht „noch nicht ausreichend erfolgt“. Merkel fügte hinzu, es sei normalerweise nicht ihre Aufgabe, innerkirchliche Entscheidungen zu bewerten. Bei Grundsatzfragen sei das aber etwas anderes. In der aktuellen Debatte gehe es um die Leugnung des Holocaust und grundsätzliche Fragen des Umgangs mit dem Judentum.

Joseph Ratzinger und die Medien
Benedikt und die Medien: Der „Panzerkardinal“ wird Papst!
Merkel fand in den Mainstreammedien – darauf hatte sie wohl abgezielt – fast nur Zustimmung. Aber sie bekam auch namhaften Widerspruch. Der damalige Bundespräsident Horst Köhler, ein Protestant, erklärte: „An der Einstellung des Papstes zum Holocaust hat nie ein Zweifel bestehen können.“ Dass die Kanzlerin im Wahljahr 2009 Benedikt XVI. ins Abseits stellte, wurde vom vormaligen SPD-Chef Kurt Beck scharf kritisiert. Noch nie habe sich ein Regierungschef in Deutschland in so undiplomatischer und brüskierender Weise in die Politik des Vatikans eingemischt. Ihn habe es „gewaltig geärgert“, so Beck, „dass die Kanzlerin nur draufgehauen hat, weil sie auf vox populi schielte“.

Unglaublich also, was sich die Pastorentochter hier erlaubte. Da hätte sie zuvor mal Benedikts Rede vom 28. Mai 2006 in Auschwitz lesen sollen. Dort sagte er: „Ich stehe hier als Sohn des deutschen Volkes, und gerade deshalb muss ich sagen: Ich konnte unmöglich nicht hierherkommen … Es war und ist eine Pflicht der Wahrheit, dem Recht derer gegenüber, die gelitten haben, eine Pflicht vor Gott … und als Kind des deutschen Volkes hier zu stehen – als Sohn des Volkes, über das eine Schar von Verbrechern mit lügnerischen Versprechungen, mit der Verheißung der Größe, des Wiedererstehens der Ehre der Nation und ihrer Bedeutung, mit der Verheißung des Wohlergehens und auch mit Terror und Einschüchterung Macht gewonnen hatte, so dass unser Volk zum Instrument ihrer Wut des Zerstörens und des Herrschens gebraucht und missbraucht werden konnte.“

Thema Missbrauch

Selbst über seinen Tod hinaus wird Benedikt bzw. der vormalige Erzbischof von München und Freising als Vertuscher der Missbrauchsskandale dargestellt. Die „Ankläger“ – Journalisten etwa des „Spiegels“ und des „Tagesspiegels“, Rechtsanwälte, manch deutsche Bischöfe – scheinen sich hier offenbar selbst adeln zu wollen. Indes hat keiner in der katholischen Kirche mehr zur Aufklärung des Missbrauchs beigetragen als Kardinal Ratzinger bzw. Papst Benedikt. Seewald hält fest: Es war Ratzinger, der als Präfekt und Pontifex den Weg für die Aufklärung sexuellen Missbrauchs geebnet und dafür gesorgt hat, dass die Vergehen aufgeklärt und geahndet werden. Hätten die Bischöfe in den einzelnen Ländern seine Anweisungen konsequent befolgt, wäre man längst ein großes Stück weiter.

Dass der deutsche Papst konsequent die Nulltoleranzlinie gegenüber jeglichen Missbrauchstätern verfolgte, bestätigte der italienische Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi, der mit mehreren Insiderberichten aus dem Vatikan Aufsehen erregte: „Der Kampf Papst Benedikts XVI. gegen den Missbrauch war entschiedener und härter als der seines Nachfolgers.“ Benedikt XVI. habe „den Mantel des Schweigens weggezogen und seine Kirche gezwungen, den Blick auf die Opfer zu richten“. Allein in den Jahren 2011 und 2012 entließ Papst Benedikt 384 Priester und hochgestellte Verantwortliche, darunter den irischen Bischof und ehemaligen Sekretär von drei Päpsten, John Magee, den kanadischen Bischof Raymond John Lahey, auf dessen Laptop kinderpornographisches Material gefunden wurde, und den Erzbischof von Miami, John C. Favalora, der beschuldigt wurde, pädophile Priester gedeckt, in seiner Diözese eine Lobby von homosexuellen Priestern geduldet und selbst an Missbräuchen beteiligt gewesen zu sein. Bereits 2008 und 2009 waren 171 Geistliche suspendiert worden.

Alles in allem

Peter Seewald, nach eigenen Angaben vormaliger 68er Kommunist, aus der Kirche Ausgetretener und wegen Benedikt Wiedereingetretener, lässt mit seinem neuen Buch Benedikt XVI. posthum Gerechtigkeit widerfahren. Seewald belegt überzeugend, dass all die gerade in Deutschland erbittert gepflegten Etikettierungen Ratzingers bzw. Benedikts als „Großinquisitor“, „Panzerpapst“, „Hardliner“, „angstbesetzter Psychopath“, Beschweiger der kirchlichen Missbrauchsskandale, ja gar als Verharmloser des Holocaust falsch sind.

Herde ohne Hirten
Katholische Kirche in Deutschland: sollte man gehen, um zu bleiben?
Auch mit diesem Buch belegt Seewald, warum Benedikt ein Erneuerer der Theologie, der meistgelesene Theologe der Neuzeit, der Versöhner von Glauben und Vernunft, der führende Intellektuelle des Christentums, der Förderer des interreligiösen Dialogs war und wohl auf lange Zeit bleiben wird. Für Seewald bestätigt sich zudem ein großes Vermächtnis Benedikts: Nämlich, dass die Kirche nie zu einer Kraft des politischen Kampfes werden dürfe, um beispielsweise eine diesseitige Utopie zu verwirklichen.

Benedikt ging es auch als Kardinal Ratzinger immer um das abendländische Erbe: Nämlich eine Kultur und einen Glauben, der sich auf das Erbe der griechischen und römischen Antike sowie der religiösen Prägung durch das Juden- und Christentum stützte. Benedikt hatte das übrigens auch in seiner Rede vom 22. September 2011 vor dem Bundestag betont: „Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom, aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.“

Vor diesem Hintergrund ist auch Benedikts bzw. Ratzingers Warnung vor einem gefährlichen Relativismus zu verstehen. Als Kardinal hat dies in seiner Predigt anlässlich des Wahlkonzils am 18. April 2005, also einen Tag vor seiner Wahl, deutlich gemacht: Er hatte davor gewarnt, sich von einem „Windstoß irgendeiner Lehrmeinung hin- und hertreiben zu lassen“ und dies als einzige zeitgemäße Haltung gelten zu lassen. Es entstehe daraus „eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letztes Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt“. Bereits im Jahr 2000 hatte er gewarnt: „Europa scheint in der Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden … Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft … Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart gesehen … Sie werden als Grenze der Gegenwart gesehen.“

Mehr noch: Ratzinger hatte gar von einem „Selbsthass des Abendlandes“ gewarnt. Mehr als hellsichtige Worte!


Peter Seewald, Benedikts Vermächtnis. Das Erbe des deutschen Papstes für die Kirche und die Welt. Hoffmann und Campe, Hardcover mit Schutzumschlag, 398 Seiten, 25,00 €


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Kommentare ( 2 )

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Tabascoman
1 Jahr her

Ratzinger war ein Machtmensch. Wenn er keine Antwort wusste, wurde er tätlich. So ohrfeigte er einmal Dieter Wonka (jetzt RND) dass er gegen ein Türrahmen flog und blutete. Der Katholizismus ist krankhaft rechthaberisch. Immer schon und betrog die Menschheit seit der „konstantinischen Schenkung“. Mit einer christlichen Lehre – die ich sehr schätze – hat diese Institution jedenfalls nichts, aber auch gar nichts zu tun. Seine Führer auch nicht.

Mausi
1 Jahr her

Ich halte diesen Papst für intelligent und für mitfühlend. Mitfühlend vielleicht gelenkt durch seinen Verstand. Aber das ist nicht verkehrt. Dadurch, dass er sich dem Mainstream nicht ergeben hat, ist er natürlich gewissen Leuten ein Dorn im Auge. Sein Nachfolger liegt da viel mehr auf Linie. AM, die sich nie offen in innere Angelegenheiten anderer gemischt hat, weder nach der Wahl von Herrn Trump, noch nach der Wahl von Herrn Kemmerich, noch in „innerkirchliche Entscheidungen“, hat immer wieder gezeigt, wie wichtig ihr unsere Demokratie ist. Sie erfüllt Art. 23 GrundG, der da lautet: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die… Mehr