Biedenkopfs Tod lenkt den Blick darauf, dass der CDU heute zweierlei fehlt: jemand, der eine strategische Idee entwerfen kann – und ein Amtsträger, den sich eine Mehrheit ohne Schwierigkeiten im Kanzleramt vorstellen könnte.
Es gibt nur wenige Westdeutsche, deren Leben sich durch den Mauerfall völlig änderte. Kurt Hans Biedenkopf, geboren 1930 in Ludwigshafen, gehörte dazu. Ganz neu war ihm der Osten nicht; sein Vater Wilhelm Biedenkopf arbeitete während des Krieges als Technischer Direktor der Buna-Werke in Schkopau, das heute in Sachsen-Anhalt liegt, seine Familie lebte mit ihm bis 1945 in großbürgerlichem Haus.
Anfangs sprach nichts für eine politische Karriere von Kurt Biedenkopf, sondern fast alles für eine Laufbahn entweder in der Wissenschaft oder in der Industrie. Er gehörte zu den ersten Deutschen, die nach dem Krieg in den USA studierten. Am Davidson College in North Carolina widmete er sich der Politikwissenschaft, zurück in Deutschland studierte er Jura und Volkswirtschaft. Im Jahr 1964 ging er als Ordinarius an die gerade gegründete Ruhr-Universität Bochum, deren Rektor er 1967 wurde.
Die Position als Vorsitzender der Mitbestimmungskommission führte ihn schon einmal in die Nähe der Politik. Dann wechselte er allerdings in den Vorstand von Henkel. Gerade dort abgekommen, erhielt er das erste von den insgesamt zwei lebensändernden Angeboten. Der gerade zum CDU-Vorsitzenden aufgestiegene Helmut Kohl, bemüht, eigenständige Leute um sich zu sammeln, bot dem gleichaltrigen Biedenkopf 1973 das Amt des Generalsekretärs an. Biedenkopf griff zu und machte sich mit Kohl daran, die CDU zu modernisieren, was damals bedeutete, sie aus dem Status einer Honoratiorenpartei herauszuführen.
In der Bundestagswahl von 1976 verfehlte die Union mit 48,6 Prozent die absolute Mehrheit nur hauchdünn. Bei einem Sieg Kohls hätte Biedenkopf einen wichtigen Kabinettsposten übernommen.
Für ihn ergab sich die Frage, ob er von Kohl abhängig bleiben oder eine eigene politische Machtbasis erobern wollte. Bei seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein kam nur die zweite Variante in Frage. Er nahm später für sich in Anspruch, die Emanzipation selbst eingeleitet zu haben. Jedenfalls endete seine Generalsekretärsära 1977, dem Jahr, in dem er Vorsitzender des Bezirksverbandes Westfalen-Lippe wurde. Eine doppelte Gelegenheit zur Machteroberung ergab sich für ihn drei Jahre später. Als Heinrich Köppler, der CDU-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfahlen, kurz vor der Landtagswahl im Mai 1980 an einem Herzinfarkt starb, sprang Biedenkopf ein. „Mit der noch warmen Leiche von Köppler“, hieß es damals in der NRW-CDU, werde man gewinnen. Es kam anders: der SPD-Bewerber Johannes Rau setzte sich durch. Im Oktober des gleichen Jahres gehörte Biedenkopf zu den prominenten CDU-Unterstützern des Kanzlerkandidaten Franz Josef Strauß. Der scheiterte allerdings deutlicher als Kohl 1976.
An der Spitze des schwierigen Landesverbandes NRW blieb Biedenkopf ohne Glück – wozu Kohl seinen Teil beitrug, mit dem sich sein Ex-General seinerseits entzweit hatte. Sein Landtagsmandat in Düsseldorf gab Biedenkopf 1988 auf; zur nächsten Bundestagswahl, die regulär 1991 stattfinden sollte, wollte er nicht mehr antreten. Er lag, wie er damals resümierte, politisch „mit der Nase im Dreck“. Mit 60 Jahren blieb ihm nur die Aussicht auf eine gut bezahlte Anwaltstätigkeit.
Dann fiel am 9. November 1989 die Mauer. In Dresden gründete sich die „Gruppe der 20“, ein Zirkel bürgerlicher Oppositioneller, die keine bessere DDR wollten, sondern die schnelle deutsche Einheit. Für die Gruppe um den späteren sächsischen Staatskanzleichef Arnold Vaatz, den späteren Justizminister Steffen Heitmann und den künftigen Dresdner Oberbürgermeister Herbert Wagner kam es darauf an, die Machtübernahme alter schnell gewendeter Kader der Ost-CDU zu verhindern. Sie sondierten bei westdeutschen CDU-Politikern, und fragten zuerst Heiner Geißler, der aber ablehnte. Biedenkopf, den Lothar Späth damals auf Bitten der Dresdner anrief, sagte zu. Für ihn gab es nichts mehr zu verlieren.
Zur Verblüffung der SPD und selbst zu der Biedenkopfs gewann er bei der ersten Landtagswahl im wiedergegründeten Sachsen, dem alten sozialdemokratischen Stammland, die absolute Mehrheit. Die Chance, die im Westen nie möglich gewesen war, eröffnete sich für ihn von Dresden aus: einen schlanken Staat aufbauen und gewissermaßen mit einem weißen Blatt Papier beginnen zu können – ohne Kompromisse mit einem Koalitionspartner.
Ähnlich wie Kohl scheute er sich nicht, starke und bisweilen eigensinnige Köpfe in seine Mannschaft zu holen. Als Glücksgriff erwies sich sein Finanzminister Georg Milbradt, aber auch etliche andere im Kabinett. Biedenkopf schlug mit seinen Ministern mehrere Pflöcke ein, die Sachsen bis heute von anderen Bundesstaaten unterscheiden. Dank der restriktiven Ausgabenpolitik Biedenkopfs und Milbradts ist der Freistaat im Südosten das am geringsten verschuldete Land. Verbeamtet wurde nur, wo unbedingt nötig. Bis heute trägt Sachsens Haushalt die geringsten Pensionsverpflichtungen pro Kopf. In der Bildungspolitik sorgte Kultusminister Matthias Rößler dafür, dass sächsische Schüler und Lehrer weitgehend von dem Herumgeschraube an Schulstrukturen verschont blieben. Rößler war es auch, der im Jahr 2000 die erste bundesdeutsche Hochbegabtenschule (in Meißen) gründete, in einer Zeit, als seine Kultusministerkollegen bei dem Begriff ‚Elite’ noch ein säuerliches Gesicht zogen. Bis heute behauptet sich das in vielen Medien regelmäßig als tumb und zurückgeblieben karikierte Sachsen an der Spitze der Bildungsvergleiche.
Die restriktiven Ausgaben beim Staatsaufbau kombinierte Biedenkopf mit hohen Investitionen in Infrastruktur, die wiederum viele Investoren nach Sachsen zog, VW und Chipherstellung nach Dresden, Porsche und BMW nach Leipzig. Davon zehren Biedenkopfs politische Nachfolger bis heute.
Wichtiger als die materiellen Investitionen erweisen sich im Rückblick die ideellen. Der sächsische Regierungschef stärkte bei jeder Gelegenheit das Selbstbewusstsein der Sachsen. Die lange Landesgeschichte betrachtete er als wichtige Ressource. In seinem Amt war er beides, Manager und präsidialer Politiker mit einem Zug zum Royalen, den die Sachsen ihm mehrheitlich nicht übel nahmen. Biedenkopf ironisierte in diesen Gründerjahren seine Rolle mit dem Bonmot: „Wer mich König von Sachsen nennt, greift den Dingen vor.“ Obwohl Biedenkopf nie volkstümlich war, sondern immer großbürgerlich-professoral, genoss er in Sachsen eine Popularität wie kein Politiker nach ihm.
Gegenüber Kohl blieb er in vielen Punkten auf Gegenkurs. Biedenkopfs Argumentation gegen die Euro-Einführung speiste sich allerdings nicht nur aus dem Oppositionsgeist gegen den Kanzler. Er hielt das Experiment einer gemeinsamen Währung für unreif. Ähnlich wie der frühere Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer fürchtete er eine Transferunion.
„Mit dem Euro“, meinte Biedenkopf, „tauschen wir Erfahrung gegen Unsicherheit.“
Es gab auch eine Kehrseite von Biedenkopfs royalistischem Stil. Einem Freund, dem Kölner Immobilienunternehmer Heinz Barth, verschaffte er freihändig für dessen Immobilie in Leipzig einen lukrativen Mietvertrag mit Landesbehörden, die dazu erst aus einem Gebäude im öffentlichen Eigentum ausziehen mussten. In der so genannten Regierungskommune in der Dresdner Schevenstraße 1, in der das halbe Kabinett in den Anfangsjahren zusammen wohnte, zahlten die Minister marktübliche Mieten – Biedenkopf und Frau logierten ohne das Wissen der anderen gratis. Im kleinen Kreis ließ der Ministerpräsident manchmal durchblicken, der Wechsel nach Dresden sei für ihn, den früheren Anwalt, zwar ein verwirklichter politischer Traum, aber auch ein finanzieller Abstieg.
Als die sächsische CDU nicht dem von Biedenkopf favorisierten biedersinnigen Landes- und Fraktionschef Fritz Hähle mit einem guten Wahlergebnis bedachte, sondern den ehrgeizigen Milbradt, tat Biedenkopf etwas in der deutschen Politik einmaliges: Er feuerte seinen fachlich brillanten Minister, um ihn aus purem Ressentiment als seinen Nachfolger zu verhindern. Neben dem großen gedanklichen Feld lag bei Biedenkopf auch immer das erstaunlich kleine Karo.
Als er sich 2002 nicht ganz freiwillig vom Posten des Regierungschefs zurückzog, blieb seine Bilanz trotz dieser partiellen Selbstdemontage überwiegend gut, im Vergleich zu anderen Ost-Ländern sogar hervorragend.
Seinen Erfolg konnte Biedenkopf nie ganz genießen – möglicherweise, weil er so spät kam. Wirklich befriedigt hätte ihn wahrscheinlich nur das Amt des Bundeskanzlers oder des EU-Kommissionspräsidenten. Aus seiner Ansicht, dass er einen hervorragenden Bundeskanzler abgegeben hätte, machte er keinen Hehl.
Sein Ehrgeiz und seine Selbstwertschätzung führten dazu, dass er sein Amt als Ministerpräsident anders anlegte, als es heute üblich ist. Für ihn war es selbstverständlich, sich zur Bundespolitik und EU-Fragen zu äußern. Ein Kurt Biedenkopf als bequem handhabbarer Teilnehmer in der Ministerpräsidentenkonferenz bei Angela Merkel wäre schwer vorstellbar.
Am 12. August 2021 starb Kurt Biedenkopf, der in seinen letzten Jahren nur noch selten öffentlich auftrat, mit 91 Jahren in Dresden.
Sein Tod lenkt den Blick darauf, dass der CDU heute beides fehlt: jemand, der für die Partei eine weitreichende strategischen Idee entwerfen kann – und ein Amtsträger, den sich eine Mehrheit ohne Schwierigkeiten im Kanzleramt vorstellen könnte.
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Wie immer, wenn man selbst nichts mehr vorzuweisen hat, sonnt man sich in alten Tagen und wenn die Linke noch ein Hoch ausspricht, macht das ganz besonders verdächtig, mal ganz von dem abgesehen, daß man doch von einem Amtsträger etwas erwarten darf oder ist das schon so außergewöhnlich, was man garnicht mehr gewohnt ist und dann zu Lobeshymnen verleitet, wo einer das Geld der Bürger vernünftig eingesetzt hat, was ja heutzutage anscheinend nicht mehr funktioniert.
SACHLICH, ANALYTISCH, DEZENT-MÄNNLICH
so war Biedenkopf, eine politische Persönlichkeit durch und durch, der Inbegriff des „elder statesman“. Er hatte Eigenschaften, die früher als selbstverständlich galten, die man aber heute bei eigentlich allen Vertretern der etablierten Parteien vergeblich sucht. So einfach könnte „normal“ sein.
Traurig dass er es noch mitbekommen hat, wie seine Nachfolger all das, was er aufgebaut hat, wieder einreißen. Allein die neu eingeführte Lehrerverbeamtung, nachdem man sich dem 20 Jahre lang erfolgreich (für Bildung und Finanzen) verweigert hat, ist eine Katastrophe. Der Pisa-Absturz Baden-Württembergs nach Übernahme der Grünen hätte Warnung genug sein sollen…
Ein guter, würdevoller und dennoch ehrlicher Nachruf, den man um die Fragestellung erweitern könnte, warum solche Leute heute nicht einmal mehr Kreisvorsitzender der CDU werden können. Mittelmaß, Duckmäusertum und Weltfremdheit wohin man schaut.
Ich bin mal gespannt, ob zum Staatsakt in Dresden auch die AfD Vertreter schicken darf, es darüber ein unwürdiges Tauziehen geben wird.
Biedenkopf und die Sachsen, das hat ganz einfach gepasst, am ehesten, wenn auch doch ganz anders mit Stolpe und Brandenburg zu vergleichen – wobei Stolpe eine „kleine DDR“ wollte und schuf, Biedenkopf aber das beste Bundesland von allen. Ein wichtiger Unterschied – bis heute. Ohne die Lohnsteuerzahlungen der Berlin-Flüchtlinge im Brandenburger Speckgürtel wäre der nördliche Nachbar ärmer dran als Ostsachsen. Doch nichts ist für immer. Frage in die Runde: Wenn wir über diese Jahre reden, die 1990er vor allem, kommt mir das so fern vor als spreche man über die Weimarer Republik, wie aus einer fernen Zeit. Eigentlich unfassbar. Und… Mehr
In Brandenburg wurden auch wenig Lehrer verbeamtet. Ich arbeite auch im ÖD und bei uns sind nur sehr wenige verbeamtet. Ich kenne ein wenig die sächsischen Strukturen, die sind auch nicht besser als in BB. Sachsen ist viel dichter besiedelt als BB etwa doppelt und Sachsen hat eine viel größere Industrietradition. Biedenkopf hatte eben die Kontakte zu CDU Kreisen im Westen und Unternehmern. Zu der Zeit konnten viele Dinge noch rel. hemdsärmlich umgesetzt werden. Das Schulsystem in Sachsen ist mit das beste, das stimmt. Naja ich stamme aus der Grenzregion Nordostsachsen…….das nimmt sich nicht viel mit BB. Kollege aus NRW… Mehr
Unser Freistaat verdankt nach 1990 seine bemerkenswerte Entwicklung vor allem Kurt Biedenkopf. Er und sein von ihm zusammengestelltes Kabinett war das Beste, was Sachsen bisher zu bieten hatte. Nach ihm regierten in Sachsen nur noch Versager, die die aufgebaute Substanz wieder verzehren.
Die damalige Landesregierung wäre heute genau die Bundesregierung, die Deutschland zu seiner Gesundung von der sich über 16 Jahre entwickelnden Merkel-Krankheit dringend benötigen würde.
Doch Deutschland ist unter Merkel ein Land geworden, wo Dummheit chic und der Irrsinn Methode sind. Mit dem heutigen politischen Personal verzehrt unser Land seine Substanz bis zum Zusammenbruch.
König Kurt Biedenkopf, in der guten(!) alten Zeit!
Ja, ausdrücklich die gute, alte Zeit!
Herr Biedenkopf war ein Politiker, wie er eigentlich in jedem Buche stehen sollte.
Er war intelligent, tatkräftig, innovativ und wusste sehr genau, wie die Menschen im Land, also nicht nur in seinem direkten Umfeld (Blase?!), denken und handeln. Das war ihm auch sehr wichtig.
Ich danke Herrn Biedenkopf für diesen Dienst an Deutschland!
Sie werden unserem Land sehr fehlen. In der heutigen Politiker-‚Riege‘ sehe ich niemanden, die oder der dieses Format, hinsichtlich Seriosität, Expertise, Erfahrung, Sozialkompetenz und Menschlichkeit, auch nur annähernd hat. Alle deutschen Poitikerinnen und Politiker eingeschlossen.
Ein schöner, ein würdiger und ein ausgewogener Nachruf für einen würdigen Politiker mit kleinen Fehlern, die ihn menschlich machten. Der Nachruf weckt wunderbare Erinnerungen an ein fern erscheinendes Land. Danke.