Vosgerau: Wie sich die CDU noch immer von Ungarn unterscheidet

Ungarn beschreitet einen konfrontativen Kurs im Streit mit der EU: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker steht demnach noch über den EU-rechtlichen Bestimmungen. Das macht die Richter am EuGH „fuchsteufelswild“. Die CDU will dagegen nur zeitweilig aus dem System ausscheren.

picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer
Symbolbild EuGH

Schon im ersten Teil dieses Textes ging es an vielen Stellen um die Zwietracht, Uneinigkeit und Dissonanz, die häufig zwischen der „herrschenden Meinung“ und einer vernünftig geordneten Herrschaft des Rechts bestehen. Der Staatsrechtslehrer, man könnte auch von einem Verfassungsrechtsexperten sprechen, Ulrich Vosgerau, Privatdozent an der Uni Köln, arbeitet sich seit 2015 an diesen Fragen ab. Er erinnert vor allem an die Grundlagen des deutschen Asylrechts, das eigentlich nicht von der Dublin-III-Verordnung der EU berührt sei und deren Absicht eigentlich nur unterstützen könne.

Daneben kritisiert Vosgerau auch die Einreise von Migranten ohne geklärte Identität grundsätzlich. Das ist ein weiterer Baustein seiner Kritik an der herrschenden Praxis. Die massenhaften Einreisen ohne geklärte Identität seien eigentlich schon wegen der geltenden Pass- und Visumspflicht der meisten beteiligten Staaten unmöglich: „Jemand, der – jedenfalls dem äußeren Anschein nach – aus einem pass- und visumspflichtigen Land kommt, kann nur über die Grenze gelassen werden, wenn er Pass und Visum hat, weil sonst seine Identität nicht feststeht und er – als Nebeneffekt – nicht abgeschoben werden kann.“ Leider sei aber die herrschende Meinung im Ausländer- und Asylrecht, dass das keine Rolle spiele und „die Majestät des Asylrechts gewissermaßen so heilig ist, dass man auch einen Asylantrag stellen kann, wenn man seinen Pass verloren hat“. Über 80 Prozent der Asylbewerber verlören „dementsprechend immer ihren Pass, bevor sie nach Deutschland kommen, aber nie das Mobiltelefon“, das aber vom Staat nicht ausgelesen werden dürfe. Eine Rückführung oder zwangsweise Abschiebung ist damit ohne den Willen der Beteiligten nicht mehr möglich.

„Die Pass- und Visumspflicht ist total sinnlos, wenn man den nirgendwo geschriebenen, allein durch Auslegung zustandegekommenen Satz einfügt ‚Es besteht keinerlei Pass- und Visumspflicht, wenn jemand das Wort Asyl ausspricht‘. Dann erlöschen die beiden Pflichten, dann soll es auf eine Feststellung der Identität also nicht mehr ankommen.“ Aufschlussreiche Randnotiz: Beim Bundesnachrichtendienst schlug man 2015 die Hände über dem Kopf zusammen, weil die Beamten damals mehrere Jahre damit zugebracht hatten, eine Art globale Gefährderliste zu erstellen, also eine „Liste von Leuten, die auf keinen Fall nach Deutschland einreisen sollen, weil man sie mit dem Islamismus in Verbindung bringt“.

Einfach war das gewiss nicht gewesen, weil die betreffenden Personen oft unter „falschem Namen operieren“, so Vosgerau. „Und nachdem also der BND in vielen Jahren, mit sehr hohem Aufwand eine solche Liste verfasst hatte, hat dann Angela Merkel gesagt: Wir machen die Grenze auf, führen keine Kontrollen mehr durch, und einen Pass braucht man auch nicht. Und dann war das natürlich alles null und nichtig. Schon diese Überlegung zeigt, dass die Passpflicht und die Visumspflicht elementaren Sicherheitsbedürfnissen der einheimischen Bevölkerung dienen und nicht außer Kraft gesetzt werden können, einfach indem jemand das Wort Asyl ausspricht. Aber anders die herrschende Meinung.“

Ungarn sucht die Konfrontation mit dem EuGH

Tatsächlich gebe es eine wichtige Parallele zu diesem „ganzen Gewese“ um eine angeblich neue Linie der CDU. Und das ist laut Vosgerau der Streit zwischen der EU-Kommission und Ungarn. Da sind die immer neuen Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen das mitteleuropäische Land. Und während die ungarische Staatsregierung zunächst „noch sehr folgsam war gegenüber den Asylvorstellungen des EuGH“, scheint jetzt, im dritten Vertragsverletzungsverfahren, ein Punkt erreicht zu sein, an dem man sich in Budapest gesagt hat: „Da machen wir nicht mehr mit.“

Und so stellten die Ungarn ihrem nationalen Verfassungsgerichtshof „eine ganz spezielle Frage“, und der Gerichtshof gab dezidiert Auskunft. Und dabei ging es darum, ob es nicht „ganz existentiell das Selbstbestimmungsrecht der Völker betrifft, die Zusammensetzung der eigenen Bevölkerung in Ungarn bestimmen zu können“. Ungarn argumentiert hier, dass „wenn man alle asylrechtlichen Regeln der EU einhält“, und zwar in der Auslegung des EuGH, dann sei es „faktisch völlig unmöglich, die Zusammensetzung der eigenen Bevölkerung noch zu kontrollieren“. „Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Asylbewerbern“ seien, auch nach abgelehntem Antrag „nicht durchgreifend möglich“.

Und selbst wenn einmal eine Abschiebung nach jahrelangen Prozessen gelinge – in Deutschland ist die Rede von acht Einspruchsmöglichkeiten und zweieinhalb Jahren Gesamtprozessdauer –, könne sich der Abgeschobene ins nächste Flugzeug zurück setzen, wieder zurückkommen, und dann müsse das ganze Verfahren wieder von vorne losgehen – laut Rechtsprechung des EuGH. Die Ungarn hätten daher ihre Beteiligung an diesem Rechtssystem notgedrungen abgesagt. Denn in diesem System bestimmt kein Staat und kein souveränes Wahlvolk seine eigene Zusammensetzung, vielmehr kann jeder Asylbewerber sich selbst aussuchen, wo er zugehörig sein will. Die Masse der Zuwanderer wird so zum Diktat für die Zusammensetzung der Bevölkerung, letztlich der Bürgerschaft. Und hier sei das Selbstbestimmungsrecht der Völker „als innere Grenze“ berührt, so Vosgerau, die Haltung der ungarischen Regierung und des dortigen Verfassungsgerichts wiedergebend.

Wie Asyl zum einklagbaren Individualrecht wurde

Indem er die Perspektive wieder auf Deutschland wendet, merkt Vosgerau an: „Und das ist wirklich das Interessante: Die heutigen CDU-Politiker sagen ja verklausuliert kaum etwas anderes.“ Sie sagen es zwar nicht direkt, aber dann eben doch: „Wenn wir das alles [die Vorgaben des EuGH] einhalten, dann gewinnen wir die Kontrolle nicht zurück.“ Und daher komme dann der Ruf nach einem Schengen-Notstand, wobei Merz ja sogar von einer „Notlage“ gesprochen und so verschiedene Rechtstheorien heraufbeschworen hat. Der Schengen-Notstand ist im Grunde gemeine Währung in dieser EU, wurde im letzten Herbst auch von der aktuellen Innenministerin an neuer Stelle praktiziert, an den Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz – freilich noch nicht mit maximalem Erfolg. Im ersten Halbjahr stellte die Bundespolizei über 42.000 unerlaubte Einreisen fest, die in Deutschland gestellten Asylanträge in dieser Zeit lagen mehr als dreimal so hoch bei 132.201. Für das Gesamtjahr 2024 darf man die Zahl mindestens verdoppeln.

Vosgerau ist der Auffassung, dass man mittels der wiedereingeführten systematischen Grenzkontrollen an EU-Binnengrenzen zu einer umfassenden Zurückweisung aller Einreisenden auf dem Landweg kommen kann, nämlich gemäß Artikel 16a GG und Paragraph 18 des Asylgesetzes. Das würde bedeuten, dass beide Zahlen auf Null zurückfallen. Das dänische Modell quasi. Übrigens hat der Nachbar im Norden den Grenzschutz mit einem schlichten Wildschweinzaun von etwas über einem Meter Höhe gelöst. Dieser Zaun muss offenbar so geschickt verdrahtet sein, dass die dänische Polizei immer dann sofort zur Stelle ist, wenn jemand versucht, ihn zu überwinden. So bleibt es für Dänemark normalerweise bei den EU-rechtlich ohnehin immer erlaubten „stichprobenartigen Kontrollen“. Systematische Kontrollen hat man daneben aber auch seit langem für die dänisch-deutsche Grenze angemeldet.

Übrigens macht Vosgerau auch deutlich, dass es auch nach dem Grundgesetz keineswegs ein individuelles Recht auf Asyl gibt. Das Asylrecht sei ein „Recht der Staaten, nicht der Individuen“. Laut Grundgesetz sollten politisch Verfolgte „Asylrecht genießen“ – nicht es verlangen oder einklagen dürfen. Die GG-Änderung von 1993 sieht er auch als eine Art Notwehr des Staates gegen die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, das sich dann doch für das „subjektive Individualrecht“ Asyl entschieden hatte und damit „letztlich Milliarden von Menschen ein potentielles Recht auf Durchführung eines kostenlosen Verwaltungsverfahrens in Deutschland einräumte“, dessen „Ergebnis ein Einwanderungs- und Versorgungsanspruch sein konnte“.

Ist der Konflikt mit dem EuGH unausweichlich?

Dabei hat sich die CDU noch nicht eigentlich dem ungarischen Argument geöffnet, wie auch Vosgerau zu bedenken gibt. Merz hat bisher nur mit der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ und dem „Schutz der inneren Sicherheit“ argumentiert, die die Ausrufung einer „nationalen Notlage“ erfordern sollen. Dieses Argument ist etwas schwächer als das ungarische, „technisch funktionaler“, wie Vosgerau meint. Der „Rekurs auf die öffentliche Sicherheit, also der Schengen-Notstand“ sei „im Europarecht glasklar vorgesehen“. Das bedeute: „Wir stützen uns auf das Europarecht und finden eine eigene Auslegung dazu, während der ungarische Ansatz ungleich konfrontativer ist. Die Ungarn postulieren in Gestalt des Selbstbestimmungsrechts der Völker einen Rechtsgrundsatz, der noch über dem Völkervertragsrecht stehen würde.“

Und genau das sei es, was den EuGH „unglaublich allergisch“, ja sogar „fuchsteufelswild“ mache, dass hier ein Staat postuliert: „Es gibt etwas, das noch über dem Europarecht steht, und es gibt vielleicht sogar Entscheidungsgremien, die über dem EuGH stehen.“ So erklärt sich der tiefgreifende Konflikt zwischen Ungarn und Kommission sowie EuGH.

Der CDU-Vorschlag verzichte demgegenüber „erst einmal auf eine Konfrontation“, habe aber mittel- und langfristig eine Schwäche: „Wenn man sich auf einen Notstand der öffentlichen Sicherheit beruft, dann werden Kommission und EuGH irgendwann sagen: Schön und gut, aber dieser innere Notstand kann nicht ewig anhalten. Den müsst ihr auch irgendwann, sei es nach einem halben Jahr oder spätestens einem Jahr, wieder in den Griff bekommen.“ Ewig könne man sich nicht auf den Notstand berufen. Nun gibt es seit 2015 und 2016 eine ganze Reihe von Grenzkontrollen rund um Frankreich, Dänemark, auch Teile der deutschen Grenze, die kontinuierlich durchgehalten wurden. Aber Vosgerau hat natürlich Recht, wenn er feststellt, dass die CDU die Oberherrschaft des EU-Rechts und des EuGH nicht in Frage stellt. Dagegen habe „das ungarische Argument, das sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker beruft und in volle Konfrontation zum EuGH geht, prinzipiell Ewigkeitswert“. Denn die Ungarn beanspruchen, dass ihr Selbstbestimmungsrecht solange geltend gemacht werden kann, wie es noch ein ungarisches Volk gibt.

Allerdings: Wenn die CDU ihren Vorschlag einer „nationalen Notlage“ wirklich einmal umsetzen sollte, darauf auch mit systematischen Grenzkontrollen begönne und dann alle jene systematisch zurückweisen wollte, die an der Landgrenze einreisen, dann müsste auch sie sich früher oder später auf einen Konflikt mit dem EuGH einrichten, der vermutlich seinen Ansatz vom Zauberwort Asyl weiter verfechten würde.

Andere Stimmen: Koopmans, Maaßen, Krah

Es gibt noch mehr Stimmen für eine konsequente Zurückweisung an der deutschen Grenze, und die kommen manchmal aus unerwarteter Quelle. So hat der niederländische, in Berlin lehrende Migrationsforscher Ruud Koopmans auf X darauf hingewiesen, dass „NIEMAND der irregulär nach Deutschland kommt, … schutzbedürftig“ sei. „Alle waren in mehreren Ländern“, in denen „sie bereits sicher waren“. Zugleich gebe es „viele wohl Schutzbedürftige“ auf der Welt, „die es niemals hierher schaffen“. Das scheint niederländischer Common sense zu sein. Aus den beiden lange bekannten Punkten will Koopmans die Grundlage für eine wirkliche Asylreform ableiten.

Auch das Ex-CDU-Mitglied und der jetzige Chef der Werteunion – die am Sonntag noch nicht durchstarten konnte – fordert strenger als andere durchgängige Zurückweisungen an der Grenze. In Reaktion auf das Attentat auf Michael Stürzenberger schrieb er im Juni ein Migrationsprogramm, in dem es etwa heißt: „Die Bundespolizei wird angewiesen, mit erforderlichen und geeigneten Mitteln den Schutz des Bundesgebietes vor illegaler Einwanderung und Asylmissbrauch zu gewährleisten.“ Asylgesuche an deutschen Landesgrenzen seien wegen der Drittstaaten-Regelung des Grundgesetzes „unbeachtlich“ – dürfen also ignoriert werden.

In einem neueren Tweet schreibt Maaßen zum EU-Recht: „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass viele Mitgliedstaaten sich nicht um diese Verpflichtungen [zur Durchführung von Asylverfahren] kümmern und dass das europäische Außengrenzsystem ebenso wie das Zuständigkeitssystem für die Behandlung von Asylanträgen nach Dublin kollabiert sind. Aus einem Rechtssystem, das kollabiert ist, ergeben sich keine Verpflichtungen für Deutschland.“ Aber selbst wenn alles nach EU- und Dublin-Regeln abläuft wie im Fall der in Griechenland anerkannten Afghanen, zeigen sich ernsthafte Probleme des derzeitigen Systems, die das Innenministerium offenbar dauerhaft nicht lösen kann.

— Hans-Georg Maaßen (@HGMaassen) August 30, 2024

Maximilian Krah, der etwas in Ungnade gefallene EU-Abgeordnete der AfD, aber durch Jura-Studium vielleicht ebenfalls berufen, um zu diesen Fragen Stellung zu nehmen, ist der Meinung, dass „das Bewusstsein für die rechtlichen Hürden“ auf dem Weg zu einem Einwanderungsstopp noch weitgehend gar nicht vorhanden sei. Krah glaubt außerdem, dass es nicht ohne „Änderung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Dublin-III-Verordnung der EU und vermutlich auch des Grundgesetzes“ gehen wird. Das hängt die Latte erheblich hoch und zeichnet den Weg eines endlosen Kampfes gegen internationale Konventionen vor. Ob das Ziel nicht doch auf direkterem Wege erreicht werden kann?

Allgemein bekannt ist inzwischen, dass das Asylrecht des Grundgesetzes anfangs ganz anders gemeint war. Es war im Ursprung kein einklagbares Individualrecht, sondern ein Gnadenrecht des Staates und sollte eigentlich nur für die Flüchtlinge aus den kommunistischen Staaten Osteuropas gelten und dabei vor allem für Deutsche. Beinahe hätte man das sogar ins GG hineingeschrieben. Mit den Jahren wurde die Auslegung immer weiter, und so beschlossen Regierung und Opposition (ohne die Grünen) im Jahr 1993 gemeinsam eine Beschränkung: Wer immer über einen sicheren Drittstaat einreist, durfte nun ausdrücklich kein Asyl mehr beantragen, was ja ohnehin irgendwie nahelag, denn in Schweden oder Österreich war ein verfolgter Dissident ja ebenfalls sicher.

Aber auch diese Einschränkung hielt nicht lange und wurde in der EU und im grenzenlosen Schengenraum aufgelöst. Dass das Schengensystem nicht mehr funktioniert, sagen Leute, die damit jeden Tag umgehen müssen seit langem, etwa deutsche Bundespolizisten. Heiko Teggatz von der Bundespolizeigewerkschaft der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) ist für eine grundlegende Schengen-Reform. Das System ohne Binnenkontrollen – also etwa zwischen Deutschland und Polen oder Frankreich – müsste demnach einem System aufeinanderfolgender Kontrollen weichen.

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