Der Verfassungsschutz-Chef weiß schon jetzt, was sein Amt 2022 aufdecken wird

In einem Interview sagt der Präsident des Inlandsgeheimdienstes Thomas Haldenwang den Extremismus-Trend des nächsten Jahres voraus. Es ist nicht das einzige Bizarre an seiner Wortmeldung.

IMAGO/photothek

Bei den Leitern von Geheimdiensten handelt es sich normalerweise um diskrete Beamte, die nur spärlich Auskunft über die Arbeit der vergangenen Jahre geben, und zu laufenden Operationen gar nichts mitzuteilen pflegen. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang dürfte als einziger Chef eines Dienstes in die Geschichte eingehen, der schon in der Gegenwart weiß, was seine Mitarbeiter im kommenden Jahr aufdecken. Die entsprechenden Ausführungen finden sich in einem Interview, das Haldenwang keinem Medium gab – sondern der Webseite „Gesichter der Demokratie“. Dahinter verbirgt sich ein Sven Lilienström aus Kaarst in Nordrhein-Westfalen, der seine Biografie nur passwortgeschützt auf seiner Seite platziert.

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Über die Finanzierung von „Gesichter der Demokratie“ findet sich überhaupt kein Hinweis. Wer ein wenig zu Sven Lilienström sucht, der stößt darauf, dass er vor Jahren versuchte, ein „Deutschlandsiegel“ für Produkte mit mindestens 55 Prozent Fertigungstiefe in der Bundesrepublik und ein kostenpflichtiges „Seniorensiegel“ auf den Markt zu bringen. Im Jahr 2017 gründete er dann nach eigenen Angaben seine Ein-Mann-Initiative „Gesichter der Demokratie“. Auf der Webseite heißt es unter anderem: „Die zunehmende Akzeptanz für Protektionismus und partiellen Nationalismus rüttelt an unserer demokratischen Wertearchitektur.“ Um der Akzeptanz, die an der Architektur rüttelt, etwas entgegenzusetzen, führt Lilienström Interviews mit Politikern, Unternehmens- und Behördenchefs. Im Dezember 2021 war nun der Chef des Verfassungsschutzes an der Reihe.

Zunächst ging es in dem Gespräch darum, was „Demokratie und demokratische Werte“ für Haldenwang „ganz persönlich“ bedeuten. „In einer Demokratie zu leben, bedeutet für mich nicht nur Gewaltenteilung und freie Wahlen“, so der Behördenchef, „sondern auch Teil einer pluralistischen Gesellschaft zu sein, in der niemand aufgrund seiner geografischen oder sozialen Herkunft, seines Geschlechts oder seiner Religionszugehörigkeit diskriminiert wird. Demokratische Werte wie beispielsweise Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit sind dabei der Kompass für ein friedliches Miteinander.“ Interessanterweise kommt in seiner Aufzählung ein Diskriminierungsverbot wegen legaler politischer Überzeugungen oder ebenfalls legaler persönlicher Entscheidungen – etwa der, sich gegen Covid impfen zu lassen oder es abzulehnen – nicht vor.

Dann geht es um den Blick in die Zukunft – und hier wird es hochspannend. Lilienström liefert das Stichwort: „In der Bundeswehr haben rechtsextremistische Aktivitäten zugenommen. Sie nannten die Lage „besorgniserregend“. Hat die Bundeswehr ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus? Was tun dagegen?“ Und Haldenwang antwortet: „Die größte Bedrohung für die Sicherheit und Demokratie in Deutschland geht weiterhin vom Rechtsextremismus aus. In letzter Zeit wurden auch Fälle in Sicherheitsbehörden und bei der Bundeswehr bekannt, die auf eine Haltung der handelnden Mitarbeitenden jenseits der freiheitlichen demokratischen Grundordnung hindeuten. Gerade von diesen Personen kann eine besondere Gefahr ausgehen, da sie über sensible Informationen verfügen, eine besondere Ausbildung haben oder Waffenträger sind. Bereits im Jahr 2020 haben wir deshalb unseren ersten Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden vorgestellt.“

Und nun folgt seine entscheidende Prognose: „Im Frühjahr 2022 wird es eine Fortschreibung geben. Von einer Reduzierung der Fälle gehe ich dabei nicht aus. Im Gegenteil: Durch unsere Arbeit hat eine intensive Sensibilisierung in den Behörden, der Vorgesetzten und der Kollegenschaft stattgefunden. Entsprechende Fälle können dadurch besser und schneller aufgedeckt werden.“

Haldenwang weiß also im Grunde schon, dass es viele Fälle von Rechtsextremismus in der Bundeswehr gibt, die nur noch „aufgedeckt“ werden müssen, wofür aber die „Sensibilisierung“ der Truppe von allein sorgt, also die von dem Verfassungsschutzchef erhoffte Bereitschaft innerhalb der Bundeswehr, seinem Amt oder dem Militärischen Abschirmdienst Tipps zu verdächtigen Kameraden zu geben.

Selbstanzeige
An den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Herrn Thomas Haldenwang
Hier lohnt es sich, die Darstellungen Haldenwangs und die Insinuation seines Interviewers („strukturelles Problem“) mit den Zahlen des Bundesverteidigungsministeriums abzugleichen. Bei der Überwachung der Bundeswehr überschneiden sich mittlerweile die Kompetenzen von Militärischem Abschirmdienst (MAD) und Verfassungsschutz. Nach den Daten des „Kompetenzzentrums für Extremismusfälle“ in der Bundeswehr gab es im gesamten Jahr 2020 insgesamt 1016 sogenannte „Verdachtsfälle“ – also schon bestehende und 2020 neu dazugekommene Hinweise auf vermeintlich extremistische Bestrebungen von Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr. Davon entfielen 843 auf Rechtsextremismus-Verdacht, 78 auf Islamismus-, 53 auf einen sogenannten Reichsbürger-Verdacht, 26-mal wurde Ausländerextremismus vermutet, 16-mal Linksextremismus. Dabei handelte es sich – wie gesagt – um Verdachtsfälle, also gesammelte Meldungen, Verdächtigungen, Gerüchte.

Interessant liest sich die Auflösung. Nach den Ermittlungen, also der Prüfung der Verdächtigungen, blieben im Sieb 9 Rechtsextreme hängen – wobei dafür schon der Kontakt zur AfD-Jugendorganisation „Junge Alternative“ ausreicht – 4 Bundeswehrangehörige standen offenbar den Reichsbürgern nahe, zwei einer islamistischen Bewegung und null einer linksextremen Organisation. Macht insgesamt 15 Fälle eines erhärteten Verdachts bei 1016 Gesamtverdächtigungen. Da es sich bei der Aufstellung allerdings um eine „Fortschreibung“ aus dem Vorjahr handelte, waren 8 der 15 Personen schon vor 2020 aktenkundig. Im Jahr 2020 kamen laut Verteidigungsministerium demnach 7 neue gesicherte Verdachtsfälle dazu.

Bei insgesamt 182 873 Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr kann jeder selbst beurteilen, ob es sich dabei um ein großes oder sogar ein strukturelles Problem handelt. Extrem ist allenfalls die Diskrepanz zwischen den Verdachtsmeldungen und dem, was sich am Ende erhärten ließ. Schon der angebliche „Bundeswehrskandal“, mit dem sich seinerzeit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen zu profilieren suchte, bestand am Ende nach internen wie staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Gerichtsurteilen fast ausschließlich aus haltlosen Anschuldigungen und winzigen Bagatellfällen.

Was Haldenwang betreibt, fällt offenbar in die Kategorie „Erwartungsmanagement“. Er weiß, dass Rechtsextremismus in der Bundeswehr allenfalls eine marginale Rolle spielt (die anderen Extremismus-Spielarten erwähnt er gar nicht erst), und dass allenfalls eine Kultur der Verdächtigung in der Truppe herrscht. Und diese Verdachtsschöpfung – dazu will er gern seinen Beitrag leisten – soll auch 2022 ungebrochen weitergehen. Seine Versicherung: „von einer Reduzierung der Fälle gehe ich dabei nicht aus“ muss man wohl so lesen, dass er es als Alarmzeichen sehen würde, wenn sich die Zahl der Verdächtigungen im kommenden Jahr der Quote von tatsächlichen Fällen einigermaßen annähern würde.

Von Lilienström gibt es noch eine weitere Stichwortfrage: „Das BfV konzentriert sich natürlich nicht nur auf Rechtsextremismus. Welches der insgesamt neun ‚Themenfelder‘ ist derzeit mit den meisten, welches mit den geringsten Ressourcen ausgestattet und warum?“ Wer meint, der Verfassungsschutz-Chef käme wenigstens jetzt auch auf Islamismus und Linksextremismus zu sprechen, der irrt. „Die Bedrohungen für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung“, verkündet Haldenwang, „verändern sich mit der Zeit und können sehr dynamisch sein. Während des Ost-West-Konflikts standen beispielsweise andere Akteure im Mittelpunkt unserer Arbeit als nach den Anschlägen des 11. September 2001 oder nach den rechtsterroristischen Morden in Kassel, Halle und Hanau.“ Das Messer-Attentat von Würzburg mit drei Toten und neun Verletzten oder der linksextremistische Totschlagversuch in Stuttgart kommen bei ihm gar nicht erst vor.

Signal auch für Merkels Niedergang
Verfassungsschutz-Präsident Haldenwang entpuppt sich als Fehlbesetzung
Bemerkenswert wirkt dagegen Haldenwangs apodiktische Einordnung des Anschlags von Hanau als „rechtsterroristisch“. Das Bundeskriminalamt stellte am Mittwoch gerade seine Ermittlungen zu dem Fall endgültig ein – mit dem Ergebnis, dass der hochgradig geistesgestörte Täter Tobias R. zwar aus einem gegen Migranten gerichteten Wahn mordete, aber weder über Mittäter, Mitwisser noch über irgendwelche Verbindungen zu extremistischen Organisationen oder über politische Ziele verfügte. Bis vor Kurzem galten diese Punkte noch als Kriterien für Rechtsterrorismus und Terrorismus überhaupt. In seinem wirren Manifest finden sich auch keinerlei Bezüge zur deutschen Politik, und überhaupt nur ein einziger sehr mittelbarer Bezug zu einem Deutschen: Tobias R. glaubte, der Fußballtrainer Jürgen Klopp habe ihm seine Ideen gestohlen.

Außer seiner Prognose oder vielmehr Zielstellung für Rechtsextremismus-Verdächtigungen bei der Bundeswehr und seiner eigenwilligen Bewertung des Anschlags von Hanau erwähnt Haldenwang in dem „Gesichter der Demokratie“-Interview an keiner einzigen Stelle auch nur die Existenz von linkem und islamistischem Extremismus – noch nicht einmal der Form halber. Das entspricht zwar nicht den Erkenntnissen seines eigenen Amtes – dafür aber der Schwerpunktsetzung, wie sie die neue Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vornimmt. Für sie gibt es „bei Rechtsterrorismus und Rechtsextremismus in der Bundesrepublik derzeit die höchste Bedrohungslage“, wie sie gleich nach ihrem Amtsantritt mitteilte. An zweiter Stelle steht bei ihr die „Querdenker- und Coronaleugnerszene“.

Als in Hamburg vor wenigen Tagen bei Abdurrahman C. in Hamburg Bauteile für einen Sprengsatz gefunden wurden, äußerte sich die neue Innenressort-Chefin mit keinem Wort. Dabei ist der Hamburger Fall alles andere als eine lokale Meldung. C.s Vater gehörte zu den Organisatoren der inzwischen geschlossenen Al-Kuds-Moschee, in der das Netzwerk der Terrorpiloten vom 11. September um Mohammad Atta verkehrte. In Hamburg hatte sich offenbar eine islamistische Terrorzelle der 2. Generation gebildet. Eine Bundesinnenministerin, die darauf demonstrativ nicht eingeht, setzt damit auch eine politische Markierung.

Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang gilt als perfekter Beamter, der die Wünsche der jeweiligen politischen Führung schon kennt und vorwegnimmt, bevor sie ausgesprochen werden. Das dürfte auch 2022 so bleiben.

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Kommentare ( 43 )

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43 Comments
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Skeptiker
2 Jahre her

Wenn Linke die Verfassung ändern, dann dient das dem „Fortschritt“. Wenn Bürgerliche (die als „Rechte“ verleumdet werden) auf Geist und Wortlaut der Verfassung pochen, dann ist das „verfassungsfeindlich“.

Last edited 2 Jahre her by Skeptiker
Klaus Kabel
2 Jahre her

Haldenwang, Harbarth und noch einige solcher Genossen wären in keinem europäische Land auf solche einen Posten gekommen. Aber Merkel hat aus Deutschland eine Bananenrepublik und da dürfen solche Personen ihr Unwesen treiben.

MariaundJosef
2 Jahre her

Haldenwang und der andere Mensch mit Namen Harbarth…. werden immer auf Befehle des Büros „ Unter den Linden“ warten. Armes, verlorenes ??

dertreckerfahrer
2 Jahre her

Mich wundert es das in Deutschland noch immer Menschen mit Kriegswaffen hantieren dürfen! Hat von den uns Regierenden keiner Angst vor denen die den Schlüssel zur den Waffenkammern und Munitionslagern haben? Nicht vor den die wissen wie Panzer und Haubitzen gefahren und auch bedient werden. Uns wird allen unterstellt, Ihr seid Rechts- Linksextremsten, Islamisten oder Terroristen! Anscheinend ist nur noch die Politiker und OR-Kaste für dieses Land tragbar. Der mündige Bürger, der sich um den Zustand dieses Landes sorgt, der wird in eine extremistische Ecke gestellt sobald er seine Bedenken nur laut ausspricht- geschweige dem aufschreibt. Sollte es so weitergehen… Mehr

Konservativer2
2 Jahre her
Antworten an  dertreckerfahrer

„Der mündige Bürger, der sich um den Zustand dieses Landes sorgt“. Genau der soll, so macht es den Eindruck, doch abgeschafft werden.

Skeptiker
2 Jahre her
Antworten an  dertreckerfahrer

Paraden, bei denen die Geschütze der Panzer auf die Tribüne gerichtet sind, waren ja in D. nie üblich. (Auch in der früheren, noch wirklich demokratischen Bundesrepublik nicht.) Eine Sache weniger, die man abschaffen muss.

H. Heinz
2 Jahre her

Merkel ist weg, die Paladine wie Harbarth, Haldenwang, Brinkhaus, Hans, Günther, Bouffier, Soeder etc. sind jedoch immer noch da, um diese Politik Merkels in im Merkel´schen Geist weiter zu sanktionieren

G Koerner
2 Jahre her
Antworten an  H. Heinz

Herr Heinz, schlagen Sie bitte im Fremdwörter-Duden das Wort „sanktionieren“ mal nach. Und anschließend lassen Sie sich ihr Geschreibsel noch mal durch den Kopf gehen. Dann finden vielleicht auch Sie den Fehler!

Reinhard Peda
2 Jahre her

„Dahinter verbirgt sich ein Sven Lilienström aus Kaarst in Nordrhein-Westfalen, der seine Biografie nur passwortgeschützt auf seiner Seite platziert.“
In Englisch geht es.

Ben Goldstein
2 Jahre her

Wir haben eine Paranoia-Gesellschaft. Der wahre Kern ist, dass Leute wie ich zwar die Gewaltspirale fürchten, aber froh drum wären, wenn sich der Höllenschlund unter Politiker, Bürokraten und Medienschaffenden auftäte und die meisten davon verschlingen würden. Es ist kein Plus, dass diese Menschen atmen. Das bedeutet nicht, dass man Gewalt billigt oder akzeptiert. Bitte, Herr im Himmel, lass es friedlich bleiben.

Nibelung
2 Jahre her

Es gibt Behörden, die sollten eigentlich die Verfassung generell gegen alle Umtriebe schützen, machen sich aber trotzdem gemein mit jenen, die glauben über dem Gesetz zu stehen und das schafft nicht nur Unglaubwürdigkeit, sondern auch Verdruß und ist genau das Problem was dann entsteht, wenn die Bürger diese Hinterlist bemerken und sich zur Wehr setzen, ansonsten ist es kontraproduktiv und führt sie ins Abseits. Nun will die niedersächsische Landesregierung nach dem G2-Urteil des OVG eine Anhörung initiieren die nur dem Zweck dient, ihre eigene Meinung nochmals laut vernehmbar nach außen zu tragen, was zwar am Urteil nichts ändert, aber damit… Mehr

Bernd W.
2 Jahre her

Haldenwang ist auf seinem Posten so gerechtfertigt wie eine Sonnenbank in der Atacama-Wüste. Völlig fehl am Platze, mitunter brandgefährlich…

November Man
2 Jahre her

Der Herr Verfassungsschutz-Chef, abhängig, unfrei, keine eigene Meinung, staatlich lohnabhängiger Geldempfänger ohne Charakter und Rückgrat, wie so viele in solchen politischen Ämtern.