Steinmeier fehlt Vernunft in der Gesellschaft, dort vermissen Viele Vernunft in der Politik

In seiner Fritz-Stern-Lecture schnitt Frank-Walter Steinmeier ernste Themen an. Er analysierte Stimmung und politische Lage in dem Land, dessen oberster Repräsentant er sein soll. Und, das sei vorweggenommen, diese Analyse gelang, die Frage nach den Ursachen dagegen ging gründlich daneben. Kurze Bemerkungen zu einem überschätzten Politiker.

imago/epd

Der Bundespräsident zeichnet in diesen Tagen ein eher düsteres Bild von seinem Land. Bei seiner Fritz-Stern-Lecture blieb er dieser Farbwahl treu. Doch so treffend der deskriptive Teil seiner Rede auch war – die Frage nach den Ursachen blieb de facto unbeantwortet. Denn die Erklärversuche waren erkennbar zu kurz gegriffen.

Kulturpessimismus herrscht – so Steinmeier – in Deutschland. Diese Feststellung ist in ihrer Richtigkeit mit Händen zu greifen, so offen liegt sie zutage. Und einen solchen Pessimismus konstatiert der Bundespräsident auch für die 1920er Jahre. Weiter führt er sinngemäß aus, aus dem Kulturpessimismus damals sei Angst entstanden, und diese Angst habe den Nationalsozialismus wachsen lassen, der Rest sei bekannt – kurzgesagt: Wer kein Optimist ist, fördert eine neue Diktatur von „Rechts“.

Worauf sich Steinmeier hätte beziehen können

Falls dem so ist, besteht in der Tat Grund zum Pessimismus. Falls unser Staatsoberhaupt eine solche Sichtweise der komplexen politischen Geschichte rund um den „Europäischen Bürgerkrieg von 1917 bis 1945“ hat, dann trägt er dazu bei, dass Deutschland sich in einer wiederholenden Schleife befindet. Dann trägt er dazu bei, dass die Vergangenheit tatsächlich nicht vergehen will. Denn der Kulturpessimismus im Europa der 1920er Jahre speiste sich mitnichten aus einer diffusen Angst vor „Rechts“, sondern aus einer konkreten Angst vor „Links“.

Im Jahre 1917 hatte Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, in Russland die Macht an sich gerissen – und ein beispielloses, linksterroristisches Regime errichtet. Dabei war der als überaus radikal bekannte Gefährder eigentlich in seinem Exil in der Schweiz gut untergebracht und neutralisiert – deutsche Grenztruppen ließen ihn passieren. Dies ist ein nicht restlos geklärter Vorgang. Wer ein Interesse daran hatte, den Revolutionär quasi als Zündfunken in das höchst labile und explosive Russland zu schaffen, wurde nie bekannt.

Behalten wir den Bundespräsidenten im Auge. Er warnt vor „Rechts“, was auch immer das sei, und warnt vor der Wiederkehr der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Doch nach dem Hungerwinter 1917 ging es eindeutig auf der anderen Seite los: eine kommunistische Revolte brach in Kiel los, bahnte sich den Weg nach Berlin, wütete besonders schlimm in München und ließ sich nur mit dem Einsatz Bewaffneter eindämmen. Der nächste Angriff kam von Osten – die Schlacht am Annaberg ging zwar gegen polnische Insurgenten, die aber wurden von bewährten Soldaten und hochmotivierten Studenten eindeutig besiegt. Die illegale Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen sorgte für erneute große Not und war schwerer zurückzudrängen, dazu bedurfte es einer besonnenen Reichsregierung. Doch niemand sprach damals von „Rechts“ – nicht einmal bei einem verschrobenen Münchner Lokalpolitiker, der der Ideologie der Ariosophie verfallen war und seitdem den Judenhass predigte, obschon er sich selbst als glühenden Sozialisten sah, war „Rechts“ auch nur entfernt in Sicht. – Dies ist, in kurzen Worten, die Lage, die Steinmeier mit der heutigen Lage Deutschlands vergleicht.

Steinmeier, der große Geschichtsdeuter

Der Bundespräsident bemüht, um Deutschland heutzutage zu erklären, den über alle Zweifel erhabenen Thomas Mann, der die Lage vor knapp 100 Jahren wie folgt beschreibt: „Diese Art von Verdunkelung, dieser Obskurantismus ist sentimentale Rohheit, insofern sie ihre brutale und unvernünftige Physiognomie ‚unter der imposanten Maske‘ des Gemütes, der Germanentreue etwa, zu verstecken sucht.“ Und genau diese „sentimentale Rohheit“ erkennt Steinmeier im heutigen Deutschland. Wörtlich sagt er: „Das scheint mir eine treffende Beschreibung für ein mehr als aktuelles Phänomen, das wir im politischen Diskurs in unserem eigenen Land, aber auch auf der anderen Seite des Atlantiks und in vielen Gesellschaften weltweit heute beobachten können.“

Machen wir ein Exempel. Halten wir uns, nur als Versuch, an Galileo Galilei. Der sagte, als es ihm verboten wurde, zu behaupten, die Erde drehe sich um die Sonne: „Und sie bewegt sich doch!“ Nehmen wir also an, es sei nicht die Angst vor „Rechts“, die das Land bewege, sondern die Angst vor „Links“ – so wie damals, so wie in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, als vom Ungeist des Nationalsozialismus nur einige Versprengte in München und Umgebung gehört hatten. Als aber die Angst vor dem Bolschewismus im ganzen Land groß und sehr real war. Nehmen wir an, die Menschen hätten Angst vor Zuständen wie in Venezuela. Nehmen wir an, sie hätten Angst vor der Enteignung von Häusern in Berlin, die die SED-Fortsetzungspartei unisono mit den Grünen fordert. Nehmen wir an, die Menschen hätten Angst vor dem Verlust ihrer Bewegungsfreiheit und wüssten dabei genau, dass weder die unpünktliche und teure Bundesbahn noch eine riesige Autobatterie voller Giftstoffe ihren zuverlässigen Golf Diesel ersetzen können. Nehmen wir an, sie hätten es satt, dass ihre Kinder von wildgewordenen Erzieherinnen mit Gender-Gaga vollgestopft werden, bis sie weinend nach Hause laufen.

Was wäre dann? Ja, dann hätte unser Bundespräsident mit seiner Fritz-Stern-Lecture gründlich danebengelegen. Dann hätte er sich blamiert.

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Kommentare ( 161 )

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161 Comments
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axel58
5 Jahre her

Ich weiß garnicht warum Christian Wulff so niedergemacht wurde.Man schaue sich die heutige absolute Fehlbesetzung an.Es ist kaum zu glauben aber es gibt immer einen der die Messlatte noch ein Stückchen tiefer legen kann.

elly
5 Jahre her

definiere Vernunft, nach meiner Definition von Vernunft lässt Steinmeier diese schon immer vermissen.

spindoctor
5 Jahre her

„Error 404 – President not found“

Peter Gramm
5 Jahre her

Ausgerechnet der Herr Steinmeier, der schon mal deutsche Bürger in Guantanamo vergessen hat. Tja, wenn es einem selbst sehr gut geht kann man schon mal das Elend anderer vergessen.

juri
5 Jahre her

Und ich Dussel habe damals geglaubt, dass Gauck der schlechteste Grüßaugust unseres Landes ist. Aber weit gefehlt. Dieser Mensch toppt alles je dagewesene. Ein Mann fernab jeglicher Realität und jedes halbwegs normalen Bürger unseres Landes. Ein Grüßaugust, der nicht einmal demokratisch gewählt wurde. Für mich, eine sehr große Schande für dieses Land.

Nachdenkerin X
5 Jahre her

Bei seiner Empfehlung für die Tranigen Fischgräten macht er nicht halt (privat kann er hören, was er will, und wenn es das Geklapper von Blechbüchsen ist, aber als Staatsoberhaupt sollte man wissen, was man empfiehlt). Jetzt geht es weiter nach unten
https://www.welt.de/politik/deutschland/article189972939/Fridays-For-Future-Steinmeier-besucht-Schuelerdemo-und-lobt-Klimaschuetzer.html
Ich habe geglaubt, nicht richtig zu lesen. Schuleschwänzen ist also gut, wenn es für die „richtigen“ Ziele ist …
Ein Staatsoberhaupt biedert sich an. Wieviel Reputation will er noch verspielen?

Nichzufassen
5 Jahre her
Antworten an  Nachdenkerin X

Reputation ist für den bestenfalls Mittel zum Zweck. Seine Hauptaufgabe ist das Ausführen von Aufträgen.

Nibelung
5 Jahre her

Das was Wilhelm II. zum Schluß verhindern wollte, nämlich ein Grüßaugust zu sein, macht man heute gerne, denn aus dem sozialistischen Mief entkommen fühlt man sich doch sicherlich ganz gut in dieser Rolle und im Schloß zu residieren ist ja auch nicht ohne, jetzt müßte nur noch die damit verbundene Haltung mit dem Amt kompatibel sein, dann wäre ja alles in Ordnung, aber das trägt halt nicht jeder in sich, aus Sachbearbeitern kann man ja auch keine Gelehrten machen, in der Politik ist aber anscheinend alles möglich.

michael jensen
5 Jahre her

#letsfriday2 Friday for Future 2.0 Was Kinder können und mit Billigung der Medien und der Politik dürfen, können wir auch: für die gute Sache freitags alles liegen lassen und auf die Straße gehen. Wofür es sich lohnt zu kämpfen: für ein besseres Klima für ein besseres Klima in Diskussionen für ein besseres Klima in der Politik mehr Respekt vor Kindern mehr Bildung für Kinder ▶️ für die Rechte von Frauen ▶️ für die Rechte von Juden für die Rechte von Christen für mehr Toleranz ▶️ für Vernunft ▶️ für Wahrhaftigkeit für Redlichkeit #letsfriday2 Malen wir Schilder und gehen freitags nach… Mehr

butlerparker
5 Jahre her
Antworten an  michael jensen

Man könnte aber auch von montags bis freitags jeden Tag für eine andere gute Sache demonstrrieren und gar nicht mehr arbeiten gehen. Ist man dann ein besonders guter Mensch?

michael jensen
5 Jahre her

Was Kinder können und mit Billigung der Medien und der Politik dürfen, können wir auch: für die gute Sache freitags alles liegen lassen und auf die Straße gehen. Unsere guten Ziele lauten: für besseres Klima – in Diskussionen; für mehr Bildung für unsere Kinder; für Sicherheit – und Freiheit; für Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Vernunft – in der Berichterstattung; und noch vieles mehr. Malen wir Schilder und gehen freitags nach draußen an die frische Luft. Verlassen wir die Kaufhäuser, die Werkbänke, die Büros, die Finanzämter, die Krankenhäuser… Damit wir einander erkennen, können wir die gelben Westen anziehen, die jeder im Auto… Mehr

89-erlebt
5 Jahre her

Ich frage mich immer, warum die Fans des staatlich versorgen Sozialismus von Kühnert über Wagenknecht bis Kretschmann nicht nach Kuba oder Venezuela ausgewandert sind? Dort hätten sie doch volkswirksam die von ihnen hier eingeforderten Verheißungen tatkräftig umsetzen können, als leuchtende Beispiele für die gesamte zu bekehrende Welt. Warum sind sie noch hier?

Buranus
5 Jahre her
Antworten an  89-erlebt

Es reicht doch, wenn man dorthin regelmäßig in Urlaub fliegt. Bei den geplanten 3 erlaubten Flügen pro Jahr/Person muss man doch wenigstens weit weg fliegen, damit es sich lohnt für die Umwelt, haha, Plastikeisbecher inclusive. Zuhause kann man dann mit Ökostrom die Bahnverspätungen genießen oder den Fahrdienst des Parlaments bemühen, kost ja nix.

walter werner
5 Jahre her
Antworten an  89-erlebt

…ganz einfach; hier kommt der monatliche Gehaltscheck noch pünktlich und noch ohne
1 Million Prozent Inflationsrate an !