Selbsternanntes Magazin bedroht Journalismus, Unparteilichkeit und Bauchgefühl. Und was dagegen helfen würde

Der ebenso regierungs- wie Zeitgeist- und erregungsaffine Teil der deutschen Medien hat sich in seinem doppelten Maßstab für alles und jeden hoffnungslos verfangen.

In der vergangenen Woche geriet der erregungsaffine Teil der deutschen Medien wegen eines Satzes in der Printausgabe von „Tichys Einblick“ in Erregung. Der Satz bezog sich auf die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, er war nicht gut und zielte auf das Private. Sein Kaliber lag ein gutes Stück unter „Nazischlampe“ (der NDR über Alice Weidel), unter „Polizisten auf den Müll“ (die taz über Polizeibeamte) und auch unter „fick dich, Opa“ (der ZDF-Zuarbeiter Jan Böhmermann über Horst Seehofer).

Trotzdem war er der SPD-Politikerin nicht angemessen. Obwohl Roland Tichy ihn nicht geschrieben hatte, entschuldigte er sich bei Chebli; gleichzeitig gab er bekannt, nicht wieder für den Vorsitz der Ludwig-Erhard-Stiftung zu kandidieren. Als er seine Nichtwiederkandidatur bekanntgab, erreichte die Erregung merkwürdigerweise ihre Klimax.

Es meldeten sich Politiker, die schon einmal Thema von Beiträgen bei TE waren und sich offenbar gut daran erinnern konnten, obwohl beziehungsweise weil die Artikel deutlich über ihrer Gürtellinie lagen.

Der Deutschlandfunk ging das Thema grundsätzlicher an.

Als eine taz-Autorin die 300.000 Polizisten in Deutschland auf die Müllhalde wünschte, lud der Sender einen Zuarbeiter des ARD/ZDF-Jugendkanals funk ein, der dort in einem Betrag Anfang des Jahres Corona als „schönen und sinnvollen Reflex der Natur“ gelobt hatte, denn „es rafft die Alten dahin, aber die Jungen überstehen diese Infektion nahezu mühelos. Das ist nur gerecht, hat doch die Generation 65+ diesen Planeten in den letzten fünfzig Jahren voll gegen die Wand gefahren“. Es handelte sich also um einen ausgewiesenen Fachmann für Humanismus und Satire, folglich lobte er nicht nur Corona, sondern auch den Text seiner taz-Kollegin über Menschenmüll als „sehr gelungen“. Im Fall von „Tichys Einblick“ brauchte der Deutschlandfunk keinen externen Sachverständigen, um zu einem Urteil über das ganze Medium zu kommen:

„Es ist erstaunlich, wie lange es gedauert hat, bis Tichys Unterstützer erkannt haben, wen sie 2014 zum Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung gewählt haben. […]
Unseriös hat er aber immer wieder agiert – und damit nicht nur der Stiftung einen schlechten Dienst erwiesen, sondern vor allem dem Journalismus. Tichy und seine Autoren schreiben etwa über Flüchtlinge, Kriminalität von Migranten, Terrorismus, Islamismus und die angeblich bedrohte Meinungsfreiheit.“

Aus Sicht des Deutschlandfunks stellt das offenbar ein Problem dar. TE, so der Sender, sei ein „selbsternanntes „Meinungsmagazin“, was in einem geordneten Land sofort auffällt, in dem journalistische Medien ansonsten ernannt werden und schon deshalb nicht auf die Idee kämen, dem Journalismus durch ihre Themenwahl einen schlechten Dienst zu erweisen. Bei „Tichys Einblick“ zählt nach Recherchen des Deutschlandfunks „Meinung oft mehr als Fakten“. Außerdem seien Recherchen dort oft „grob falsch“.

— Argo Nerd (@argonerd) October 1, 2020

Statt immer beide Seiten zu sehen wie beim Deutschlandfunk üblich,

ist TE nicht nur einseitig, sondern schlimmer. Ein Beispiel dafür liefert der Deutschlandfunk auch: 2016 habe TE geschrieben, dass der Düsseldorfer Rosenmontagszug nicht wegen schlechten Wetters abgesagt worden sei, sondern aus Angst vor einem islamistischen Anschlag. Was den Artikel nicht ganz richtig wiedergibt; darin ging es vor allem um einen, wie es hieß, „angeblichen Geheimdienstbericht“ zu einem islamistischen Anschlag und eine Löschung eines Hinweises auf diesen angeblichen Bericht auf Facebook. Bei diesem Exempel handelt es sich um das einzige konkrete, das der Sender anführt, um die Journalismusschädlingsarbeit von TE zu belegen. Es folgen noch ein paar vage beschriebene Artikel: „2017 stellte Tichy die Bischöfin Margot Käßmann als Rassistin dar, indem er eine ihrer Aussagen verdrehte“. Allerdings kam die Bezeichnung „Rassistin“ in Tichys Text nicht vor, und es handelte sich deutlich erkennbar um einen Kommentar zu Käßmanns Aussage auf dem Kirchentag, die Forderung der AfD nach mehr deutschen Kindern erinnere an den „kleinen Arierparagraphen der Nazis: Zwei deutsche Eltern, vier deutsche Großeltern – da weiß man, woher der braune Wind wirklich weht.“

Tichy hatte diesen Satz tatsächlich kritisiert.
Aber auch ohne diese zusätzlichen Anklagepunkte kommt der öffentlich-rechtliche Sender zu einem Grundsatzurteil: „Tichy und seine Autoren schaden dem Journalismus“.

Man will sich die destruktive Bilanz gar nicht vorstellen, wenn diese und andere Schadmedien und ihre Autoren beispielsweise auch noch für die Sachsenberichterstattung der vergangenen Jahre verantwortlich wären, angefangen von dem Kind, das in Sebnitz von 50 Skinheads öffentlich ertränkt worden war – ein Verbrechen, das nie stattgefunden hatte, aber von taz bis FAZ zur psychologischen Folie für den ganzen Osten wurde – über das Mädchen von Mittweida, dem Nazis 2007 ein Hakenkreuz ins Gesicht geritzt hatten sollten („Süddeutsche“: „Passanten sehen zu“), und das, wie sich herausstellte, die Ritzung selbst ausführte, zum „ersten Pegida-Toten“ in Dresden („Stern“), der sich dann allerdings als Opfer eines anderen Asylbewerbers herausstellte, bis zu den Hetzjagden von Chemnitz. Und wenn die Unseriösen auch noch berichtet hätten, ein hoher Polizeibeamter in Baden-Württemberg hätte „Stammbaumrecherche“ für Verdächtige mit Migrationshintergrund gefordert, wenn sie die Geschichte der amerikanischen Corona-Superspreaderin von Garmisch erzählt hätten, an der nichts stimmte und den Sturm auf den Reichstag erfunden hätten, der nie stattfand, der Schaden für den Journalismus wäre gar nicht auszudenken.

Und zwar selbst für Qualitätsmedienschaffende nicht, denen das Ausdenken sonst nicht schwerfällt.

Zurück zu den selbsternannten Meinungs- statt Faktenjournalisten. Im Deutschlandfunk heißt es:
„Das Problem ist also nicht Roland Tichy als Stiftungsvorsitzender“ (der Ludwig-Erhard-Stiftung). „Mal davon abgesehen, dass sich ein solches parteiisches Amt ohnehin nicht mit der unparteiischen Rolle eines Journalisten verträgt.“
Die unparteiische Rolle des Journalisten, auch in gerade im öffentlich-rechtlichen Funk: wer kennt sie nicht?

Kehren wir um von diesen Höhen, um auf den Schädling herabzusehen:
„Ja, die Pressefreiheit lässt meistens zu, was Tichy und seine Autoren schreiben – dazu gehört auch die Verbreitung von Falschinformationen“, so der Deutschlandfunk: „Aber sie schaden dem Journalismus, weil sie zwar so aussehen, aber eben kein Journalismus sind.“

Wie unparteiischer Journalismus vorbildlich aussieht, zeigte in dieser Medienwoche der STERN: dessen Redakteure zogen sich gewissermaßen mit der weißen Fahne des Parlamentärs zurück, um den Blattmachern von Fridays For Future die Seiten zu überlassen.

Es handelt sich jedenfalls um eine sinnvolle Ergänzung der Gruner + Jahr-Managementmaßnahme vom Juni.
Auch beim SPIEGEL beziehungsweise dessen Ableger bento war es die Woche des unabhängigen, aber irgendwie auch geschädigten Journalismus.

Die Jahre zwischen avantgardistischer Erleuchtung und letztem Lichtlöschen im Büro verging wie im Flug, wir hatten eine fantastische Zeit und gehen ausgestattet mit guten Ratschlägen für die weitere Lebensbahn in die Orientierungsphase. Zu den letzten Beiträgen auf bento zählte ein Promotiontext für die Coachingagentur einer Frau Bruns, der wie viele ähnliche Texte bei bento im redaktionellen Teil erschien beziehungsweise so etwas wie redaktionellen Inhalt über weite Strecken überflüssig machte. In dem Interview antwortet die Inhaberin der „ersten Agentur für gendergerechte Berufsberatung“ auf die Frage: „Welche Verhaltensweisen sind für Sie männlich?“
„Bruns: Sich stark auf Fakten, Zahlen, Statistiken zu fokussieren und möglichst schnell Entscheidungen zu treffen. Und dafür Empathie und Bauchgefühl völlig zu übergehen. Das hat mir besonders zu schaffen gemacht.“

Unternehmensabteilungen, in denen sich Leute auf Zahlen und Fakten konzentrieren, heißen allerdings üblicherweise nicht Männerabteilung, sondern Buchhaltung. So etwas, jedenfalls im klassischen Sinn, brauchen öffentlich-rechtliche Anstalten beziehungsweise ernannte Meinungsmagazine wie der Deutschlandfunk glücklicherweise nicht. Deshalb geht es ihnen besser als den jungen Diversen von bento und den Kollegen von der Isar.

Es gilt eben nicht mehr das alte Berliner Hausbesetzermotto: Wir bleiben alle. Aber es wäre ein Akt der Solidarität, den Rundfunkbeitrag unter allen verbliebenen unparteiischen und faktenorientierten Medien aufzuteilen.

Das könnte den Schaden wenigsten mildern, unter dem der Journalismus leidet.


*Freundlichen Dank an Herrn Argo Nerd.

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