Nach dem Deal Merkel & Erdogan erreicht die Unruhe unter Profis in Bundesministerien einen neuen Höhepunkt. Ein paar Einschätzungen von dort und aus der türkischen Gesellschaft wollen Ihnen Sofia Taxidis und Fritz Goergen nicht vorenthalten.
Nach dem Deal Merkel & Erdogan erreicht die Unruhe unter Profis in Bundesministerien einen neuen Höhepunkt. Ein paar Einschätzungen dürfen wir Ihnen nicht vorenthalten. Und müssen dabei aufpassen, niemanden in Bedrängnis zu bringen.
Die türkische Regierung sagt laut Spiegel: „Für jeden Syrer, der von Griechenland in die Türkei zurückgeführt wird, soll ein Syrer von der Türkei in die EU umgesiedelt werden.“ Erstens ist das eine andere Art von Menschenhandel, sagen Kundige, zweitens ist das ein Nullsummenspiel ohne Begrenzung – und kann schon rein rechnerisch nicht funktionieren. Was Erdogan im Sinn hat, lässt für unsere Gesprächspartner eine Äußerung im türkischen TV ahnen, die seinem Zorn darüber entspringt, dass die PKK und die kurdischen Syrer (YPG) angeblich mit deutschen Waffen kämpfen: „Wenn ihr (die EU) die Kurden so mögt, schicke ich sie euch mit Bussen vor die Haustür.“ Die Experten treibt um, dass dem Deal Merkel & Erdogan auf beiden Seiten jedes Vertrauen fehlt: Merkel sieht ihre Chance, eine „europäische Lösung“ vorweisen zu können – Erdogan seine Chance, mehrere Fliegen auf einen Schlag zu erledigen.
- Eine Türkei ohne Kurden, die Kurden bleiben wollen: auf Kosten der EU – hauptsächlich Deutschlands.
- Eine Türkei, die uns via Visafreiheit und Hoheit über Identitäten und Pässe schickt, wen sie (los werden) will – ohne Obergrenze und ohne die Auswahlmöglichkeiten eines Einwanderungsgesetzes wie in Kanada oder Australien.
- Eine EU und vor allem ein Deutschland, die zahlen müssen – ohne Obergrenze.
- Die nahe EU-Mitgliedschaft.
Ungeklärt ist die Frage, wen Deutschland als Flüchtling übernimmt. Sind es die Kranken, Armen, die Mühseligen und Beladenen, die Sozialfälle – oder die Gutausgebildeten, die vielleicht sogar schon deutsch, mindestens aber englisch sprechen? Das ist für die Integration in Arbeitsmarkt und Gesellschaft aber die entscheidende Frage und auch dafür, ob aus der Einwanderung eine Belastung oder sogar eine Entlastung für die Gesellschaft wird.
Deutsche Türkeispezialisten haben Erdogans Leuten vor Jahren ganz offen gesagt: Wir wollen euch nicht in der EU haben, weil wir davon ausgehen müssen, dass am nächsten Tag vier Millionen Türken und türkische Kurden vor der Tür stehen. Schon bisher sind viele Gastarbeiter in Wahrheit geflohene Kurden. Der Bischof der syrisch-orthodoxen Kirche in den deutschsprachigen Ländern kann Unwissende aufklären. Inzwischen hat sich die innenpolitische Lage verschärft. Die aus der Türkei und dem Grenzgebiet zu Syrien kommenden Flüchtlinge, die es bis Griechenland geschafft haben, rufen „Mama Merkel“ und nicht „Papa Erdogan“. Unsere Oberen, sagen unsere Gesprächspartner, haben keine Ahnung, womit sie hantieren, um die Schlagzeilen doch nur vorübergehend zu beherrschen: Gegen dieses Scheunentor des Deals Merkel & Erdogan war die Balkanroute ein Gartentürchen. Wir bauen das Tor und geben den einzigen Schlüssel bei Erdogan ab.
Auf dem Weg in die gelenkte Demokratie
Zur Lage in der Türkei verweisen Kundige auf das Interview von Deniz Yücel in der WeLT mit Can Dündar, dem Chefredakteur der türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“. Can Dündar wurde Ende November 2015 verhaftet, weil der türkische Staatschef Erdogan Anzeige gegen Dündar erstattet hatte – wegen „Geheimnisverrats, Verbrechen gegen die Regierung sowie politische und militärische Spionage“. Zusammen mit ihm wurde Erdem Gül verhaftet, der Hauptstadtkorrespondent der „Cumhuriyet“. Nun wurden beide auf Anordnung des Verfassungsgerichts wieder freigelassen. Aber wann trifft es sie oder andere wieder?
Sofia Taxidis hört von ihren Gewährsleuten aus der Türkei, die sich unverändert dem Kemalismus (ohne Nationalismus) verpflichtet fühlen, einem laizistischen Staat, in dem Religion Privatsache bleibt. Wo jeder in jeder Hinsicht macht und tut, wie er oder sie das gerne möchte, aber eben zuhause, also ohne demonstrative Gebete zu Hunderten auf öffentlichen Plätzen. Der türkischen Regierung und speziell Erdogan gegenüber sind sie seit vielen Jahren sehr kritisch eingestellt. Krankenhausreif geprügelt zu werden von Erdogan-Anhängern haben etliche hinter sich und blüht liberalen und kritischen Personen in der Türkei des Jahres 2016. Sie werden per Strafanzeige wegen Verbrechen gegen die Regierung und ähnlich fadenscheinigen Argumenten wie die Journalisten Can Dündar und Erdem Gül inhaftiert oder mit brutaler körperlicher Gewalt einzuschüchtern versucht. Vor laufender Kamera werden Fernsehsender von der Polizei unter Kontrolle gebracht. Friedliche Demonstrationen wie die am Gezi-Park werden gewaltsam geräumt. Zahlreiche Türken sehen fassunglos zu, wie ein einst moderates und westlich ausgerichtetes Land sich zu einer gelenkten Demokratie verwandelt.
Dündar: „In der Türkei wird versucht, eine Atmosphäre des Hasses zu schaffen. An der Spitze dieser Kampagne steht der Staatspräsident, der seine eigenen Anhänger mobilisiert, indem er andere zu Feinden erklärt. Mal trifft es Journalisten, mal Wissenschaftler, mal Oppositionspolitiker. Das vergiftet die Atmosphäre im Land. Und bei jemandem wie mir, der durch die persönliche Intervention des Staatspräsidenten inhaftiert wurde, ist die Gefahr groß, sich von diesem Gift anstecken zu lassen. Ich hoffe sehr, dass das nicht passiert ist. Denn dieses Gift zerstört die türkische Gesellschaft.“
In den letzten Monaten ist der Tourismus der Türkei massiv eingebrochen. Die Zahl derer, die noch Urlaub in der Türkei machen, ist so dramatisch zurückgegangen, dass deshalb auch Vural Ögers „ÖGER Tours“ Konkurs anmelden musste. Russische Reisebüros bieten keine Reisen mehr in die Türkei an. Das bedeutet, ganze Regionen, die in den letzten 20 Jahren vom Tourismus lebten und Existenzen aufbauten, werden in absehbarer Zeit keine vergleichbaren Möglichkeiten für das Erwirtschaften des eigenen, geschweige denn das des Familienauskommens finden können.
Türkische Auswanderung
Was werden die Menschen aus Küsten-, aus Tourismusregionen machen und aus den Grenzzonen zu Syrien? Flüchten sie in die Metropolen? Oder werden sie sich nicht auch auf den Weg dorthin machen, wo bereits viele Verwandte und Bekannte leben? Sehr viele spielen nicht mehr nur mit dem Gedanken, nach Deutschland auszuwandern, sondern betreiben die Auswanderung mit ganzer Kraft. Die wirtschaftliche Prosperität der Regionen im Süden des Landes kommt immer mehr zum Erliegen. In der Nähe der Krisenregionen, der „Fluchtrouten“, auf denen immer mehr Migranten ihre Wege nach Deutschland und Europa suchen – wollen immer weniger Menschen ihre Ferien verbringen. Urlaub bedeutet doch abschalten, die Sorgen und den Alltag daheim lassen. Und nicht dem Elend des Hotelangestellten oder den Verkäufern in den Markthallen lauschen zu müssen. Die Einheimischen möchten auch dorthin, wo das Leben besser ist und mehr Sicherheit – physische und wirtschaftliche – verspricht. Wer will ihnen das verdenken?
Can Dündar schrieb Angela Merkel zu ihrem Besuch bei Erdogan und nach den Vorfällen in Köln einen offenen Brief aus der Justizvollzugsanstalt Silivri:
„Die Türkei stand am Vorabend einer kritischen Wahl. Doch Frau Merkel schlug alle Empfehlungen, sie möge doch erst nach der Wahl die Türkei besuchen, aus und hauchte Erdogan mit ihrer Visite neues Leben ein. Denn für sie war nicht Erdogans Zukunft wichtig, sondern etwas anderes: die Flüchtlingskrise.“
„Als Journalist, der aufgrund einer persönlichen Beschwerde Erdogans eingesperrt wurde, weil er dessen Waffenlieferungen nach Syrien aufgedeckt hat, rufe ich die deutsche Regierung auf: Schenken Sie nicht denen Gehör, die im Palast sitzen, sondern jenen, die im Kerker sitzen – bevor es zu spät ist.“
In der Runde der hohen Beamten sagt einer: Wir sind so stolz darauf, dass wir in der Welt wieder zu den Guten gehören und bereiten eine Art Menschenhandel mit Erdogans Türkei vor, in dem wir unseren Humankredit verspielen werden.
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