„Gegen meine öffentlichen Auftritte hat es früher nie Proteste gegeben“, sagt Steven Koonin. „Doch, einmal 1989 in Salt Lake City, als ich einen Vortrag über die so genannte kalte Kernfusion gehalten hatte.“ Und jetzt, da er mit seinem Buch „Unsettled“ über die offenen Fragen der Klimaforschung durch die USA tourt? Ja, meint der Physiker, jetzt werde es gelegentlich etwas unruhig, wenn er die Bühne betritt.
Koonin sitzt im Frühstücksraum des Hotels Oud London in Zeist bei Utrecht vor seinem Kaffee, zwei Veranstaltungen zur Vorstellung der niederländischen Ausgabe von „Unsettled“ liegen hinter ihm, organisiert von der Climate Intelligence Fondation des Wissenschaftsjournalisten Marcel Crok. Und vor ihm Termine in England, dann wieder eine Reihe von Diskussionsveranstaltungen in den Vereinigten Staaten.
„Unsettled“, erschienen 2021, zielt schon im Titel auf das immer wieder vorgebrachte Argument, die Klimawissenschaft sei sich in allen wichtigen Fragen einig, „the science is settled“. Koonin argumentiert auf 306 Seiten: Nein, diese Einigkeit gibt es nicht. Oder allenfalls in den allermeisten Medienberichten zum Thema Klima und Wissenschaft. Dort, in den führenden Medien heftete ihm zwar niemand das Etikett ‚Klimawandelleugner‘ an, dafür aber eine geringfügig mildere Bezeichnung. „Die New York Times hat mich einen Minimizer genannt“, meint Koonin. Er kichert ein bisschen, als er von den journalistischen Reaktionen auf sein Buch erzählt. ‚Minimizer‘ lässt sich in diesem Fall mit ‚Verharmloser‘ übersetzen, auch mit ‚Verkleinerer“. In Wirklichkeit wirkt „Unsettled“ wie ein Vergrößerungsglas für alle Probleme in dem großen und ziemlich zerklüfteten Gebiet namens Klimawissenschaft, vor allem, was die Unsicherheit der Prognosen betrifft. Darin besteht der Kern des Buchs. Koonin referiert darin das Wissen über die Klimaentwicklung, aber eben auch das Nichtwissen, die Unschärfe der Prognosemodelle. Der Untertitel des Buchs lautet: „Was die Klimawissenschaft und mitteilt, was sie nicht sagt, und warum das wichtig ist“. Damit gehört er zu der wachsenden Riege der Klimarealisten, zu denen die amerikanische Geowissenschaftlerin Judith Curry zählt (die sich allerdings wegen der enormen Anfeindungen gegen sie weitgehend aus der akademischen Öffentlichkeit zurückzog), der dänische Politikwissenschaftler und Statistiker Björn Lomborg, dem Gegner wiederholt die wissenschaftliche Reputation abzusprechen versuchten, und der deutsche Meteorologe Hans von Storch, der schon 2013 in seinem Buch „Die Klimafalle. Die gefährliche Nähe von Politik und Klimaforschung“
ganz ähnliche Fragen stellte wie der Physiker aus New York.
Steven E. Koonin, 71, 1 Meter 66 groß, grauhaarig und -bärtig, verfügt über eine bemerkenswerte Energie, kombiniert mit einer ziemlich großen Unempfindlichkeit gegen Vorwürfe. Seine Aufgabe – neben der Forschung, die er auch noch betreibt – sieht er darin, einer Öffentlichkeit von Nichtfachleuten einen realistischeren Einblick in die wissenschaftliche Debatte über das Globalklima zu verschaffen. „Wir Naturwissenschaftler sind nicht gut darin, uns öffentlich zu artikulieren“, meinte er in einem Vortrag am Tag vorher auf Schloss Groeneveld halb, aber eben auch nur halb im Scherz: „Wir sollten vielleicht Schauspieler engagieren, die in den Medien auftreten, so, wie es die andere Seite tut.“ Als andere Seite sieht er die Apokalyptiker, Akademiker, vor allem aber Journalisten, Politiker, Hollywood-Prominente und Medienfiguren wie Greta Thunberg, die verkünden, der Menschheit blieben nur noch fünfzehn, zehn oder noch weniger Jahre für einen radikalen Wirtschafts- und Gesellschaftsumbau, anderenfalls verbrenne die Welt mit hundertprozentiger Sicherheit in der Klimahölle.
Seine Botschaften kann Koonin allerdings auch ganz gut selbst vermitteln. Er verfügt über einen schnellen, trockenen Humor. In seinem Buch und seinen Vorträgen macht er seine Erläuterungen, um das bekannte Einstein-Wort zu benutzen, so einfach wie möglich, aber nicht einfacher. Unter theoretischen Physikern gibt es diese Eigenschaft nicht besonders oft. Jedenfalls trifft auf ihn der Spruch über seine Branche nicht zu, ein introvertierten Physiker würde im Gespräch auf die eigenen Schuhspitzen starren, ein extrovertierter auf die Schuhspitzen des Gegenüber. Zum Vermittlungstalent kommt bei ihm ein solides Selbstbewusstsein angesichts seiner Biografie.
Mit 24 begann er seine Karriere als jüngster außerordentlicher Professor, den das Californian Institute of Technology je hatte, von 1995 bis 2004 leitete als Vorsteher des Caltech die Forschungs- und Studienprogramme. Anschließend übernahm er den Posten des Chefwissenschaftlers bei BP (was ihm den erwähnten Protest in Berkeley eintrug, und bis heute das Raunen, hinter ihm stünden fossile Mächte). Von 2009 bis 2011 unternahm er einen Abstecher in die Politik als Staatssekretär von Energieminister Steven Chu in der Administration von Barack Obama, um von dort zu dem Institute of Defense Analytics zu wechseln. Als Gründungsdirektor des Centers for Urban Science and Progress der New York University bekam er 2012 die Gelegenheit, ein wissenschaftliches Institut von Anfang an zu prägen.
Mit der Frage, in welcher Weise das Klima sich verändert, wie groß der Anteil des menschlichen Verhaltens daran ausfällt und wie gut sich die Entwicklung vorhersagen lässt, beschäftigte er sich schon bei BP. Wie es dazu kam, dass er sich 2014 zum ersten Mal in der Öffentlichkeit weit über den eigenen Kollegenkreis zu Klimafragen äußerte, erzählt er gleich zu Beginn von „Unsettled“. Als ihn die American Physical Society 2013 bat, die Klima-Leitlinien der Gesellschaft zu überarbeiten, trommelte er insgesamt 11 Kollegen zusammen, fünf Physiker und andere mit Klimafragen befasste Wissenschaftler, um, wie er schreibt, „den aktuellen Stand der Klimawissenschaft einem Stresstest zu unterziehen“. Also: „Wo sind die Daten spärlich oder die Annahmen nur schwach unterstützt – und was heißt das? Wie zuverlässig sind die Modelle, die wir benutzen, um die Vergangenheit zu beschreiben und die Zukunft vorherzusagen?“ Dieses Kolloquium, so Koonin, habe seinen Blick verändert: „Ich verließ das Kolloquium nicht nur überrascht, sondern erschüttert, weil ich begriffen hatte, dass die Klimawissenschaft viel weniger reif war, als ich erwartet hatte.“
Von den wesentlichen Schwächen, die er damals feststellte, handelt auch sein Buch. Erstens sei es immer noch sehr schwer, den menschlichen Einfluss „von nur wenig verstandenen natürlichen Veränderungen“ zu unterscheiden, zum zweiten würden die Ergebnisse der Klimamodelle oft schlecht zu Beobachtungen passen und ihnen teils sogar widersprechen. Und drittens gebe es in den Erklärungen von Regierungen und in den Zusammenfassungen der IPCC-Klimareports regelmäßig eine Zuspitzung, die Breite und Komplexität der eigentlichen Berichte nicht akkurat wiedergeben würden.
Seine Zweifel veröffentlichte er 2014 in einem Gastbeitrag für das Wall Street Journal unter der Überschrift: „Climate Sience is not settled“. Das Echo, wie es Koonin beschreibt, nahm schon viel von dem Muster vorweg, nach dem sowohl Kollegen als auch Journalisten dann auch auf „Unsettled“ reagierten. Ein Leiter eines hoch respektierten Universitätsinstituts, schreibt Koonin, habe ihm im Vertrauen gesagt, er stimme praktisch allen seinen Aussagen in dem Beitrag zu. „Aber ich würde es nie wagen, das öffentlich zu sagen.“ Ein anderer habe gemeint, es sei in Ordnung gewesen, den Artikel in einer kleinen Fachzeitschrift zu veröffentlichen, aber nicht vor diesem großen Publikum. Manche Kollegen, mit denen er seit Jahrzehnten befreundet sei, schreibt der Physiker, warfen ihm vor, „den Leugnern Munition zu liefern“. Bis heute wies ihm niemand nach, etwas faktisch Falsches zu behaupten. Die Ersatzvorwürfe lauten, er rede zu der falschen Öffentlichkeit oder seine Einwände seien für die Klimaforschung nicht bedeutend. In dem Magazin „Slate“ schrieb ein Autor einen Satz, den Koonins Kritiker seitdem hundertfach variieren: Der WSJ-Artikel enthalte „Nuggets der Wahrheit, begraben unter dem Schutt von falschen oder irreführenden Behauptungen aus dem Standardkanon der Klimaskeptiker“. Immer dann, wenn das erste Urteil auf Falschbehauptung lautet, stellt sich der konkrete Fall allerdings schnell als Interpretationsfrage heraus.
Auch für die Resonanz auf sein Buch genügt ein Artikel stellvertretend für fast alle anderen. In „Scientific American“ handelte Gary Yohe unter der Überschrift „Ein neues Buch schafft es, die Klimawissenschaft auf schlimme Weise falsch zu verstehen“ ausgewählte Punkte bei Koonin ab. Yohe zählt zu den Schwergewichten der, wie Koonin es nennt, anderen, alarmistischen Seite. Der Ökonomieprofessor der Wesleyan University zählt zu den wichtigsten Autoren des zwischen den Regierungen errichteten Panels zum Klimawandel, kurz IPCC, von den meisten deutschen Medien „Weltklimarat“ genannt.
Da Al Gore und das IPCC 2007 zu gleichen Teilen den Friedensnobelpreis erhielten, führt Wikipedia Yohe als ideellen Mitgewinner auf. Als Gegenspieler konzentriert sich Yohe auf einige Punkte in Koonins Buch, um sie nach ein und demselben Schema abzufertigen. „Hitzewellen sind heute in den USA nicht häufiger als im Jahr 1900 und die wärmsten Temperaturen (im Sinne von Temperaturrekorden) sind in den vergangenen 50 Jahren nicht gestiegen“, heißt es in „Unsettled“. Es sei ja gar nicht klar, was mit „Hitzewelle“ gemeint sei, bemängelt Yohe, vor allem aber sei die Passage „wirklich uninformativ“, denn: „Hitzewellen sind ein schlechter Indikator für Hitzestress.“ Aber mit Sicherheit würden die Hitzeperioden länger und heißer und die alternde Bevölkerung empfindlicher. Dass Ältere stärker unter Hitze leiden, trifft zwar zu. Nur: Die demographische Entwicklung liegt eben nicht am Klimawandel. Und sie erfordert eher Anpassungsmaßnahmen als eine Feinsteuerung der Globaltemperatur bis zum Jahr 2100.
Koonins Feststellung, der Eisschild Grönlands schmelze heute nicht schneller als vor acht Jahren, wischt Yohe genauso beiseite: „Diese Feststellung ist irrelevant. Es ist die Zukunft, die uns besorgen sollte.“ Auch, dass Wald- und Buschbrände seit 1998 weltweit um 25 Prozent abnahmen, wie Koonin schreibt, dürfe nach Yohe keine Rolle spielen: „Globale Statistiken sind in diesem Kontext bedeutungslos.“ Denn es handle sich um „lokale Ereignisse“ (offenbar im Gegensatz zur Eisschmelze in Grönland und am Nordpol). Auf zentrale Feststellungen geht der IPPC-Senior gar nicht erst ein, vor allem nicht auf Koonins Kritik an der alarmistischen Zuspitzung von vorsortierten wissenschaftlichen Papieren in den Medien. Zu diesem Thema führt „Unsettled“ reihenweise Beispiele an. Und hier liegt auch der Schwerpunkt seines Buchs: Wie kommt die öffentliche Wahrnehmung zustande?
Fast niemand, sagt Koonin bei dem Gespräch am Frühstückstisch, lese wissenschaftliche Papiere zum Überthema Klima. Und alles, was dazu publiziert werde, könnten selbst Experten unmöglich wahrnehmen. „Die meisten Nicht-Experten und selbst manche Wissenschaftler bekommen ihren Eindruck von der Klimawissenschaft aus den Medien. Und etliche Medien bewegen sich auf diesem Gebiet auf einem sehr niedrigen Niveau, manche sind fast inhaltsfrei. Praktisch alle geben kein akkurates Bild von dem, was in der Wissenschaft gesagt wird, denn Wissenschaft ist nuanciert, es gibt viele Äußerungen und es ist schwer, Sachverhalte in 600 Worte zu packen. Dazu kommt, Medien haben eine Tendenz zur Übertreibung. Die Feststellung beispielsweise, dass sich nicht viel auf dem Gebiet der Hurrikans tut, besitzt keinen Neuigkeitswert, auch wenn sie zutrifft. Für Medien ist es so viel besser zu sagen: ‘Wir haben die stärksten Hurricans seit 40 Jahren gesehen‘. Da ist meine unmittelbare Frage: Was war vor diesen 40 Jahren? Zumal der menschliche Einfluss damals ja kleiner war.“
Welche Schlussfolgerungen bietet Koonin an? Zum einen plädiert er, natürlich, für mehr Selbstkritik innerhalb des Wissenschaftsbetriebs und zwar öffentlich. Zweitens sagt er voraus, in den kommenden Jahrzehnten werde sich der Akzent von einem globalen Lösungsansatz über die CO2-Verminderung hin zur Anpassung verschieben. Und das aus einem praktischen Grund: „Für ein abstraktes Ziel der weltweiten Dekarbonisierung bis 2050 sind die Leute viel weniger bereit zu zahlen als für konkrete Maßnahmen in ihrem Land – etwa die Erhöhung von Dämmen an der Küste.“ Außerdem könnte jedes Land selbst über Anpassung entscheiden, dazu bräuchte es keine komplizierten internationalen Vereinbarungen. Auf der politischen Seite warnt er vor der wirtschaftlichen Rückwirkung eines teuren Energiesystem-Umbaus in den Industrieländern. Für die energiehungrigen Entwicklungs- und Schwellenländer seien teure Solar-, Wind- und Wasserstoffsysteme ohnehin keine Alternative. Denjenigen, die den Umbau im Westen mit hohen Subventionen vorantreiben, sage er deshalb: „Hey, ihr vergesst gerade sechseinhalb Milliarden Menschen.“
Auf die deutsche Energiewende schaut er mit dem Spott, den sich ein auf Zahlen und Systeme fixierter Wissenschaftler auch schlecht verkneifen kann. Atomkraft abschalten, um dann amerikanisches Flüssiggas über den Atlantik zu schippern und in Gaskraftwerken zu verfeuern, die dann einspringen, wenn Wind und Sonne nicht liefern? „Das ist vielleicht gut für Amerika.“ Aber für Deutschland?
Steven Koonins wissenschaftliche Reputation lässt sich nicht ernsthaft in Zweifel ziehen. In die rechte Ecke können seine Gegner den ehemaligen Staatssekretär unter Obama auch schlecht schieben. Dazu kommt sein Erklärtalent. Nach der Veröffentlichung von „Unsettled“ lud ihn Joe Rogan in seine Show ein, ein weder rechts noch links festgetackerter Gastgeber, der mehr Publikum anzieht als jeder Diskussionsrundenmoderator bei CNN oder Fox. Das Gespräch mit Rogan, sagt Koonin, „war bisher das beste Interview von allen“.
Alle Eigenschaften zusammen machen ihn eher zu einem Maximierer unter den Klimarealisten.
Wer prägt eigentlich die öffentliche Klimadebatte in Deutschland? Es fällt der Name Luisa Neubauer. Der sagt Koonin nichts. Er lässt ihn sich buchstabieren und schaut schnell auf seinem Mobiltelefon bei Google nach.
Aha.
Hier kehrt er wieder zu seinem Thema zurück, den medienaffinen Themenverkäufern.
In den USA, erzählt er, komme demnächst ein Buch auf den Markt, das von einem Mädchen mit einem übersinnlichen Gefühl für das Klima handelt.
Darauf freut er sich schon.
Redaktioneller Hinweis: Der Autor hielt auf dem Symposium „Towards A More Graceful Energy Transition“ in Baarn einen Vortrag zur Energiewende in Deutschland auf Einladung der Climate Intelligence Foundation. Über die Organisation verbreitet die deutschsprachige Ausgabe von Wikipedia die beleglose Falschbehauptung, sie leugne den menschengemachten Klimawandel.