Vor 30 Jahren fiel die Entscheidung in Leipzig

Die Meldungen, die kurz nach 18 Uhr bei Hackenberg einlaufen, machen ihm klar: Die Abschreckungsstrategie der Sicherheitskräfte ist gescheitert. Mit 30.000 Demonstranten hatte die Führung gerechnet, jetzt laufen 70.000 auf dem Ring, absolut friedlich. Genau vier Wochen später fällt die Mauer.

Christian Günther/ullstein bild via Getty Images

„Wir sind bereit und willens, das von uns Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand!“ Jeder erfahrene DDR-Bürger konnte die Erklärung des Leipziger Kampfgruppenkommandeurs Günther Lutz deuten, die am 5. Oktober 1989 in der „Leipziger Volkszeitung“ erschien, dem Organ der SED-Bezirksleitung. Seit dem 4. Oktober 1989 demonstrierte das Volk in Leipzig. Jeden Montag kamen mehr. Am kommenden Montag, so lautete die Botschaft des Kampfgruppenchefs, würde damit Schluss sein. Notfalls eben mit der scharfen Waffe. Seit tagen geisterte das Wort von der „chinesischen Lösung“ sowohl durch die Gespräche der Normalbürger als auch der Funktionäre.

Der 77-jährige SED-Generalsekretär Erich Honecker, noch von seiner Gallenoperation gezeichnet, dekretierte in einem Fernschreiben an die Ersten Bezirkssekretäre der SED, die „Krawalle“ an diesem Montag „ein für alle Mal zu unterbinden“.

Seit dem frühen Morgen des 9. Oktober formiert sich in und um Leipzig eine Streitmacht, die ausreicht, um den Willen des Generalsekretärs zu exekutieren. In Leipzig stehen 3.100 Polizisten zur Verfügung, darunter Bereitschaftspolizei mit schwerer Bewaffnung, außerdem acht Hundertschaften der paramilitärischen Kampfgruppen und 1.500 NVA-Fallschirmjäger. Staatliche Leiter warnen die Beschäftigten in Betrieben: Es werde geschossen, die Krankenhäuser hätten ihre Blutkonserven schon aufgestockt. Das Kalkül der Genossen lautet: Die Ankündigung des Kampfgruppenkommandeurs, die Angstkulisse, all das dürfte die meisten abschrecken. Den harten Kern, der sich dann noch auf die Straße traut, sollen die Truppen dann auf Höhe des Leipziger Hauptbahnhofs einkesseln und zerschlagen. Für die Verhafteten stehen zwei Internierungslager bereit. Der amtierende Chef der Leipziger SED-Führung, Helmut Hackenberg, eröffnet die Bezirksleitungssitzung mit den Worten: „Genossen, von der Sicherheitsseite her ist alles getan.“

Der Wachsmatrizen-Drucker des Leipziger Pfarrers Christoph Wonneberger spuckt derweil Flugblatt um Flugblatt aus. Dort heißt es: „Wir sind ein Volk. Gewalt hinterläßt ewig blutende Wunden. Partei und Regierung müssen vor allem für die entstandene Situation verantwortlich gemacht werden. Aber heute ist es an uns, eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern, davon hängt unsere Zukunft ab.“

Wonneberger gehört zu den Köpfen, die die Demonstrationen mit organisieren. An diesem Tag formulierte er den Ruf des Abends schon fast exakt vor: „Wir sind das Volk“.

Um 15 Uhr lässt der Chef der Leipziger Polizeibezirksbehörde, Generalmajor Gerhard Straßenburg, Schützenpanzer der Bereitschaftspolizei aufmunitionieren. Straßenburg meldet dem DDR-Innenminister, Armeegeneral Friedrich Dickel: „Mit den mir unterstellten sowie den durch Sie zusätzlich bestätigten Kräften bin ich bereit und in der Lage, meinen Entschluß mit aller Konsequenz zu verwirklichen.“

Trotzdem drängen kurz nach 17 Uhr Tausende Menschen aus allen Richtungen in die Innenstadt: Arbeiter, junge Leute und Ältere. Sie erscheinen ohne Transparente. Sie sind selbst die Botschaft. Als das Friedensgebet um 18 Uhr endet, sind es rund 70.000, die auf den Leipziger Innenstadtring strömen. Sie rufen „Neues Forum zulassen!“, sie rufen – es ist das 200. Jubiläumsjahr der Französischen Revolution – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ Und sie rufen das Zauberwort der friedlichen Revolution, den Satz, der bleiben wird: „Wir sind das Volk!“

Die Meldungen, die kurz nach 18 Uhr bei Hackenberg einlaufen, machen ihm klar: Die Abschreckungsstrategie der Sicherheitskräfte ist gescheitert. Mit 30.000 Demonstranten hatte die Führung gerechnet, jetzt laufen 70.000 auf dem Ring, absolut friedlich. Stoppen könnte sie nur noch ein blutiger Schusswaffeneinsatz. Hackenberg zählt zu den Hardlinern, aber einen Feuerbefehl auf Zivilisten will auch er nicht geben ohne Rückversicherung von oben. Es ist kurz nach halb sieben. Er ruft Krenz an, das für Sicherheit zuständige Mitglied des Politbüros.

Krenz lässt sich die Lage schildern, stellt nur wenige Fragen und sagt dann: „Ich ruf gleich noch mal an.“ In Hackenbergs Büro herrscht Ratlosigkeit. Was nun?

Die Bezirkssekretäre Roland Wötzel und Kurt Meyer drängen ihren Chef, die Truppen zurückzuziehen, und zwar sofort. Sie kommen gerade von einem Treffen mit dem Gewandhauskapellmeister Kurt Masur; mit ihm und ohne Abstimmung mit der Parteispitze haben sie einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit verfasst. Nur einen Moment lang zögert Hackenberg. Dann telefoniert er mit den Kommandeuren und befiehlt: Rückzug zur Eigensicherung. Nur vor der Zentrale der Staatssicherheit bleibt eine Polizeieinheit stehen. Als die Demonstranten das Gebäude passieren, rufen sie: „Wen wollt ihr schützen?“

Kurz nach 19.30 Uhr, als Krenz endlich zurückruft, berichtet ihm Hackenberg, der Zug löse sich mittlerweile ohne Zwischenfälle auf.

In der „Leipziger Volkszeitung“ gibt es am nächsten Morgen eine winzige Meldung über das Weltereignis. Pfarrer Christoph Wonneberger ist noch am gleichen Abend in einem Telefoninterview den Tagesthemen zugeschaltet. Dazu laufen heimlich gedrehte Aufnahmen von der Demonstration. Über das Westfernsehen erfahren Millionen DDR-Bürger, was in Leipzig passiert ist.

Genau vier Wochen später fällt die Mauer.

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Kommentare ( 13 )

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WandererX
5 Jahre her

Letztlich war der fehlende Rückhalt für die SED- Leninisten durch die UdSSR der entscheidene Punkt: auf sich alleine gestellt waren sie letztlich machtlos. Sie hätten zwar noch ein Blutbad anrichten können, aber Gorbatschow hätte dann als erster gesagt: was für eine Sauerei! Weil Gorbatschow sich weiterhin irgendwie links aufstellte und man ihn als SED nicht an Progressivität überholen konnte, war man in der Falle gelandet: jede Aktivität hätte sofort als reaktionäre oder „politisch rechte“ gegolten. Die Zeit des Flinteneinsatzes bei Demos war eben längst abgelaufen. Einzelne Leute an der Grenze erschießen konnte man noch einigermaßen individualisieren, aber Demos mit 70000… Mehr

John Farson
5 Jahre her
Antworten an  WandererX

Das fehlt aber noch eine Betrachtung, nämlich die Unsicherheit der SED Führung bezüglich der NVA. Die konnten sich nämlich, im Gegensatz zu Stasi und Teilen der Polizei bei den Militärs keineswegs sicher sein das die Soldaten auf die eigene Bevölkerung schießen würden. Das waren alles junge Männer, zwangsverpflichtet, von denen sicherlich viele mit den Demonstranten sympathisiert haben. Es ist brandgefährlich eine mit Kriegsgerät ausgestattete Gruppe in eine Situation zu werfen, deren Loyalität einem nicht zu hundert Prozent gewiss ist. Wenn auch nur ein Drittel der Soldaten sich auf die andere Seite geschlagen hätte, dann hätten sie ein Massaker sondergleichen gehabt.… Mehr

Horst
5 Jahre her

Ich erinnere mich daran, wie der erste Trabbi in unserer Straße eingebogen ist. Aber ehrlich gesagt erinnere ich mich nur wenig an die Berichterstattung über die Demos. War ich schon damals mit anderen Sachen zu beschäftigt oder wurde in den Westmedien nicht besonders intensiv darüber berichtet? Später gab es viele Spiegel-TV Berichte dazu, ja, aber während es stattfand? Ich weiß z.B. nicht, wo und wie ich vom Fall der Mauer gehört habe.

augustderstarke
5 Jahre her

Leider wird in allen Medien, ob Mainstream oder alternativ, immer etwas vergessen. Ein großer Teil der Demonstranten in Leipzig waren Antragsteller. Und das hatte folgenden Grund: Im November beschloß die Führung der DDR ein neues Reise und Ausreisegesetz. Ausreisen für immer waren nach diesem Gesetz nur noch bei tatsächlichen Familienzusammenführungen möglich. Ab 1.1.1989 mußte jeder Antragsteller einen neuen Antrag stellen, der vorherige Antrag, und wenn er 5 Jahre (wie bei mir) alt war, war nichtig. Die Bearbei- tungszeit betrug ein halbes Jahr, bei Ablehnung ( s.o. Familienzusammen- führung), war das Stellen eines neuen Antrags nach 18 Monaten möglich, mit dem… Mehr

John Farson
5 Jahre her
Antworten an  augustderstarke

Blödsinn und ein lächerlicher Versuch die Demonstrationen kleinzureden.
Zeitweise waren mehrere hunderttausend Demonstranten auf den Straßen und das waren gewiss nicht alles Antragssteller für eine Ausreise.
Bitte behalten Sie also Ihre Räuberpistolen für sich. Die stehen nämlich deswegen nicht in den Medien weil sie nicht der Wahrheit entsprechen.

augustderstarke
5 Jahre her
Antworten an  John Farson

Werter Herr Farson, und wieder bewahrheitet sich das chinesische
Sprichwort: Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd. Waren
Sie Antragsteller und haben in Leipzig teilgenommen?

89-erlebt
5 Jahre her

Tja, damals waren die Medien, das West Fernsehen eine entscheidende Hilfe bei der Erlangung demokratischer Verhältnisse – was bitte ist aus diesen Medien heute geworden ? Jeder, der die DDR miterlebt hat, kann sich diese Frage selbst beantworten. Die Medien Schaffenden im Dunstkreis von GEZ-ÖRR sind offensichtlich nicht mal mehr in der Lage ihr tun selbst zu hinterfragen, die Redakteure der damaligen „Leipziger Volkszeitung“ waren es auch nicht. Schlimmste Parallelen nach nunmehr 30 Jahren.

Dieter Rose
5 Jahre her

schade, dass es so gekommen ist,
wie es die damaligen Drahtzieher
vorgesehen haben.
ich denke da immer
an die Prophezeihungen
einer Freundin damals.
Ich hätte nie geglaubt,
dass sich mal bewahrheiten würden.

John Farson
5 Jahre her
Antworten an  Dieter Rose

Vera Lengsfeld hat ja erzählt das Bärbel Bohley gemeint hat, als man die Stasi Akten abtransportiert hat, dass die jetzt genau schauen wie sie es besser machen können. Genauso kam es dann auch. Heute sind viele der führenden Oppositionellen angebliche Rechte. Nur die Opportunisten wie Birthler haben sich umgehend den neuen Machthabern unterworfen und singen deren Lied. Wir hätten ein eigenständiger Staat bleiben sollen, dann ginge es uns heute besser. Vielleicht nicht finanziell, denn darüber kann ich eigentlich nicht klagen. Aber wir wären vielleicht freier gewesen, demokratischer und vor allem selbstbestimmt. Ich glaube bis heute nicht das wir zur Mentalität… Mehr

Jasmin
5 Jahre her
Antworten an  John Farson

John Farson
Kann man so sehen. Wenn ihr denn auch Frau Merkel und ihre ostdeutschen Anhänger, die unter ihr politische Karriere gemacht haben, behalten hättet, wäre zumindest ich zufrieden.

Christoph Behrends
5 Jahre her

Von der Wende in der DDR zu lernen heißt u.a. zu lernen, wie man ungeeignete Regierungen möglichst effektiv und mit friedlichen Mitteln wieder los wird. Leider tun sich Deutsche damit traditionell schwer.

Otis.P. Driftwood
5 Jahre her

Den naiven Wessi beschäftigt heute die Frage, was wohl aus Hackenberg und Straßenburg geworden ist? Verfrühstücken sie klassenbewußt ihre Pensionen auf Fuerteventura, während die damaligen Protestierer Trittinsche Pfanddosen sammeln? Waren sie in den vergangenen drei Dekaden gerngesehene Gäste auf den Cocktailparties des MDR oder laufen sie Streife an der BER-Ruine?

Senni
5 Jahre her
Antworten an  Otis.P. Driftwood

Gefällt mir !!! Beide Daumen hoch.