Der frühere britische Premierminister Boris Johnson gilt – vorsichtig formuliert – als Schlitzohr. Dass er allerdings ohne Not heftige Anschuldigungen gegen frühere Berufskollegen in die Welt setzt, will eher unwahrscheinlich sein. Genau das aber hat er jetzt getan – in einer weltpolitisch mehr als brisanten Problemlage.
Glaubt man Boris Johnson, so wollte der bundesdeutsche Kanzler Olaf Scholz, dass die Ukraine nach dem russischen Überfall im Februar des Jahres möglichst schnell die weiße Fahne hisst. Im US-Sender CNN ließ Johnson wissen, dass die europäischen Regierungen trotz des Aufmarsches der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine sehr unterschiedliche Positionen vertraten.
Frankreich habe die russischen Angriffspläne, über die bereits lange vor dem Überfall aus CIA-Kreisen entsprechende Informationen vorlagen, bis zuletzt nicht wahrhaben wollen. „Macron hat die Angriffspläne schlicht geleugnet.“ Die deutsche Bundesregierung wiederum sei hinsichtlich der Überfallspläne realistischer gewesen und erwartete ein Desaster. Wenn es denn geschehen solle, dann wäre es das Beste, wenn die Ukraine sofort kapituliert und die Sache schnell vorübergehe. Die Ukrainer sollten also nicht nur auf ihre nationale Unabhängigkeit verzichten, sondern sich auch den Plänen Putins unterwerfen, der die ukrainische Nationalidentität leugnet und die Ukrainer zwangsrussifizieren will.
Die Bundesregierung vertrat offensichtlich die Auffassung des ehemaligen Merkel-Beraters Erich Vad. Der Bundeswehrgeneral a. D. hatte unmittelbar nach dem Überfall prognostiziert, dass „die Sache militärisch gelaufen“ sei. Es gehe lediglich um wenige Tage, bis Russland die Ukraine übernommen habe. Auch das Kabinett um Scholz ging davon aus, dass die russische Armee den ukrainischen Nachbarn im Handstreich überrollen werde und stellte sich bereits am 24. Februar 2022 darauf ein, dass die Ukraine als unabhängiger Staat demnächst zu existieren aufhörte. Dafür spricht nicht nur die mehr als zögerliche Haltung der Bundesregierung bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Gerät. Manch Sozialdemokrat hält bis heute unverdrossen daran fest, dass die Ukraine umgehend in einen Waffenstillstand einwilligen und Verhandlungen aufnehmen müsse. Militärexperten sind sich allerdings einig: Eine solche Situation hülfe ausschließlich Russland, dessen Armee sich als deutlich schwächer denn erwartet herausgestellt hat.
Auch Christian Lindner (FDP) soll laut damaliger und nicht dementierter Aussage des heutigen stellvertretenden Außenministers der Ukraine, Andrij Melnyk, davon ausgegangen sein, dass die Ukraine innerhalb weniger Stunden von Russland besetzt sei. Lediglich bei den Grünen hatte sich nach dem Februar eine Pro-ukrainische Front herausgebildet.
Geändert habe sich die Position der Regierungen in Frankreich und Deutschland erst, nachdem die Ukraine den ersten Überfall vor Kiew abwehren und zurückschlagen konnte. Erst nachdem deutlich wurde, dass es mit Putin keine Grundlage zu Verhandlungen gab, weil dessen Forderungen unerfüllbar waren, sollen Frankreich und Deutschland an die Seite der Ukraine gerückt sein.
Mittlerweile liefern beide Länder Waffen und Hilfe an die Ukraine – doch der Verdacht, dass vor allem die Moskau-nahe SPD es gern anders gesehen hätte, ist auch nach der halbherzigen Abkehr aus Bundeskanzleramt und Bundespräsidialamt bis zum heutigen Tag nicht ausgeräumt und hat vor allem bei den Nato-Partnern in Mittelosteuropa einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
Zu dieser Feststellung passt es auch, dass auf eine Anfrage der Bild-Zeitung, die vom Bundeskanzleramt eine Stellungnahme zu den schweren Vorwürfen Johnsons erbeten hatte, lediglich ein „Wir kommentieren das nicht“ kam. Hier gilt demnach die klassische Feststellung: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Hätte Johnson die Unwahrheit gesagt, so hätte das Bundeskanzleramt dieses wissen lassen sollen.