Wollte Scholz die Ukraine in die sofortige Kapitulation treiben?

Glaubt man Boris Johnson, so wollte der bundesdeutsche Kanzler Olaf Scholz, dass die Ukraine nach dem russischen Überfall im Februar des Jahres möglichst schnell die weiße Fahne hisst.

IMAGO / Jens Schicke
Bundeskanzler Olaf Scholz in der Sitzung des Sicherheitskabinetts im Bundeskanzleramt, 28.02.2022

Der frühere britische Premierminister Boris Johnson gilt – vorsichtig formuliert – als Schlitzohr. Dass er allerdings ohne Not heftige Anschuldigungen gegen frühere Berufskollegen in die Welt setzt, will eher unwahrscheinlich sein. Genau das aber hat er jetzt getan – in einer weltpolitisch mehr als brisanten Problemlage.

Glaubt man Boris Johnson, so wollte der bundesdeutsche Kanzler Olaf Scholz, dass die Ukraine nach dem russischen Überfall im Februar des Jahres möglichst schnell die weiße Fahne hisst. Im US-Sender CNN ließ Johnson wissen, dass die europäischen Regierungen trotz des Aufmarsches der russischen Armee an der Grenze zur Ukraine sehr unterschiedliche Positionen vertraten.

Frankreich habe die russischen Angriffspläne, über die bereits lange vor dem Überfall aus CIA-Kreisen entsprechende Informationen vorlagen, bis zuletzt nicht wahrhaben wollen. „Macron hat die Angriffspläne schlicht geleugnet.“ Die deutsche Bundesregierung wiederum sei hinsichtlich der Überfallspläne realistischer gewesen und erwartete ein Desaster. Wenn es denn geschehen solle, dann wäre es das Beste, wenn die Ukraine sofort kapituliert und die Sache schnell vorübergehe. Die Ukrainer sollten also nicht nur auf ihre nationale Unabhängigkeit verzichten, sondern sich auch den Plänen Putins unterwerfen, der die ukrainische Nationalidentität leugnet und die Ukrainer zwangsrussifizieren will.

Die Bundesregierung vertrat offensichtlich die Auffassung des ehemaligen Merkel-Beraters Erich Vad. Der Bundeswehrgeneral a. D. hatte unmittelbar nach dem Überfall prognostiziert, dass „die Sache militärisch gelaufen“ sei. Es gehe lediglich um wenige Tage, bis Russland die Ukraine übernommen habe. Auch das Kabinett um Scholz ging davon aus, dass die russische Armee den ukrainischen Nachbarn im Handstreich überrollen werde und stellte sich bereits am 24. Februar 2022 darauf ein, dass die Ukraine als unabhängiger Staat demnächst zu existieren aufhörte. Dafür spricht nicht nur die mehr als zögerliche Haltung der Bundesregierung bei der Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Gerät. Manch Sozialdemokrat hält bis heute unverdrossen daran fest, dass die Ukraine umgehend in einen Waffenstillstand einwilligen und Verhandlungen aufnehmen müsse. Militärexperten sind sich allerdings einig: Eine solche Situation hülfe ausschließlich Russland, dessen Armee sich als deutlich schwächer denn erwartet herausgestellt hat.

Auch Christian Lindner (FDP) soll laut damaliger und nicht dementierter Aussage des heutigen stellvertretenden Außenministers der Ukraine, Andrij Melnyk, davon ausgegangen sein, dass die Ukraine innerhalb weniger Stunden von Russland besetzt sei. Lediglich bei den Grünen hatte sich nach dem Februar eine Pro-ukrainische Front herausgebildet.

Geändert habe sich die Position der Regierungen in Frankreich und Deutschland erst, nachdem die Ukraine den ersten Überfall vor Kiew abwehren und zurückschlagen konnte. Erst nachdem deutlich wurde, dass es mit Putin keine Grundlage zu Verhandlungen gab, weil dessen Forderungen unerfüllbar waren, sollen Frankreich und Deutschland an die Seite der Ukraine gerückt sein.

Mittlerweile liefern beide Länder Waffen und Hilfe an die Ukraine – doch der Verdacht, dass vor allem die Moskau-nahe SPD es gern anders gesehen hätte, ist auch nach der halbherzigen Abkehr aus Bundeskanzleramt und Bundespräsidialamt bis zum heutigen Tag nicht ausgeräumt und hat vor allem bei den Nato-Partnern in Mittelosteuropa einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.

Zu dieser Feststellung passt es auch, dass auf eine Anfrage der Bild-Zeitung, die vom Bundeskanzleramt eine Stellungnahme zu den schweren Vorwürfen Johnsons erbeten hatte, lediglich ein „Wir kommentieren das nicht“ kam. Hier gilt demnach die klassische Feststellung: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Hätte Johnson die Unwahrheit gesagt, so hätte das Bundeskanzleramt dieses wissen lassen sollen.

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Kommentare ( 112 )

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Kala Mar
1 Jahr her

Vorab: Ich bin kein Deutscher und die deutsche Geschichtsneurose tangiert mich deswegen nicht. Aber ist das Prinzip der „sofortigen Kapitulation“ nicht seit Jahrzehnten bundesdeutscher Konsens, und zwar unter allen Parteien inklusive CDU? Im Land wo Kriegerdenkmäler unter Beifall verwüstet werden und wo Desertieren und Überlaufen als die einzig moralische Position dargestellt wurden. Dort wo an das „sinnlose Gemetzel“ von Verdun erinnert wird und die Offiziere geschmäht wurden, weil sie Hitlers Krieg gegen die alliierte Übermacht ja nur verlängerten. Wie kann überhaupt irgendein deutscher Politiker mit diesem Geschichtsverständnis dir kleine Ukraine gegen den Giganten im Osten nun zu einem solchen Opfergang… Mehr

Last edited 1 Jahr her by Kala Mar
Del. Delos
2 Jahre her

.. die moskaunahe SPD…“ In welcher Zeit leben Sie, Herr Spahn?! WER hat denn die Sanktionen seit 2014 gegen Russland unterstützt? War das nicht auch die SPD? Nach meiner Vermutung geht es hier um etwas Anderes:Ich gehe davon aus, dass die Polit-Kreise letztlich alle (fast alle) unter einer Decke stecken. Auf jeden Fall ist die SPD unter dieser Decke und Boris Johnson auch. Deswegen vermute ich, dass die Äußerung von Johnson nur dazu dienen soll, der SPD wieder etwas bessere Wähler-Umfragen zu verschaffen… sie liegt bei ca. 18%, das ist sehr mau… Johnson vermutetr wohl, dass die Wähler der SPD… Mehr

Waldorf
2 Jahre her

Die frühe Einschätzung Vads (damit wohl auch von Scholz oder Lindner und vieler anderer incl mir) dürfte am Ende auch die richtige sein, nur dass es viel länger gedauert und viele Menschenleben mehr gekostet haben wird. Die Ukraine mag von uns soviele Waffen oder Geld geschickt bekommen wie man sich nur vorstellen kann, sie wird dennoch niemals gegen Russland „gewinnen“. Es gibt nicht einmal den Hauch einer realistischen Definition, was „wir“ unter „Gewinnen“ meinen könnten. Dass die Ukraine Donbas oder Krim zurückerobern wird (die berühmten „Kein Quadratmeter“ Phrase) dürfte mittlerweile zu 100% unter Fantasialand laufen. Mögen sich unsere Waffen in… Mehr

Ralph Martin
2 Jahre her

Schon vor 20 Jahren hätte man darauf dringen sollten, dass die Ukraine ihre ethnischen Mindeheiten wie vollwertige Staatsbürger behandelt.

Ante
2 Jahre her
Antworten an  Ralph Martin

Verstehe den Punkt nicht. Die Krimtataren, übrigens die einzigen Ureinwohner der Krim, hatten unter den Russen seit Eroberung der Krim immer zu leiden, unter den Ukrainern nicht, da lebten sie frei. Nach der Wende waren sie glücklich, in der Ukraine zu leben. Krimtataren wollten deswegen auch keine Annexion der Krim durch Russland und lehnen diese bis heute strikt ab. Eine russische Minderheit in der Ukraine kenne ich nicht. Soweit es um Russischsprachige geht, dürften die meisten davon Ukrainer sein und sich auch selbst so verorten, nur sind es eben russischsprachige Ukrainer, so in Odessa und Charkiw. Nur wenige dort wollen… Mehr

Kappes
2 Jahre her
Antworten an  Ante

Nach der Wende waren sie glücklich …“
Was meinen Sie mit „Wende“?
Meinen Sie das Jahr 1954, in dem der Vorsitzende der KPdSU, Chruschtschow (ein Ukrainer), die Krim den Ukrainern gegeben hat, nachdem die Krim zuvor 170 Jahre lang zu Russland gehörte?

Ante
2 Jahre her

Es geht nicht um Liebe zum eigenen Land. Offensichtlich teilen viele in der SPD aber auch viele Leser hier das Narrativ, die Ukraine sei gar kein eigenes Land, sondern Russland und nur durch eine Art Betriebsunfall sei die Ukraine heute nicht mehr zu Russland zugehörig. Hierbei handelt es sich um eine typische „Russenmeinung“, die ich so von chauvinistischen „Großrussen“ seit 2002 hundertfach gehört habe. Diese Leute haben keinerlei historische Bildung und kennen weder die Ukraine, noch ihre Menschen. Bereits historisch ist es falsch, die Ukraine russisch zu verorten. Richtig ist, Kiew ist die Mutter aller russischen Städte. Mit dem Aufstieg… Mehr

Grenz Gaenger
2 Jahre her
Antworten an  Ante

So zutreffend Ihr Kommentar auch ist (und 100 Daumen-rauf verdient hat), so wenig interessiert es. Das will Keiner hören/lesen/wahrhaben. Es könnte verunsichern und das eigene Weltenbild erschüttern, speziell wenn auch noch die Geschichte ins Spiel kommt.

AmitO
2 Jahre her

Ich seh es immer noch nicht: Was juckt uns oder die EU dieser Krieg? Es war von Anfang an abzusehen, dass der Krieg, genauer gesagt die Sanktionen nur Nachteile haben. UA ist kein NATO oder EU Land, woher stammen dann unsere Verpflichtungen es zu unterstützen insbesondere „as long as it takes“? Glaubt irgendjemand im Ernst daran, dass der Russe Interesse hat bis nach Berlin vorzurücken? Oh, und wer den moralischen Zeigefinger erheben will, kann ihn gleich wieder runternehmen. Wer bei den Angriffskriegen und inszenierten Putschen der USA die Füße still hält brauch jetzt überhaupt nicht empört tun. Das gilt natürlich… Mehr

Ante
2 Jahre her
Antworten an  AmitO

Erstens, purer Egoismus aus der warmen Stube heraus ist nicht zu erklären. Zweitens, Spahn muss es nicht erklären, RU hat es selbst erklärt: „Glaubt irgendjemand, es ginge um die Ukraine? Die Ukraine ist nur der Anfang. Wir sind im Krieg mit dem Westen.“ (D. A. Medwedjew, ehemaliger Präsident Russlands)

gmccar
2 Jahre her
Antworten an  Ante

Richtig ! Aber klären Sie mich bitte auf, warum die Sprachen der dortigen Ethnien per Gesetz verboten wurden; was der Maidan wirklich war (US-Putsch mit Nuland und Steinmeier ?); warum 14000 Russischsprachige Zivilisten 8 Jahre lang willkürlich per Artillerie-Beschuß im Donbas getötet wurden und warum in diesem Zeitraum dort keine Renten und Sozialleistungen an die dortigen Bürger ausbezahlt wurde ?

Cimice
2 Jahre her

Keiner stellt die Frage, warum Boris Johnson diese Aussagen über Deutschland, Frankreich und Italien tätigt, ob wahr oder unwahr, vor allem JETZT, zu diesem Zeitpunkt. Nehmen wir die letzten Meldungen aus der Ukraine zur Hand: Stromversorgung in weiten Teilen zusammengebrochen, selbst in Kiew ist alles dunkel, die Wasserversorgung ist beeinträchtigt. Selensky richtet 4000 Wärmestuben ein. Bis vor Kurzem klang das alles noch anders. Da war von Rückeroberungen die Rede, von siegreicher ukrainischer Armee, von Rückzug der Russen. Mir scheint, es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis Selensky sich an den Verhandlungstisch setzt. Und er wird in den sauren Apfel… Mehr

Inana
2 Jahre her

Selbst wenn das stimmt, es wäre kein „schwerer Vorwurf, sondern allenfalls eine Fehlkalkulation, dem aber auch die Amerikaner unterlagen. Auch sie dachten, die Ukraine hält nicht lange durch und wenn das so ist, kann man durchaus fragen, ob es richtig ist, zu kämpfen. Ob es wirklich richtig war, wissen wir übrigens bis heute nicht, sondern das kann man allenfalls im Rückblick Jahre später beurteilen. Viele Kriege werden im Nachhinein ganz anders beurteilt, als am Anfang und sehen auch aus der Distanz anders aus. Deswegen wird Johnson das übrigens auch machen. Viele Quellen beurteilen ihn als Haupt-treibende Kraft und das hat… Mehr

Del. Delos
2 Jahre her
Antworten an  Inana

WENN Russland destabilisiert würde, DANN wäre ja das Kriegsziel erreicht. Dann, so lautet vermutlich das westliche Kalkül, braucht man nur noch abzuwarten, bis sich alles von allein demontiert. SO wird es aber ziemlich sicher NICHT kommen. Die Russen werden wissen, wofür sie kämpfen, nämlich AUCH dagegen, vom Westen vereinnahmt zu werden. Wir sind, so, wie wir uns nun mal präsentieren, nicht gerade ein Vorbild. WER bitteschön möchte schon so werden wie WIR… dekadent, hochnäsig, unbescheiden, großspurig, machtbesessen, größenwahnsinnig… und dazu noch unglaublich vermessen und dumm. Die Russen haben ganz andere Ziele, die auf die Zukunft gerichtet sind. Es hat etwas… Mehr

HDieckmann
2 Jahre her

GB und die USA haben spätestens seit 2014 die Ukraine massiv aufgerüstet und den geplanten Krieg gegen Russland auf dem Boden der Ukraine vorbereitet. Ohne diese Aktivitäten wäre es so gelaufen, wie in Berlin vermutet. Man hat dort wohl die Entschlossenheit der USA und den Umfang und die Wirkung der Kriegsvorbereitungen durch die USA/GB unterschätzt. GB will jetzt wohl auch von seiner Beteiligung an der Sprengung von Nord Stream ablenken oder diese mit der „Fehleinschätzung“ des Kriegsgeschehens in Berlin rechtfertigen. Für die zögerliche Unterstützung des USA-Krieges gegen Russland zahlt Deutschland jetzt nicht nur mit Geld und Waffen, sondern muss sich… Mehr

Ante
2 Jahre her
Antworten an  HDieckmann

Klar hat der Westen die UA seit 2014 aufgerüstet, schließlich hat RU die Separatisten organisiert, aufgerüstet und aktive Truppen (Artillerie) gestellt. Ohne die russische Armee hätte es keine Separatisten-Einheiten gegeben. Deren Ziel war die Eroberung immer weiterer Gebiete der Ukraine. Niemand im Westen hatte oder hat ein Interesse an der Ausdehnung Russlands nach Westen. Logisch, dass man da hilft. Kein einziger Pole möchte Russlands Armee an der polnischen Ostgrenze sehen.

Grenz Gaenger
2 Jahre her
Antworten an  HDieckmann

Durch ständiges Wiederholen Ihres Narrativs wird es nicht richtiger: USA & Verbündete böse Kriegstreiber – Russland armes Opfer.

Ante
2 Jahre her

Boris Johnsons Aussagen und das Verhalten von Scholz decken sich. Also spricht viel dafür, dass Johnson die Wahrheit spricht. Scholz und weite Teile der SPD sind nicht nur Russlandversteher sondern Russenknechte. Wer einem Mützenich zuhört, der muss vom Glauben abfallen, soweit er noch einen hat. Ginge es nach den SPD-Sozen, wäre die BRD bereits Teil von Putins Imperium. Scholz hätte bereits diplomatisch korrekt die Schlüssel in Berlin übergeben. Wer solche Anführer hat, der braucht keine Feinde. Scholz & Co. sind die Totengräber freier Menschen. Wenn ein friedliches Land überfallen wird, muss es sich verteidigen, kämpfen, siegen. Alle Nachbarn sollten dabei… Mehr