Würde nach Recht und Gesetz entschieden, müsste die gesamte Prozedur der Nominierung wiederholt werden, und zwar nicht nur bei der AfD, sondern bei allen Parteien. Eine solche Entscheidung ist nicht zu erwarten und wäre auch nicht sinnvoll.
In Sachsen haben sich die Richter verkehrt herum auf das Pferd gesetzt. Der Verfassungsgerichtshof in Leipzig hat in einer einstweiligen Anordnung die Einzelwahl bei der Aufstellung der AfD-Landesliste in zwei Etappen zugelassen, den Wechsel zur Gruppenwahl in der zweiten Etappe aber verworfen. Doch die Gruppenwahl entspricht dem Willen des Wahlgesetzgebers viel besser als die Einzelwahl. – Warum?
Die vorsitzende Richterin am Verfassungsgerichtshof (VerfGH) in Leipzig, Birgit Munz, hat die endgültige Entscheidung für den 16. August 2019 anberaumt. Das neunköpfige Gericht mit fünf Berufsrichtern gab nach mehrstündiger Beratung zu erkennen, es sei sich seiner vorläufigen Anordnung ziemlich sicher. Trotzdem kann sich noch alles ändern. Das letzte Wort ist also noch nicht gefallen. Es bleibt also spannend.
Zum gegenwärtigen Sachstand: Mit den beiden einstweiligen Anordnungen vom 25.7. 2019 (AktenZ.: Vf. 77-IV-19 (e.A.) und Vf. 82-IV-19 (e.A.)) hat das Gericht bis zur Entscheidung in der Hauptsache am 16. 8.2019 – vorläufig! – entschieden, die Aufstellung der AfD-Landesliste in zwei Etappen sei nicht zu beanstanden. Wohl aber der Wechsel von der Einzelwahl zur Gruppenwahl bzw. Blockwahl.
Die herrschende Praxis
Dieser Wechsel zur Gruppenwahl ist jedoch herrschende Praxis und zwar nicht nur in Sachsen, sondern auch bei den Aufstellungsversammlungen in anderen Ländern wie im Bund. Schon hat die AfD zu erkennen gegeben, dass sie sich auf die herrschende Praxis berufen und sich auf dem Rechtsweg dagegen zur Wehr setzen werde, dass hier mit zweierlei Maß gemessen werden soll. Denn was allgemein üblich ist, kann man der AfD nicht abschlagen.
Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Denn was man der AfD abschlägt, muss man umgekehrt auch den anderen Parteien abschlagen. Und das würde bedeuten, dass es in Sachsen gar keine Listen gibt, die gültig aufgestellt wurden und alle Parteien nur mit den Erststimmen in den Landtag gelangen. Der Landtag hätte dann nicht 120 sondern nur mehr 60 Mitglieder, weil es ja nur 60 Wahlkreise gibt, in denen man mit den Erststimmen gewählt werden kann. Nun neigen Gerichte ganz allgemein nicht zu revolutionären Extremlösungen
Doch sind die Richter an Recht und Gesetz gebunden und können sich bei ihren Entscheidungen nicht so einfach über den Wortlaut hinwegsetzen, den sie im Landeswahlgesetz vorfinden. Dabei kommt es allerdings zu einer großen Überraschung. In § 27 Abs. (5) wird den Vertrauensleuten der Parteien eine Versicherung an Eides statt abverlangt, dass die Landesliste in der Fassung, die dem Landeswahlausschuss vorgelegt wurde, ordnungsgemäß zustande gekommen ist, d.h. keine gefälschte Liste eingereicht wurde.
Diese Versicherung an Eides statt hat sich aber auch darauf zu erstrecken, „dass die Festlegung der Reihenfolge der Bewerber in der Landesliste in geheimer Wahl erfolgt ist“. Die meisten Vertrauensleute betrachten das als juristische Formalie und geben diese Versicherung an Eides statt ab, ohne sich darüber Klarheit zu verschaffen, was das überhaupt bedeutet. Doch so einfach darf man sich das nicht machen. Die Reihenfolge auf der Liste ist das A und O der Verhältniswahl. Wer „sicheren“ oben auf der Liste ergattern konnte, der hat die Wahl bereits in der Tasche. Und wer unten auf der Liste aufgeführt wird, der hat das Nachsehen. „Denn die letzten beißen die Hunde“, wie es im Volksmund heißt.
Um Kungelei, Nötigung und Stimmenkauf auszuschließen, hat der Wahlgesetzgeber angeordnet, dass die „Reihenfolge“ auf der Liste den Delegierten in der Aufstellungsversammlung nicht oktroyiert, d.h. aufgezwungen werden kann, sondern sich aus der „geheimen Wahl“ zu ergeben hat. Es hat also nicht nur die Abstimmung über die zu wählende Person, sondern auch über die „Reihenfolge“ auf der Liste im Schutz der geheimen Wahl zu erfolgen. Und genau das ist bei einer Einzelwahl nicht möglich. Denn bei der Einzelwahl liegt die „Reihenfolge“ von vorneherein fest und ergibt sich nicht aus den ausgezählten Stimmen. – Man muss also unbedingt daran festhalten, dass die Delegierten mit ihren Stimmzetteln auch über die Reihung auf der Liste entscheiden.
Die Reihenfolge ist das A und O der Verhältniswahl
Doch die Parteien tun das nicht. Die „sicheren“ Listenplätze werden in Einzelabstimmung vergeben. Die Reihenfolge auf der Liste steht dabei nicht zur Disposition. Schon gar nicht ist die Reihung das Ergebnis einer geheimen Abstimmung. Dieses Verfahren hat sich aus der Sicht des „Establishments“ der Parteien sehr bewährt. Denn man kann sich das Fußvolk der Parteien vom Hals halten, weil man ja weiß, wer sich zu einer Gegenkandidatur erdreistet hat. Das kann man den Unbotmäßigen bei nächster Gelegenheit gründlich heimzahlen. Jeder Kreisvorsitzende weiß, wie das geht.
Geht es nach § 27 Abs. (5) LWahlG, kann man für die Landesliste kandidieren, nicht aber für einen bestimmten Platz auf dieser Liste. Das ordnungsgemäße Verfahren ist also nicht die Einzelwahl, sondern das genaue Gegenteil: die Sammelwahl über alle Plätze auf den Listen. Aber wie gesagt, das Gesetz und die Umsetzung in der Praxis sind zwei sehr verschiedene Dinge. Um das Gesetz kümmert sich niemand. Papier ist geduldig. Die Einzelwahl beherrscht die Praxis.
Nun hat auch die AfD die Erfahrung machen müssen, dass eine Einzelwahl über 120 Plätze, die im Landtag von Sachsen zu besetzen sind, natürlich sehr zeitaufwändig ist. Rechnet man mit 10 Bewerbern pro Listenplatz, die sich in fünf Minuten pro Kopf vorstellen dürfen, dann ergibt das allein 6.000 Minuten, also 100 Stunden, den Urnengang und die Auszählung der Stimmen nicht gerechnet. Das kann man nach Adam Riese an einem Tag nicht schaffen, auch dann nicht, wenn man 24 Stunden lang ohne Unterbrechung wählen würde. Aber auch wenn man statt 120, nur 60 Kandidaten aufstellt und nur 12 Stunden ununterbrochen wählen würde, reichen vier Tage nicht aus. Allein aus praktischen Erwägungen ist das der AfD nicht zumutbar. Das Gericht tut also gut daran, seine bisherige Position zu verlassen und die Gruppenwahl auch bei der AfD zuzulassen.
Bei einer Sammelwahl über alle Plätze, wie sie das Landeswahlgesetz in § 27 Abs. 5 anordnet, gäbe es solche abnormen Zeitprobleme nicht. Wenn sich jeweils 10 Bewerber für 60 Listenplätze jeweils fünf Minuten lang vorstellen, sind das 10 Stunden. Und dann wird über alle Plätze in einem Zuge abgestimmt. Auf dem Wahlzettel muss mindestens die Hälfte der 60 Bewerber gekennzeichnete werden, damit das Gewicht der Ja-Stimmen im Rahmen bleibt und die „Gegenstimmen“ – für die Bewerber, die bei der Abstimmung nicht gekennzeichnet wurden – nicht überhand nehmen. Die Wahlhandlung dauert 10 Minuten. Danach wird ausgezählt. Das dauert mehrere Stunden, weil man wie bei Kommunalwahlen mit Strichlisten auszählen muss. Alles in allem geht die Sammelwahl über 60 Plätze an einem Tag zwischen Morgen- und Abendsonne „par force“ über die Bühne.
Die Lage ist vollkommen verfahren
„Lege artis“ muss das Gericht also die Einzelwahl untersagen und Sammelwahl über alle Plätze auf der Liste anordnen. So steht es im Gesetz. Doch es hat in seiner einstweiligen Anordnung – umgekehrt – die Einzelwahl für Rechtens erklärt und den Wechsel zur Gruppenwahl – der einer Sammelwahl viel näher steht – unterbunden. Die Lage ist also vollkommen verfahren. Würde nach Recht und Gesetz entschieden, müsste die gesamte Prozedur der Nominierung wiederholt werden, und zwar nicht nur bei der AfD, sondern bei allen Parteien. Eine solche Entscheidung ist nicht zu erwarten und wäre auch nicht sinnvoll.
Die salomonische Lösung kann also nur darin liegen, die AfD nicht anders zu behandeln als die anderen Parteien. Ihr ist also der Wechsel zur Gruppenwahl zu gestatten, weil er auch den anderen Parteien gestattet wurde. Dabei kann es aber nicht bleiben. Das Gericht muss mit aller Deutlichkeit hervorheben, dass der Regelverstoß letztmalig akzeptiert wurde und bei der nächsten Wahl für den Landtag in Sachen § 27 Abs. (5) LWahlG unabdingbar anzuwenden ist.
Vielleicht kann man auch die sibyllinische Formulierung im Gesetzeswortlaut tilgen und einfach anordnen: Die Nominierung der Bewerber für die Landeslisten erfolgt in Sammelwahl. Die Vertrauensleute der Parteien haben an Eides statt zu versichern, dass dem in der Aufstellungsversammlung Folge geleistet wurde. Dann weiß auch der Landeswahlausschuss „was Sache ist“.
*) Der Autor lebt in München und hat als rechts- und wirtschaftswissenschaftlicher Publizist u.a. auch mehrere Bücher zum Wahlrecht veröffentlicht, darunter: BWahlG Gegenkommentar, 2. Auflage 2018 (ISBN 978-3-96138-053-4) und zuletzt: „One man one vote – Eine Stimme ist genug“ (ISBN 978-3-96138-100-5). Mehr zur Person des Autors auf seiner Internetseite: www.manfredhettlage.de
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Genau das ist doch das Problem, die ersten Plätze sind schon unter den typisch Verdächtigen vergeben. Damit sind die selben Gesichter praktisch schon im Bundestag. Ich habe es am eigenen Leib erfahren, war zwar nur eine Kommunalwahl aber im Prinzip das Gleiche.
Soweit ich gelesen habe, wurde nicht der Wechsel des Wahlverfahrens an und für sich kritisiert, sondern dass der Wechsel erst nachdem bereits einige Listenplätze vergeben waren beschlossen wurde statt vor der Wahl des ersten Listenplatzes.
Eine sehr komplizierte Sache, so ganz durchschaue ich das nicht. Wobei mir als Wähler das auch reichlich wuppe ist, mal ganz ab vom Rechtlichen, inwieweit diese Wahllisten oder Einzels bestimmt worden sind, ob das nun demokratisch ausgewählt wurde oder vom Vorstand so bestimmt. Gefällt mir eine Partei insgesamt, und passt mir auch noch die Nase des Direktkandidaten, dann werde ich die auch wählen – oder eben nicht, wenn ich insgesamt keinen Gefallen an dem Klub und seiner Programmatik hab. Mag etwas allgemeine Parteipolitikverdrossenheit mitschwingen. Aber so als Beispiel: Dürfte ich nun in Thüringen wählen, gingen Stimmen an AfD, ganz egal,… Mehr
Die Argumentation des Artikels gefällt mir. Vielen Dank! – Ich selbst habe solche Aufstellungen bei AfD und dann bei LKR mitgemacht. Auch dort haben wir öfters (oder immer?) für die ersten Plätze die Einzelwahl und am Schluss für die chancenlosen Plätze die Blockwahl angewendet; nirgends ist das je beanstandet worden. – Ein solcher Aufstellungsparteitag ist eine elende Tortur. Glänzen tun dort dort nicht die Besten, sondern die besten Selbstdarsteller: die in 5 Minuten einen positiven Eindruck machen können. Versicherungsvertreter ganz vorn. Wer meint, so würden die Geeignetsten zu Kandidaten, irrt gewaltig.
Wie man sich in 5 Minuten ein Bild von einem Menschen machen soll, ist mir ohnehin völlig schleierhaft. Drum hätte ich da gewisses Vertrauen in die Parteileitung, welche die auswählt. Ich weiß, hat etwas von „Führerprinzip“ – aber den Führer hätte ich ja immerhin gewählt, der ist (meist) dem Mitglied bekannt, und wenn der mein Vertrauen hat sollte der schon wissen, welche Pappenheimer er an Bord nimmt.
Ich hege da noch gewisse Vorstellungen hergebrachter Thing-Versammlung und halte Einzelwahl der Nachhut/Hinterbänkler für abwegig.
Wer völlig abweicht, soll eben eigenen Verein gründen.
Der Vorteil von Listenkandidaten, die die Parteispitze auswählt, ist: die Parteispitze muss sich an der Wahlurne dem Wähler stellen. Wenn sie ein unfähiges Team zusammenstellt, wird sie dafür (hoffentlich) an der Wahlurne bestraft.
Der Nachteil ist: Eine Parteispitze kann fähige Leute, die ihr genau deshalb gefährlich werden können, degradieren und am Ende aus der Partei vergraueln. Wie es die Merkel-CDU getan hat und tut.
Anstelle von Lehrern und Juristen füllen sich die Parlamente mit Versicherungs- und Staubsaugervertretern… Erbarmung!
Sollten der AfD also die übrigen „31“ Kandidaten verwehrt bleiben, wegen dem Wechsel von Einzel- zur Blockwahl, könnte die AfD dieses Urteil nutzen, um alle anderen Wahlergebnisse bundesweit anzufechten, bei der im Vorfeld ebenso agiert wurde.
Oder es wird das „Zweierlei-Maß“ ganz einfach in Stein gemeißelt werden,
jeder darf nur „Die“ nicht 🙂
Die Einzelwahl der Listenplätze, wie praktiziert, ist absolut ungerecht und bietet keine Chancengleichheit. Bsp.: Auf Listenplatz x bewirbt sich nur eine Person – das entspricht 100% Chance, den Platz zu gewinnen! Auf Listenplatz y bewerben sich 4 Personen, von denen jede nur 25% Chance hat, den Platz y zu gewinnen etc..
Deshalb ist die gesetzeskonforme Durchführung von Wahlen als Sammelwahl unabdingbar. Wenn 60 Plätze zu vergeben sind und sich 100 Bewerber gemeldet haben, dann werden die ersten 60 Plätze in der Reihenfolge 1.- 60. Listen-Platz vergeben in geheimer Wahl. Jeder hat die gleiche Chance auf einen vorderen Listenplatz zu kommen!
Ich kenne mich mit Wahlrecht nicht aus. Ich habe es aber immer als eigenartig gesehen, dass Kandidaten, die sich auf ein Direkt-Mandat bewerben, noch zusätzliche auf der Liste “ abgesichert “ sein können. Wenn dann jemand wegen wachsender Unpopularität sein Direktmandat verliert, dann muss ihn der Wähler trotzdem noch als Abgeordneten (über die Liste ) akzeptieren/ertragen.
Bei unserem veralterten Wahlsystem liegt die letzte Entscheidung sowieso in einer Mitteilung per Telefon. Also bis es passt…
Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure…
Wieso, die Frau hat doch im Verein mit den anderen Parteivertretern gemacht was verlangt wurde.
Nu‘ wartet doch einfach das Urteil am 16.08. ab. Verworfen hat das Gericht bislang gar nichts. Es hat sich zur Frage der Block- und Einzelabstimmung lediglich noch nicht festgelegt. „Höchstwahrscheinlich verfassungswidrig“ ist schon ein dicker Pflock, den sie da eingeschlagen haben. Die Freigabe der 30 Listenplätze hätte ja auch erst am 16.08. verkündet werden können. Offensichtlich hielt es das Gericht aber für sinnvoll schon einmal eine Konzession in Richtung der endgültigen Entscheidung zu machen, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Ich gehe davon aus, daß sie am Ende alle 61 Listenplätze für gültig erklären. Gut, vor Gericht und auf… Mehr