Politische Willensbildung in Europa, ein aktuelles Fallbeispiel. Nun formuliert die neue griechische Regierung ihre eigene Reformliste. Nach einigem Hin und Her erklären sich EU-Kommission, EZB und IWF einverstanden. Der nächste Schritt: Parlamente von Mitgliedsländern stimmen ab. Nur wenn sie zustimmen, tritt die Vertragsänderung mit Athen in Kraft.
Aber worüber stimmen die Parlamente ab? Über eine europäische Vorlage? Nein, sondern über Texte, welche die Regierungen in Berlin, Paris, Rom, Madrid und so weiter ihren Abgeordneten präsentieren. Über völlig verschiedene Beschlussvorlagen! Jede Regierung wird den Brüsseler Kompromiss so darstellen, dass er vor ihrem Parlament Zustimmung finden kann. Die deutsche Version wird darlegen, dass sich die deutsche Position durchgesetzt hat. Die französische wird betonen, dass Paris Athen die erbetene Flexibilität ermöglicht hat. In allen Texten wird das Wort Troika vermieden werden, das nie eine offizielles war.
Am Ende nimmt der veränderte Vertrag zwischen EU und Griechenland die formalen Hürden. Von einer Wiedervorlage des Problems in mehreren Monaten gehen alle Beteiligten aus – offen oder hinter vorgehaltener Hand. Niemand glaubt daran, dass sich in absehbarer Zeit tatsächlich etwas ändert. In Wahrheit geht es allen nur um Zeitgewinn.
Angesichts der geopolitischen Lage Griechenlands warnen viele unter Verweis auf den Halbkrieg in der Ukraine vor dem Ausscheiden des Landes an der Südostflanke der NATO. Dass es auch in der Ukraine der europäischen Politik um Zeitgewinn geht, wurde mit Minsk II besiegelt. Dass es bei diesem Zwitter von Waffenstillstand, Truppenrückzug und weiter glimmendem Kriegshandlungen bleibt, halten die Handelnden auf allen Seiten offenbar für das zurzeit mögliche Optimum.
Wahrscheinlich haben sich die kleinen Zirkel, die wirklich Bescheid wissen, längst darauf eingerichtet, die kleinsten denkbaren Übel zu verwalten, statt ernsthafte Alternativen anzustreben.
Europäische Politik pflegt die Kunst der Schiebeverfügungen. Zeitgewinn kann man das nicht nennen. Zeit „gewinnt“, wer weiß, wohin es danach gehen soll. Weiß das in Europas Hauptstädten und in Brüssel jemand? Will es jemand wissen?
Wie sollen und werden das die Europäer bei den nächsten nationalen Wahlen und denen zum Europa-Parlament bewerten? Und wie Europas Medien ihrem Publikum vermitteln? Parteien und Politiker mit konstruktiven Perspektiven sind nicht in Sicht.
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