Günter Verheugen wird es als Ehrentitel nehmen, wenn ich ihn als „Berufs-Europäer“ betrachte. Glaubt er wirklich noch an diese Form des Teuro-Europa?
Verheugen zählt zu jener Generation, für die der Aufbau der EU politischer Lebenszweck war, Sinn und Endziel ihres Wirkens. Verheugen wurde im September 1999 Mitglied der Europäischen Kommission, wo er zunächst für eine Amtszeit die Zuständigkeit für die Erweiterung innehatte. In seine Amtszeit fielen die Beitrittsverhandlungen mit den Staaten der EU-Osterweiterungsrunde 2004. Er war vom 22. November 2004 bis zum 9. Februar 2010 Kommissar für Industrie und Unternehmenspolitik der Kommission Barroso I und europäischer Vorsitzender des Transatlantischen Wirtschaftsrates. Er war in diesem Zeitraum auch stellvertretender Kommissionspräsident.
Grexit gibt es nicht, oder doch?
In der Sendung „Unter den Linden“ auf Phoenix macht er das, was Europa-Politiker immer machen: Ein Grexit ist unmöglich, wäre das Ende der EU und des immerwährenden Friedens, unvorstellbar, nicht machtbar, ein Risiko. Es ist der europäische Traum, in vielen emotionalen Worten vorgetragen. Wie man es eben so kennt: Die Politik denkt sich was auch, dumm für die Wirklichkeit, wenn sie sich nicht daran hält.
Aber achten Sie auf die Zwischentöne. Der Spaltpilz des Zweifels beginnt, sein Werk zu bereiten. Verheugen spricht offen davon, dass Griechenland seit 1978 wirtschaftlich nicht tauglich für die EU ist. Es wurde aus seltsamen politischen Gründen in die Gemeinschaft aufgenommen; der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat es gegen jede ökonomische Vernunft durchgesetzt.
- Jetzt müsse man den Weg der Dauersubvention weitergehen, Griechenland helfen, sich zu reformieren. Glaubt da jemand daran, dass nach rund 35 Jahren irgend etwas besser wird, was 35 Jahre lang mit dieser Methode nicht besser wurde? Und bereits 2012 sagte er folgendes:
„…das griechische Problem ist präzise 30 Jahre alt. Und 28 Jahre davon haben wir ganz brav weggeguckt. Wir haben gar nicht hingucken wollen, was da in Griechenland passiert. Ich könnte Ihnen da Vieles erzählen aus der Praxis in Brüssel. Was man längst hätte sehen müssen und wo man längst hätte korrigierend eingreifen können und müssen, was aber nicht geschehen ist.“
Ein Entwicklungsland inmitten Europas
Tatsächlich sieht er Griechenland politisch und wirtschaftlich auf dem Niveau eines schwarzafrikanischen Entwicklungslandes; Verheugen erschrickt selbst bei dieser Unterstellung. Aber diese Diskrepanz des wirtschaftlichen Entwicklungszustandes hält keine Währung aus.
Schlimmer noch: Griechenland lässt sich nicht reformieren; von innen nicht, weil seine Politik von einer Kleptokratie beherrscht wird, von außen nicht, weil es sich nicht als Kolonialvolk fremdbestimmen lässt. In dieser Situation hilft nur: Der freundschaftlich begleitete Weg in die Freiheit und Selbstverantwortung.
Und Europa, so ein langer Vortrag Verheugens, brauche „Gerechtigkeit“. Es ist schwer zu verstehen, wieso Griechenland ständig Geld und Rechte in Anspruch nimmt, die auf Kosten der europäischen Gemeinschaft gehen.
- Jede Gemeinschaft braucht eine gemeinsame Basis. Auch die EU. Und Verheugens soziales Herz denkt durchaus an deutsche Rentner und Arbeitslose, die Griechenland mitfinanzieren müssen. Warum eigentlich? Was zeichnet Griechenland aus, dass es ein ewig abhängiger, ausgehaltener, mauliger Unterstützungsempfänger sein darf, während etwa den osteuropäischen Ländern, aber auch Portugal und Spanien Reformen abverlangt werden?
Noch ein Hilfspaket, noch mehr Widerstand
Verheugen spricht aus, was viele nicht sagen wollen:
- Spätestens im Herbst wird es ein weiteres Hilfspaket geben müssen. Es wird im Bundestag durchgedrückt – von der großen Koalition, die von der CSU über CDU und SPD über die Grünen bis hin zu den Linken reicht.
Aber in Deutschland, wie auch im gesamten Europa, wächst der Widerstand gegen eine Politik, die ihr Scheitern damit bemäntelt, dass sie versenkte Milliarden mit viel mehr versenkten Milliarden zudeckt.
- Eher versteckt spricht Verbeugen davon, dass man ja für Griechenland lähmende Einheitsregelungen der EU außer Kraft setzen könnte. Das ist für mich die eigentliche Neuigkeit.
Bislang hat die EU auf „Einheitlichkeit“ bestanden und damit riesige Verwüstungen angerichtet. Eine Rücknahme des europäischen Einheitsregelwerks wäre schon ein Segen bei der deutschen Wiedervereinigung gewesen – und könnte Griechenland durchaus helfen, einen eigenen Weg außerhalb des starren Brüsseler Korsetts zu finden. Und es wäre eine ganz eigene Art von Grexit: Auch andere Länder könnten Regelungen kündigen, die sie ruinieren. Damit wäre der unheilvolle Prozess der Zentralisierung und Vereinheitlichung gestoppt: Regeln werden von den Staaten nur akzeptiert, wenn sie erkennbar sinnvoll und wohlfahrtssteigernd sind – Brüsseler Bürokratiemonster werden ausgesperrt.
- Gehört nicht auch die Währung dazu, die wirtschaftlich starke und schwache Länder umklammert und den Schwachen die Luft abdrückt?
Man muss Verheugens Überlegungen gedanklich nur verlängern – und kommt zu einem ganz anderen Europa und zu einer ganz anderen Euro-Politik.
Insofern bin ich dankbar für die Debatte. Sie nimmt ihren eigenen Lauf in Richtung eines reformierten Europas, das weniger zentralistisch sein wird. Dieses Brüssel-Europa ist an sein Ende gekommen. Es wird mit einer ungeheuren wirtschaftlichen Kraftanstrengung noch etwas verlängert. Aber Reformen sind nicht zu vermeiden. Da werden immer notwendige Verträge und Zeitläufte herangezogen. Aber die wirtschaftliche Dynamik nimmt auf die Trägheit der europäischen Politik keine Rücksicht. Wer sich nicht anpasst, wird hinweggefegt.
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