Beim bröckelnden Parteiensystem hat Gysi den richtigen Riecher. Nur sieht er nicht oder spricht nicht aus, dass diese Erkenntnis alle Parteien einschließt, weil das deutsche Parteiensystem an seiner strukturellen Fehlentwicklung zum Parteienstaat scheitert und nicht an den Fehlern einzelner Parteien.
„Merkel hat einen großen Fehler gemacht”, sagte Gregor Gysi in einem Interview auf dem EU-Blog von taz-EU-Korrespondent Eric Bonse Lost in Europe:
»Sie hat den richtigen Zeitpunkt für ihren Rückzug verpasst. Sie hätte schon vor ein-zwei Jahren gehen sollen. Jetzt wird sie von ihrer eigenen Partei zerbröselt. Aber nicht nur in der CDU und in der CSU rumort es. Das gesamte Altparteien-System in Deutschland zerfällt – und dagegen können sich weder CDU noch CSU stemmen, geschweige denn die SPD. Nur die Grünen sind erfolgreich …
Wie erklären Sie sich den Erfolg der Grünen?
Dafür sehe ich derzeit drei Gründe: Die Menschen wollen mehr Ökologie, der Klimawandel hat viele aufgerüttelt. Außerdem stellen die Grünen – anders als die Linke, die vor allem die soziale Frage umtreibt – die Gesellschaftsfrage: Wie wollen wir in Zukunft leben, wie können wir die Demokratie retten und weiterentwickeln? Und drittens wählen viele Menschen die Grünen, weil sie als Gegenüber zur AfD zu gelten. Ich sage bewußt: gelten. Das ärgert mich, denn das könnte eigentlich die Linke sein – ist sie aber nicht.«
Beim bröckelnden Parteiensystem hat Gysi den richtigen Riecher. Nur sieht er nicht oder spricht nicht aus, dass diese Erkenntnis alle Parteien einschließt, weil das deutsche Parteiensystem an seiner strukturellen Fehlentwicklung zum Parteienstaat scheitert und nicht an den Fehlern einzelner Parteien. Weshalb dieses System auch nicht durch das Bessermachen einzelner Parteien, systemimmanent, innerhalb des Parteienstaats erneuert werden kann. (Seitenblick: In der taz-Version des Interviews fehlt der ganze Passus zum Parteiensystem.)
Wer zum bestehenden Parteiensystem und zum Zeitgeist der Epigonen der 68er radikal ja sagen will, wählt Grüne. Wer an die Wiederkehr der Zeiten glaubt, in denen diese Entscheidung nicht nötig zu sein schien, wählt AfD. Wer glaubt und hofft, dass alles schon nicht so schlimm werden wird, wie die Kritiker des Zeitgeists sagen, wählt die anderen Parteien. Wer auf eine politische Kraft wartet, die eine neue Antwort der radikalen Dezentralisierung bietet, wählt gar nicht.
Gysi trifft den Punkt, um den es geht: „Wie wollen wir in Zukunft leben?” Eine Antwort darauf hat nicht nur er nicht. Denn ein schlichtes zurück in die Vergangenheit gibt es ebenso wenig wie eine Zukunft, die bei den Verteidigern des Zeitgeists nur aus einem immer noch mehr vom selben besteht.
Nachwort für unbedingte Freunde der Freiheit: Es geht nicht um Liberalismus oder Sozialismus oder Konservati(vi)smus, sondern um Individualismus oder Kollektivismus. Alle existierenden Parteien sind nur Varianten des Kollektivismus.
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Von einem Apparatschik hat das immer so einen ironischen Beigeschmack, wenn er über die Fehler des Parteiensystems redet. Dass das jetzt mit den Grünen, die die Demokratie nur allzu gerne verteufeln, garniert wird, wie sie die Demokratur retten wollen, nachdem sie nun endlich einträglich geworden ist, ist feinste Sahne.
„Krieg in Europa“ halte ich für unrealistisch. Man hätte Gysi auch mal fragen sollen, wer denn dann wen angreift. Solange die Amerikaner Hegemon bleiben, wird es in Europa keinen Krieg geben. Weil jeder in Europa die Vormachtstellung der Amerikaner akzeptiert und gegenüber den USA jede europäische Nation ein paar Nummern kleiner ist, werden auch die immer währenden Spannungen zwischen diversen europäischen Nationen unterdrückt. Nur deswegen funktioniert der Westen. Es ist leider so. Ein friedliches Europa funktioniert nur unter Vormachtstellung der USA und dem NATO-Verbund. Würden die Amerikaner sich morgen in Luft auflösen, würde in Europa tatsächlich irgendwann wieder Krieg herrschen.… Mehr
Es war lange Zeit ruhig um Gysi, und ob seine jetzigen Äußerungen noch etwas an der Malaise der Linken ändern können? Ähnlich der SPD liegen die aber sowas von auf Gegenkurs zu ihrer Zielgruppe, bei einem „weiter so“, vermutlich sogar bei kurzfristiger Korrektur, werden die den Spezialdemokraten in den Abgrund folgen. Besonders blamabel, die Merkel-CDU wird später auf beide drauf stürzen… So kann es gehen, im Elfenbeinturm des Wolkenkuckucksheimes, wenn man die Bodenhaftung verloren, und Sinn und Verstand in den Ruhemodus gesetzt hat. Glaubwürdigkeit ist eben ein hohes, für manche Parteifatzken nicht erreichbares Gut. Früher hätten die mal den Kontrapunkt… Mehr
Linke sind gut in Kritik üben – aber sehr schlecht im lösen.
Ich denke das hat nichts mit der Gesinnung/Ideologie zu tun. Generell ist ‚destruktiv‘ einfach, ‚konstruktiv‘ schwer. Leider sind auch die CDU/CSU und AfD selten konstruktiv in Ihrer Kritik.
Was kommt danach? Demokratie wie Phoenix aus der Asche? Oder doch Schlimmeres?
Danke, vor allem für ihren Nachsatz. Ich warte schon lange auf eine Partei(?), Bewegung(?) die als zentralen Punkt ihres Programmes Montesquieu’s Satz „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ hat.
Es waren und sind noch die deutschen Parteien, die die Parteiendemokratie nur in ihrem eigenen egoistischen Sinn nutzten. Ich weiß nicht, was sich die Väter unseres Grundgesetzes, gerade in Bezug auf unsere Parteien, von dieser Machterteilung versprachen. Glaubten sie wirklich an ein dummes Volk, weil zwölf Jahre Naziherrschaft das angeblich bewies? Niemand kann auf Dauer am Volk vorbei regieren, ohne zu versagen. Die Zukunft aber wird von ganz anderen Gesellschaftssystemen beherrscht werden. Wenn wir es verstehen, die Digitalisierung noch in unserem Sinne umzusetzen, wird ein gemeinschaftlicher und die Meinung aller Menschen beinhaltender Prozess den weiteren sozialen Bestand der Menschheit vorteilhaft… Mehr
Sie sprechen einige sehr komplexe Zusammenhaenge an die ich gerne kommentieren wuerde. (i) De facto war und ist die Demokratie nicht dafuer ausgelegt, dass ‚das Volk‘ mitregiert. Das war im alten Griechenland schon so und ist bis heute nicht anders (siehe z.B. electoral college USA). (ii) Die Digitalisierung wird zur Steuerung der Massen genutzt (werden), die Zeichen stehen an der Wand (NetzDG, social credit system China). (iii) KI wird solange machtpolitisch genutzt werden, solange man sie beherrschen kann. Dann wird es interessant (siehe z.B. Nick Bostroms ‚Superinteligence‘). (iv) Ich sehe nicht, wie der Mensch als Individuum an den bevorstehenden Wandlungen… Mehr
Interessant, aber man kann es auch anders sehen. Gerade wer einem Volk die ganze Verantwortung für Vergangenes überstülpt, in die gerade auch die voll eingebunden werden, die die Verantwortlichen nicht einmal gewählt und deren Machtausübung trotzdem zwangsweise ertragen mussten, der muss sich zumindest dafür einsetzen, dass in einer Demokratie alle Teile des Volkes wenigstens gleichberechtigte Kontrolle über die Mächtigen ausüben können. Ansonsten wäre Parteiendemokratie nur eine gemäßigte Diktatur. Und statt Meinungsfreiheit nur noch eine gelenkte Meinung zulässig. Ob allerdings die bereits beginnende Digitalisierung zu mehr unmittelbarer Demokratie führen kann, wäre zwar möglich und zu hoffen. Aber zumindest besteht auch die… Mehr
Vielleicht kann man es auch so ausdrücken:
Die einen unterwerfen sich lieber als zu kämpfen. Dafür ist Merkel das Symbol.
Danke.
Perfekte Analyse Herr Goergen. Sehr präzise verkürzt.
Was das Nachwort anbelangt: hmm, wie Herr Haeberle. Ich glaube wir haben die besten Überlebenschancen als soziale Wesen, inklusive einer schwer beschreibaren Opferbereitschaft. Ist das wirklich „nur“ Individualismus, warum Sie ausgerechnet hier schreiben?
Verwechseln Sie Individualismus mit Egoismus? Der freien Einzelne kann nur verantwortlich für die Seinen bestehen. Der Kollektivist fällt im Kollektiv mit seinem Egoismus gar nicht auf.
Auch wenn ich Herrn Goergens Abneigung gegen den Kollektivismus teile, zeigt doch alle Erfahrung, daß dieser in der Natur der meisten Menschen liegt, und der Individualist eher die Ausnahme darstellt.
Der Mensch strebt nicht nach Freiheit, sondern liebt Abhängigkeiten, da diese bequem sind und von Eigenverantwortung entbinden.
Individualist ist man, man wird es nicht.