In einem Interview mit t-online vom 11. September äußert sich SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel auf die Frage, warum die SPD nicht mehr ausreichend viele Bürger erreiche, die sie als führende Regierungspartei wählen wollen: „Die Ereignisse der letzten Wochen, die unterdrückte Debatte über die Flüchtlingskrise und die Terroranschläge in europäischen Städten haben dazu geführt, dass sich viele Menschen offenbar mit dem Gedanken tragen, die AfD zu wählen. Es gibt eine Menge Menschen, die den Eindruck haben, dass über ihre Sorgen – Flüchtlinge, innere Sicherheit und die Angst um den Arbeitsplatz – im Wahlkampf nicht geredet wird. Wenn wir Pech haben, senden diese Menschen bei der Wahl ein Signal der Unzufriedenheit, das schlimme Folgen haben wird. Dann haben wir zum ersten Mal nach Ende des Zweiten Weltkriegs in deutschen Bundestag wieder echte Nazis.“
Gerechtigkeit hat ausgedient
Damit gibt Gabriel unumwunden zu, dass seine Partei mit ihrem zentralen Wahlkampfmotto „Zeit für soziale Gerechtigkeit“ die Interessen und Sorgen eines erheblichen Teils ihrer Wählerschaft gar nicht anspricht. Sie handelt diesen sogar zuwider, indem sie lautstark fordert, eine kontinuierlich steigende Anzahl von „Flüchtlingen“ sollen in Deutschland Arbeitsplätze und Wohnungen erhalten. Das widerspricht insbesondere den Interessen der „organisierten Arbeitnehmerschaft“, die Gabriel neben dem „aufgeklärten Bürgertum“ und den „linken, kritischen Intellektuellen“ zur Stammklientel der SPD zählt. Gabriels Aussage ist nichts anderes als eine Bankrotterklärung der politischen Strategiefähigkeit der eigenen Partei, die über die Interessen und die Weltsicht ihrer bürgerlichen und intellektuellen Anhänger und Wähler die Interessen und die Weltsicht ihrer Anhänger und Wähler aus der Arbeiterschaft zunehmend aus dem Blick verloren hat. Damit verliert die SPD auch jegliche Aussicht, bei einer Bundestagswahl wieder zur stärksten Partei zu werden.
Liberaler Zugang zum Sozialstaat für Alle
Das weiß vermutlich auch Gabriel. Trotzdem hält auch er an der (ultra-)liberalen Haltung seiner Partei in Fragen des Zutritts zum deutschen Arbeits- und Wohnungsmarkt und zu Leistungen des deutschen Sozialstaats fest. Die SPD ist insofern in der Tat, wie Gabriel in dem Interview sagt, inzwischen eine „Partei der Freiheit“, nämlich des ungehinderten Zugangs aller Zuwanderer zu den Arbeits- und Wohnungsmärkten und den Sozialleistungen. Er ahnt allerdings, dass es seiner Partei mit dieser Haltung nicht gelingen wird, einen Teil der eigenen Anhänger- und Wählerschaft davon abzuhalten, mit der AfD eine Partei zu wählen, die ihnen verspricht, sie nicht nur vor (weiteren) unliebsamen Konkurrenten an den Arbeits- und Wohnungsmärkten, sondern auch vor der Ausnutzung des von ihnen mitfinanzierten Sozialstaats zu schützen.
Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang nicht nur der Vergleich mit Österreich, sondern auch mit den dänischen Sozialdemokraten, nachzulesen in einem jüngst von der SPD-eigenen Friedrich Ebert Stiftung herausgegebenen Sammelband unter dem Titel: „Flucht, Migration und die Linke in Europa.“ Nachdem der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident Rasmussen 1999 die rechtsnationale Dänische Volkspartei mit der Aussage verhöhnte: „Ganz egal, wie sehr ihr euch anstrengt, meiner Meinung nach werdet ihr nie stubenrein“, ging dieser Schuß nach hinten los. Viele der eigenen Wähler und nicht nur die Dänische Volkspartei fühlten sich durch Rasmussens Äußerung verhöhnt und ließen ihn dies bei den anschließenden Wahlen merken. Inzwischen ist der amtierende Fraktionsvorsitzende der dänischen Sozialdemokraten, Henrik Sass Larsen, mit der Aussage zu lesen [1]: „Die Einwanderung von Flüchtlingen und anderen Zuwanderern stellt eine Bedrohung für unsere Gesellschaft dar. Sie ist eine Bedrohung für unseren Wohlfahrtsstaat und für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ Nimmt Gabriel die protektionistische Wende in seiner Schwesterpartei nicht zur Kenntnis oder will er nur vermeiden, seinen dänischen Parteifreund als „(un-)echten Nazi“ zu betiteln?
Roland Springer arbeitete als Führungskraft in der Autoindustrie. Er gründete im Jahr 2000 das von ihm geleitete Institut für Innovation und Management. Sein Buch Spurwechsel – Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt erhalten Sie in unserem Shop www.tichyseinblick.shop
[1] Zitat Henrick Sass Larsen, Seite 37 „Zweifel an der multiethnischen Wohlfahrtsgesellschaft in Dänemark“ – v. Christian Weise in dem von Michael Bröning und Christoph M. Mohr im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung herausgegebenen Sammelband „Flucht, Migration und die Linke in Europa“ (Bonn 2017).