Ex-Verfassungsrichter attestiert Merkel „irrige Vorstellung“ über die Werteordnung des Staates

Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sorgt sich, dass nicht nur Politiker vergessen, "dass die Menschen dieses Landes freie Bürger sind".

IMAGO / Jürgen Heinrich
Hans-Jürgen Papier

„Die Menschen dieses Landes sind keine Untertanen“, und: „Grundrechte kann man nicht beliebig entziehen und neu vergeben“. Solche Sätze, wie sie Hans-Jürgen Papier, früherer Präsident des Bundesverfassungsgerichts, jetzt in einem Interview mit der Welt sagt, wünschte man sich von einem Bundespräsidenten.

Dessen Rolle im Staat ist zwar weitgehend repräsentativ, aber als erster Mann im Staat, dessen Unterschrift erst jedes Bundesgesetz in Kraft setzt und vor allem als oberster Sonntagsredner des Landes wäre er eigentlich prädestiniert dazu, den Regierenden und den Gesetzgebenden (zur Erinnerung: die sind nicht identisch) in Zeiten wie diesen in Erinnerung zu rufen, was ihre Rolle im demokratischen Gemeinwesen ist. Der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hält das offenbar nicht für nötig. Stattdessen dilettiert er mit Reden, in denen er zum Beispiel den Bau der Nord Stream 2 mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 begründet, oder es fertigbringt zum Holocaust-Gedenktag das Wort „Nationalsozialismus“ nicht zu nennen.

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Papier erinnert daran: „Kernstück unserer Verfassungsordnung sind die Grund- und Menschenrechte“. Und er stellt fest: „Die Werteordnung unserer Verfassung war schon vor der Pandemie einer jedenfalls partiellen, schleichenden Erosion ausgesetzt, es waren Diskrepanzen zwischen Verfassung und politischer wie gesellschaftlicher Wirklichkeit zu verzeichnen. Aber seit einem Jahr müssen wir infolge der Pandemie Abweichungen von dieser Werteordnung feststellen, die sich niemand zuvor hat vorstellen können. Das gilt sowohl im Hinblick auf die Geltung der Grund- und Menschenrechte, als auch im Hinblick auf die Strukturen der parlamentarischen Demokratie.“

Papier kritisiert schließlich die Bundeskanzlerin – es ist die interessanteste Passage des Interviews – ohne sie beim Namen zu nennen: „Ich habe neulich eine Formulierung gehört, die etwa lautete: Wenn die epidemische Lage so bleibt, wie sie jetzt ist, dann kann es keine neuen Freiheiten geben.“ Der Interviewer macht ihn darauf aufmerksam, dies sei eine „Formulierung der Kanzlerin“, worauf Papier fortfährt: „Von wem auch immer: Darin kommt die irrige Vorstellung zum Ausdruck, dass Freiheiten den Menschen gewissermaßen vom Staat gewährt werden, wenn und solange es mit den Zielen der Politik vereinbar ist. Nein, es ist umgekehrt! Die Grundrechte sind als unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte des Einzelnen verbürgt. Sie können zwar eingeschränkt werden, aus Gründen des Gemeinwohls durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes. Aber es handelt sich nicht um eine einseitige Gewährung des Staates, die man mehr oder weniger beliebig entziehen und neu vergeben kann.“

Wir halten fest: Ein ehemaliger Oberster Verfassungsrichter attestiert der aktuellen Regierungschefin eine „irrige Vorstellung“ über die Werteordnung des Staates, den sie regiert. Eine radikalere, also grundsätzlichere Kritik ist kaum möglich.

Papier stört, „dass die unmittelbar demokratisch legitimierte Volksvertretung, also der Deutsche Bundestag, diese Entscheidungen weder selbst trifft noch hinreichend an ihnen beteiligt ist. Gegen Schaltkonferenzen der Ministerpräsidenten und der Kanzlerin ist sicherlich nichts einzuwenden, wenn und soweit sie der gegenseitigen Beratung und Koordinierung dienen. Aber es handelt sich um ein Gremium, das in der Verfassung nicht vorgesehen ist und über keinerlei Kompetenzen verfügt.“

"keine neuen Freiheiten"
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Dieses Gremium habe auch bei seiner letzten Sitzung klargemacht, dass der vom Bundestag beschlossene Paragraf 28a des Infektionsschutzgesetzes, durch den die Regierenden vom Parlament eingeschränkt werden sollten, „in Wirklichkeit überhaupt keine limitierenden Maßstäbe bietet“, dass also die „zuständigen Behörden alle notwendigen Maßnahmen ergreifen können, soweit und solange sie zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten notwendig sind“.

In der Schaltkonferenz sei das deutlich geworden durch die Einführung des Inzidenzwerts 100 als Kriterium für Maßnahmen, der im Gesetz nicht erwähnt ist. „Derart intensive, flächendeckende und nicht nur kurzzeitige Freiheitsbeschränkungen, die allein von der zweiten Gewalt beschlossen werden“, seien für ihn „als Staatsrechtler bisher undenkbar gewesen“.

Und schließlich endet Papier mit einem Appell an die Bürger, wie er in diesen Zeiten von einem Bundespräsidenten, der Steinmeier nicht ist, zu wünschen wäre: „In der Bewusstseinslage der politischen Akteure und Teilen der Bevölkerung scheint gelegentlich in Vergessenheit zu geraten, dass die Menschen dieses Landes freie Bürger sind. Sie verfügen über unveräußerliche und unentziehbare Freiheitsrechte, sie sind keine Untertanen! Es wäre zu begrüßen, wenn jeder Bürger sich des Wertes der Freiheit, immer verbunden mit Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen, dem Anderen und auch gegenüber sich selbst, bewusst wäre. Seit der Zeit der Aufklärung wurde die Verfassungsstaatlichkeit in Europa mühsam erkämpft. Wir sollten sie nicht zugunsten eines paternalistischen Fürsorgestaates aufgeben.“

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Kommentare ( 132 )

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Gerro Medicus
3 Jahre her

„irrige Vorstellungen über unsere Werteordnung“, Herr Papier? Nein, Merkel hat IRRE Vorstellungen dazu! Weil sie selber nicht mehr bei Verstand ist!

fatherted
3 Jahre her

sorry….aber das mit der Freiheit war mal so….ist schon lange vorbei…schon vor Corona…schon vor 2015/16….hat nur keiner richtig mitbekommen.

Elli M
3 Jahre her
Antworten an  fatherted

Jepp. 1990 wurde die Bonner Republik endgültig übernommen. Von all denen, die eine demokratische Republik noch nie wollten: Grüni*nn*ineusen, SPD, SED, der Wendelin-FDP ist das eh wurscht, Hauptsache, sie kann kassieren und die CDU war zu feige, sich zur Wehr zu setzen.

HDieckmann
3 Jahre her

Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik Deutschland, genehmigt vom deutschen Bundestag, beschlossen durch ein verfassungswidriges „Politbüro“ aus Kanzler und MP, umgesetzt durch (unrechts)staatshörige Beamte, Polizisten und Staatsanwälte, gebilligt durch untätige Richter und ein parteipolitisch vereinnahmtes Verfassungsgericht. Da muss ein ehemaliger Vorsitzender des Bundesverfassungsgerichtes Bürger, Abgeordnete, Minister, Kanzlerin, Beamte, Staatsanwälte, Richter, Journalisten … eindringlich darauf hinweisen, dass der Staat die vom Grundgesetz garantierten unverletzlichen Freiheitsrechte nicht beliebig entziehen und wieder neu vergeben kann! Es ist erschreckend, wie schnell unsere Verfassung von Politik, Medien und Bürgern über Bord geworfen wurde, um vermeintlich höherwertige Ziele zu erreichen. Sowas hatten wir im vergangenen Jahrhundert schon zweimal,… Mehr

Beobachterin
3 Jahre her

Erschreckend! Je länger die Corona-Krise andauert, umso mehr geraten die Freiheitsrechte bei den Bürgern in Vergessenheit. Hinzu kommt der Gewöhnungseffekt an die Gängelei, der willfährige Multiplikatoren in der Bevölkerung hervorbringt. Spießbürger, die sich zu Ordnungshütern aufspielen. Wer auf sein Recht pocht, wird ganz schnell als Gesellschafsschädling abgestempelt. Ich fürchte sogar, dass viele es für normal halten, dass eine kleine Clique sich selbst ermächtigt hat über das Schicksal der Bürger zu befinden. Solange wir schön brav sind und uns an die Vorschriften halten, dürfen wir vielleicht sogar zweimal im Jahr zum Frisör. Solange nur alle gleich ungepflegt aussehen. Da ist er… Mehr

Detlef.Dechant
3 Jahre her

Es bringt überhaupt nichts, ständig irgendwelche Stellungnahmen hochrangiger Juristen zu veröffentlichen. Diese Texte sind doch nur geeignet, den normalen liberalen Bürger noch tiefer in die Depression, bzw. Resignation zu treiben, da er seine Hilflosigkeit gegen das Handeln dieser Regierenden immer mehr vor Augen geführt bekommt.
Wäre es nicht besser, diese Juristen würden dem Bürger detailliert Lösungswege aufzeigen, sich seine Rechte auf rechtstaatlichem Weg zurückzuholen? Oder sie würden diese Wege beispielhaft selber gehen? Oder hat diese Elite auch bereits kapituliert und schreibt sich nur ihren Frust von der Seele?

Grenz Gaenger
3 Jahre her

„Auch die Welt scheint endlich aus dem Dornröschenschlaf erwacht ….“ Wenn Sie damit die WELT meinen, teile ich Ihre Meinung nicht. Wer die WELT-Redaktionsartikel der letzten Jahre verfolgt hat, stellte fest, dass sich die WELT nur unwesentlich von der zustimmenden, belobigenden Tendenz aller anderen Medien inkl. ÖR gegenüber der Einheitspartei CDUCSUSPDSEDGRÜNENFDP abhob (die AfD als einzige, echte Opposition ausgenommen). Wo waren denn die Gaschkes, Kreuels, Posners, Boies, Alexanders. Poschardts und wie sie da alle heißen in den letzten Jahren während der Merkel-Jahre mit ihren kritischen Artikeln (ausgenommen Broder & Don Alphonso hinter der Bezahlschranke)? Nichts Dergleichen war zu lesen, nur… Mehr

moorwald
3 Jahre her

Das Bundesverfassungsgericht wird nur auf Antrag tätig.
Das ist wohl auch ganz gut so, denn sonst würde es selbst Politik machen wollen (was es durch seine Rechtsprechung natürlich indirekt tut…)
Das Versagen hat also eine Stufe vorher stattgefunden.
Oder: Wo kein Kläger, da kein Richter.
Und der Bundespräsident kann seine Unterschrift nicht „einfach so“ verweigern.
Er soll nach dem Willen des GG sich aus der Tagespolitik weitgehend heraushalten. Keine Neuauflage von „Weimar“…
Er muß das Gesetz unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten prüfen lassen- womit wir am Ende wieder beim BVG angekommen wären.

Last edited 3 Jahre her by moorwald
moorwald
3 Jahre her

Unausgesprochenes Ziel und Wunschtraum aller Despoten ist die totale Kontrolle über die Untertanen. „Corona“ läßt hiervon so manches erkennen. Am sichtbarsten äußert sich die Unterwerfung natürlich im Tragen vermutlich nutzloser Masken. Schon mal ein Schritt hin zur Anonymität. Dazu kommen Isolierung und Vereinzelung: Kontaktbeschränkungen, Versammlungsverbote.. Besonders grotesk ein „Verweilverbot“, wie man es sonst von gefährlichen oder Unfallstellen kennt. Dann die Nachverfolgung eventueller „Gefährder“.. Als letztes Ziel gäbe es die Isolation in der eigenen Wohnung. Merkel kann sich ein Regieren nicht anders vorstellen. Nicht das Parlament muß sie von Zeit zu Zeit daran erinnern, daß die Bundesrepublik ein freiheitlicher Rechtsstaat ist… Mehr

Physis
3 Jahre her

Zitat: „Vor allem aber hätte bereits das Bundesverfassungsgericht massiv tätig werden müssen, solche Entscheidungen der Kanzlerin als verfassungswidrig zu brandmarken.“ Entschuldigung, aber das ist so nicht ganz richtig, denn siehe hier: Das Bundesverfassungsgericht wird nur auf Antrag tätig. Der Katalog seiner Verfahrensarten ist im Grundgesetz und im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt…! Tja, leider ist das BVG keine höhere Instanz der Staatsanwaltschaft, auch wenn man sich das manchmal wünschen würde, denn BIS zu einer Verfassungsklage schauen die Damen und Herren Richter eigentlich jedem potentiellen Verfassungsbruch zu! Aber das verhält sich ja bei Straftaten auch nicht anders, denn unsere Staatsanwälte müssen ja auch jedesmal… Mehr

Delegro
3 Jahre her

Und deshalb wird auch zunehmend eine Netzt der Beobachtung und der Diskreditierung von Merkel gesponnen. Staatliche Behörden werden politisch instrumentalisiert (Verfassungsschutz, Bundesverfassungsgericht, Ämter, Polizei etc.). Exakt so ist die DDR entstanden. Zu nächst schleichende Beschneidung der Freiheit, dann Mauer drum bauen und innerhalb der Mauer die Stasi etablieren. Die Mauer wird es bei uns wohl nicht geben, aber der Rest hat erschreckende Parallelen zu der aktuellen Situation! Deutschland, wach werden bevor es zu spät ist! Es ist 5 vor 12!