Die europäische Türkei-Politik ist auf ganzer Breite gescheitert. Doch den Tatsachen ins Auge zu schauen fällt schwer. So träumen nicht wenige immer noch von einem Rechtsstaat Türkei, den es nie gab und auf absehbare Zeit nicht geben wird.
Manchmal weiß man als Beobachter nicht mehr, ob man lachen oder weinen soll. Als am 20. Mai das türkische Parlament auf „Bitten“ des Präsidenten in zweiter Lesung beschloss, die Immunität von 138 gewählten Abgeordneten aufzuheben, um diese durch die Staatsanwaltschaft unter Anklage wegen Terrorismus stellen zu können, ließ unser immer sehr worteifrige Bundesminister der Justiz eine denkwürdige Mitteilung verlauten: „Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, darf sie ihren Rechtsstaat nicht aushöhlen.“
Nimmt man diese Aussage wörtlich, dann muss diese wohl so zu verstehen sein, dass der Linksdemokrat Heiko Maas, den dereinst ein unerwartetes Schicksal an die Spitze des für den Rechtsstaat so bedeutenden Ministeriums gespült hatte, einen solchen in der Türkei derzeit als gegeben ansieht. Das allerdings ist nun tatsächlich entweder zum Lachen – oder aber zum Weinen. Denn de facto ist so etwas wie ein Rechtsstaat im Land am Bosporus schon lange mehr als ausgehöhlt. Der jüngste Akt, mit dem vor allem die den Kurden nahestehende, gewählte HDP faktisch aus dem Parlament entfernt werden wird, ist hier nur ein weiterer Höhepunkt. Die türkischen Gefängnisse sind voller Personen, die auf Geheiß Erdogans von einer willfährigen Justiz zu teilweise langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Anklage bedient sich dabei in der Regel eines Vorgehens, zu der ihr das absurde „Terrorismus-Gesetz“ der Türkei jede Handhabe gibt. Kein Wunder also, dass Erdogan jeder Forderung aus der EU, dieses Gesetz westeuropäischen Standards anzugleichen, vehement eine Absage erteilt.
Erdogan und das Militär
Erdogan bedient sich bei seinen politischen Methoden erprobter Schablonen. So hatte beispielsweise das Militär, das sich als Garant der laizistisch-republikanischen Idee von Staatsgründer Kemal Atatürk verstand, bei seinem ersten Putsch 1960 neben drei vollstreckten Todesurteilen gegen führende Regierungspolitiker 43 lebenslange und 402 teilweise langjährige Haftstrafen gegen Missliebige aus den Eliten verhängen lassen. Die Urteilsbegründungen lesen sich in weiten Teilen ähnlich denen, mit welchen Erdogan heute seine Kritiker aus dem Weg räumt. Immer wieder sorgte das türkische Militär in der jüngeren Vergangenheit für Änderungen in der Politik und setzte ihm nahestehende Politiker durch. Gleichzeitig allerdings blieb das Militär immer bei seiner Politik der Nähe zum Westen und der Rückkehr zu einer gelenkten Demokratie, die Anfang des neuen Jahrtausends der islamischen und anti-kemalistischen AKP den Weg in die Regierung ebnete.
Als Erdogan 2002 in freien Wahlen mit seiner AKP eine Mehrheit errang, hatte er das Schicksal früherer, nicht der Atatürk-Partei CHP und dem Militär nahestehender Politiker vor Augen. 2012 ließ er deshalb in den sogenannten „Vorschlaghammer-Prozessen“ über 300 führende Militärs, ehemalige Generäle sowie andere Kritiker, die der Gründung eines geheimbündlerischen „Tiefen Staats“ beschuldigt wurden, langjährig inhaftieren. Damit schlug er dem laizistischen Militär, aus dessen Kreisen 2007 erneute Warnungen an die zunehmend islamisch ausgerichtete Politik gekommen waren, den Kopf ab. Es war dieses Vorgehen, das der ägyptische Präsident Abd alFatah a’Sisi 2013 durch seinen Staatsstreich gegen den gewählten Muslimbruder Muhamad Mursi sehr zum Unwillen Erdogans erfolgreich zu verhindern suchte.
Die Anklagepunkte gegen die türkischen Militärs konnten nie rechtsstaatlich einwandfrei bewiesen werden – die Angeklagten beteuerten nachhaltig ihre Unschuld. Bereits damals gingen Beobachter davon aus, dass es sich um ausschließlich politisch motivierte Verfahren gehandelt habe. Die Proteste gegen das Vorgehen Erdogans hielten sich jedoch auch in den westeuropäischen Demokratien in Grenzen – die traditionelle Abneigung der politischen Linken gegen die laizistischen Streitkräfte wirkte bis tief in demokratische Politik.
Jede Kritik im Visier eines Anti-Terror-Kampfes
In der Folgezeit gerieten Liberale und Freidenker aus Kunst, Kultur und Medien ebenso ins Visier der gelenkten Staatsanwaltschaft wie Demonstranten und selbst unbedarfte Jugendliche. So räumte das türkische Justizministerium bereits im August 2014 ein, dass sich 4.889 Personen wegen „Terrorismus“ in regulärer und 930 Menschen in sogenannter Schutzhaft befänden.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Association beklagte im gleichen Jahr bis einschließlich September den Tod allein von 45 Demonstranten, 53 politisch motivierte Morde und 35 bei Sicherheitskontrollen Erschossene. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.
Fast 2.000 Kinder ohne Verfahren in Haft
Bereits ein Jahr vor dem erneuten Vorgehen der türkischen „Sicherheitskräfte“ gegen die Kurden befanden sich 20.233 Menschen in Untersuchungshaft – Gerichtstermin offen. Auch vor Kindern macht der türkische Staat nicht halt: 1.720 saßen 2014 ohne Verfahren in Untersuchungshaft. Für sie ebenso wie die Verurteilten gilt: Folter und Misshandlung gehört in türkischen Haftanstalten ebenso wie im Polizeigewahrsam zum Alltag.
Wiederaufnahme des Krieges gegen die Kurden
Seit dem Sommer 2015 hat Erdogan den bewaffneten Kampf gegen die Kurden erneut aufgenommen. Vertraut man heimlich im türkisch besetzten Kurdistan gemachten Aufnahmen, so sehen dort manche Dörfer und Stadtteile mittlerweile aus wie im Bürgerkriegs-geplagten Syrien. Für den Präsidenten ist das alles kein Problem, hat er doch Anfang des Jahres klar gemacht, dass für ihn jeder ein Terrorist ist, der auch nur anstreben könnte, seine Regierung durch eine andere zu ersetzen, oder der zu laut über Autonomie nachdenkt. Damit sind nun nicht nur alle Kurden, die aufgrund der staatlichen Repression die einzige Chance auf eine friedlichere Zukunft in einem eigenen Kurdenstaat sehen, für die türkische Führung Terroristen selbst dann, wenn sie eine Autonomie im Sinne demokratischer Spielregeln auf friedlichem, föderalem Wege anstreben; auch jeglicher Oppositionelle, der im Parlament gegen Vorlagen der AKP-Regierung stimmt, ist in der Logik dieses Denkens bereits ein Terrorist, weil er damit die Herrschaft Erdogans gefährdet.
Deutschlands Regierende machen sich lächerlich
Wie Deutschlands Minister der Justiz angesichts einer solchen Situation, die unzweideutig auf eine Erdogan-Alleinherrschaft hinausläuft und damit all jene Straftatbestände erfüllt, wegen derer 1960 die damals vom Militär abgesetzten Politiker zum Tode verurteilt wurden, noch von einem türkischen „Rechtsstaat“ überhaupt nur träumen kann, wird sein Geheimnis bleiben müssen.
Lächerlich allerdings macht sich nicht nur Heiko Maas. Wenn aus dem Bundeskanzleramt verlautet, Bundeskanzler Angela Merkel werde bei ihrem Besuch in der Türkei die Aufhebung der Abgeordneten-Immunität ansprechen, dann muss sie sich sagen lassen: Das wird nicht wirksamer sein als ob sie hinter dem Kanzleramt ein Flaschenpostgebet in die Spree wirft in der Hoffnung, es werde irgendwann in Istanbul aufgefischt, gelesen und befolgt.
Keine Chance auf Umkehr
Erdogan kann nicht mehr zurück. Er weiß, dass er im Falle seines Scheiterns das Schicksal jener Politiker teilen wird, die 1960 wegen des Versuchs, mittels Ermächtigungsgesetz die Demokratie zu beerdigen, auf dem Schafott endeten. Daher ist ihm alles recht, solange seine persönliche Macht gesichert ist. Er wird die kurdischen Abgeordneten zu langjährigen Haftstrafen verurteilen lassen und gleichzeitig jedem noch nicht beseitigten, oppositionellen Abgeordneten, der es wagen sollte, sich seiner Linie auch nur ansatzweise zu widersetzen, sein eigenes Schicksal vor Augen führen. Der Despot lebt vom Terror, mit dem er seine Herrschaft sichert. Das war schon in der orientalischen Antike und im Mittelalter so – es ist heute nicht anders.
So befindet sich die Türkei auch nicht „auf dem Weg in eine Ein-Mann-Herrschaft“, wie EU-Präsident Martin Schulz kritisierte – sie hat diese längst.
Ex-Bundesverteidigungsminister Volker Rühe sagte 2014 in kleiner Runde, Demokratie bedeute nicht, frei gewählt zu werden, sondern unbeschadet für die eigene Person abgewählt werden zu können. Diesen Punkt hat Erdogan längst überschritten. Er hat seine Türkei bereits zu einem zweiten Syrien gemacht – der Westen schaut zu und unterstützt ihn dabei noch mit NATO-Truppen und Milliarden-Zahlungen. Und das nur, weil man meint, auf ihn an der Südostflanke zum expansionistischen Russland und als Regulator in der sogenannten Flüchtlingsfrage nicht verzichten zu können. Da spielt es dann auch keine Rolle, dass der Sultan von Ankara offenbar nur den Bodensatz der Syrien-Flüchtlinge nach Europa ausreisen lässt und die gut qualifizierten Menschen quasi in Geiselhaft nimmt, wie jüngst durchsickerte.
Die Türkei hat fertig
Gleichzeitig brechen die Touristenzahlen dramatisch ein – und damit wird Erdogans kleines Wirtschaftswunder schnell sein Ende erleben und die Türkei in die desolate Situation des vergangenen Jahrhunderts zurückfallen. Auch deshalb wird der jeglicher Rechtsstaatlichkeit Hohn sprechende Staatsterrorismus zum alleinigen Regierungsmodell – die zu erwartende Unzufriedenheit des einfachen Volkes, das sich derzeit noch im Gefühl neuer Größe sonnt und sich darüber freut, dass – so ein türkischer Nachbar und AKP-Anhänger wörtlich – „Erdogan die Autobahn gebaut hat“, wird nur mit Repression zu beherrschen sein. Hinsichtlich der ohnehin unter ständiger Diskriminierung lebenden Kurden und wenigen verbliebenen Christen ist dieses seit den Osmanen erprobte Modell der im Spätmittelalter zwangsislamisierten und türkisierten, über Jahrhunderte christlichen Anatolier ohnehin seit eh und je Alltag.
Um einen bekannten italienischen Fußballtrainer zu zitieren: Die Türkei hat fertig. Und mit ihr die Türkei-Politik Deutschlands und der EU. Der „kranke Mann vom Bosporus“ über den im 19. Jahrhundert Europas Intellektuelle philosophierten, ist von einem unheilbaren Krebsgeschwür zerfressen – und er setzt mit seiner destruktiven Politik alles daran, die Metastasen in Europa kräftig wuchern zu lassen.
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