Sloterdijk: Die alte Linke ist tot, aber der Kryptostalinismus hat es fertiggebracht, inkognito, auf der Ebene des Habitus, zu überleben.
Ostersonntag: Wer die Zeit findet, kann über einen Hinweis nachdenken, den wir einem Interview von mit Peter Sloterdijk verdanken. Sloterdijk beantwortet eine Frage zur Kontintentalverschiebung in der politischen Gesäßgeographie.
Unter welchen mentalen Bedingungen ist es überhaupt möglich, dass der Syllogismus konservativ gleich rechtsradikal gilt?
Nun ja, er gilt nicht, er wird nur von manchen Leuten gern benutzt – ich sage Leute, nicht Dummköpfe. In historischer Sicht geht das verworrene Denkmuster auf die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück, als die Moskauer Zentrale die Devise ausgegeben hat, die westliche Sozialdemokratie sei ein «Sozialfaschismus». Damit war der Bürgerkrieg der Begriffe eröffnet. Seine Spuren sind noch heute in den Köpfen präsent, die nicht wissen, von woher das kommt, was sie sagen. Die alte Linke ist tot, aber der Kryptostalinismus hat es fertiggebracht, inkognito, auf der Ebene des Habitus, zu überleben. Man muss sich klarmachen, was aus einer Sprachregelung folgt, der zufolge eine Partei der linken Mitte wie die SPD faschistisch heißen sollte. Das Ergebnis war, dass die meisten linken Intellektuellen in Europa für Abstufungen auf dem nichtlinksradikalen Flügel praktisch blind blieben. Die deutschen 68er waren mehrheitlich solche Blinden, und ihr Defekt wirkt bis heute nach. Stellen Sie sich das einfach einmal vor: dass Liberale per se schon Rechte sein sollen und durch Rechts-Ausdehnung Rechtsextreme.
Und weiter zum Mitschreiben für künftige Diskussionen empfehlen wir die folgende Passage (Hervorhebung TE-Redaktion):
Wenn deutsche Sozialdemokraten in der Sicht von links außen soziale Faschisten sind, was sind dann Liberale in Deutschland und anderswo? Was sind erst die Konservativen im älteren Sinn des Worts? Aus dem frustrierten Kryptostalinismus entstand der Syllogismus, der heute noch immer durch die diffus progressive Presse spukt: Sozialdemokratisch ist konservativ, konservativ ist rechts, rechts ist rechtsradikal, rechtsradikal ist faschistisch. Im Übrigen ist der abgesunkene kryptostalinistische Habitus bei uns vor allem das Produkt einer diffusen Furcht: nicht auf der richtigen Seite zu stehen. Da produziert man sich schon einmal vor der linksliberalen Galerie. Genosse Stalin wirft einen langen Schatten. Er hat die Politik der Furcht definiert, und sie wirkt unbemerkt nach. Die Agenten der diffusen Furcht handeln heute wie damals: besser schnell bei Anklagen mitmachen als riskieren, selber ins Visier zu geraten.
Die Osterfrage an die vielen, die sich selbstkritisch gemeint fühlen müssten, gilt das nicht auch für euch? – „… besser schnell bei Anklagen mitmachen als riskieren, selber ins Visier zu geraten“. Ist es nicht an der Zeit, sich von Stalins Sprachregelung zu emanzipieren? Sollte die Anregung, dieses Erbe Stalins auch bei sich selbst zu suchen, am Ostersonntag zu viel verlangt sein, kommen ja in 49 Tagen Pfingsten und der Heilige Geist als nächste Chance der Selbsterkenntnis und Überwindung der Sprachregelung von Väterchen Stalin.
Das Interview ist eine subtile Rache des Philosophen: In einem Beitrag der Tageszeitung DIE WELT war er als „Rechter“ gebrandmarkt worden. Jetzt erklärt er, was er von diesen Redakteuren hält: Ungebildete Anfänger in Schreibstuben.
Sie müssenangemeldet sein um einen Kommentar oder eine Antwort schreiben zu können
Bitte loggen Sie sich ein
Sloterdijk hat intellektuelles Niveau. Das geht dem heutigen Hofberichterstattungs-Journalismus total ab. Als anerkannter Hofschranze stört intellektuelles Niveau ohnehin.
Stalins Faschismusdoktrin wusste noch selbst die Juden (sic ! ) als Faschisten zu bezeichnen. Man erinnere sich an entsprechende Urteile 1937-1940.
„Die Sprachregelung von Josef Stalin wirkt immer noch“, „… Genosse Stalin wirft einen langen Schatten. …“. Ja klar. Dazu sei „Das Schwarzbuch des Kommunismus: Unterdrückung, Verbrechen und Terror“ von Courtois (Hg.) empfohlen. ISBN 978-3492046640, antiquarisch lieferbar. Danach wird deutlich: Der sozialistische Ungeist hat gerade mal wieder „Oberwasser“, er ist nach wie vor präsent und kann sich sogar ungehindert frei entfalten. Was heute in D passiert, ist kein Mirakel, nichts neues. Geschichte (hier: Sozialismus) wiederholt sich gerade in erheblichen Teilen. Auch was sich in der EU anbahnt und dort vorbereitet wird, ist nichts unerklärliches, ungeheuerliches, nichts neu erfundenes. Nach der Lektüre… Mehr
Mal abgesehen von der Verwendung des schrecklichen Modewortes „Narrativ“ halte ich Jeschows Kommentar für sehr gut. Ich selbst wache häufig morgens auf und denke, ich stehe im Wald: Im TV läuft die „Aktuelle Kamera“, vor meinem Büro campen Assoziale vor kommunistischen Losungen (nennt sich „occupy“); illegal aber mit staatlicher Duldung (!), ich werde von einer Studentin per Mail als „Kapitalist“ beschimpft, weil ich wage, sie an die Zahlung der Miete für eine Wohnung zu erinnern, die ich mit meinem erarbeiteten Geld bezahlt habe, auf dem Weg zu einem Café in Altona laufe ich durch ein Spalier kommunistischer Haßtiraden und Che… Mehr
Könnte von mir geschrieben sein…
Danke für diese Worte.
Vielleicht komme ich ja diesmal durch: Es lohnt sich, zum Thema Stalinismus ein äußerst interessantes Buch zu lesen.
Torsten Mann: Rote Lügen im grünen Gewand. Rottenburg, Kopp-Verlag 2009. ISBN 978-3-938516-91-1. 240 Seiten.
Keine Ahnung, was es kostet, habe es mir über die Fernleihe der Stadtbibliothek Duisburg besorgt.
Schöne Grüße, Mabell.
Guter Artikel. Die Begriffe wechseln,aber das Muster der Diffamierung des Gegners bleibt immer gleich. Auch schon vor Stalin. Zu Zeiten der Inquisition wurden die Angeklagten nicht als Sozial oder xy- Faschisten diffamiert, es wurde ihnen einfach ein Pakt mit dem Teufel oder anderen bösen Mächten unterstellt.
Es lohnt, das ganze Interview zu lesen, für das die hier im Artikel zitierten Auszüge nicht ganz repräsentativ sind. Neben einigen gewohnt luziden Reflektionen über die sich auflösende Illusion von „Kontinuität“ und „Stabilität“ meine ich einen distanzierenden Subtext bei Sloterdijk gegenüber den Kritikern der aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen zu erkennen. Aber vielleicht täusche ich mich auch.
Die Redaktion hat auch keine Besprechung des Interviews abgeliefert, sondern den Hinweis auf die Herkunft der „Rechtsverschiebung“ in der politischen Gesäßgeographie, wie er HEUTE die veröffentlichte Meinung unverändert prägt. Weil dies Herkunft aus dem ZK der KP der Dreißiger Jahre den Allermeisten nicht bekannt und bewusst ist.
Das war auch keine Kritik an der Redaktion. 😉
Ich verwies nur auf das gesamte Interview, das die von Ihnen zitierten Aussagen aus meiner Sicht ein wenig einzuordnen hilft. Dass der „Antifaschismus“, sprich die Denunzierung nicht genuin orthodox linker Positionen (über die Orthodoxie hauen sich die Linken ja heute noch die Köpfe ein) als „faschistisch“ auf Stalin zurück geht, ist richtig. Die Verortung des eigenen Milieus als juste dürfte aber so alt sein, wie die Zusammenrottung von mindestens zwei Menschen.
PS: eine Besprechung des gesamten Interviews lohnte unter mehreren Aspekten.
Da haben Sie unbedingt recht, die Kommentatoren sollte sich schon die Mühe machen und das gesamte Interview lesen, indem auch ich den distanzierenden Subtext finde. Aber so entdeckt man, wie der unkritische Reflex gezündelt werden kann…
???
Stalin täte sagen zur „Migrantenkrise“: Ein Migrant, ein Problem – kein Migrant, kein Problem.
Stalin würde sich in dieser Frage nicht schwer tun. Sibirien und der Gulag war eines von mehreren Möglichkeiten. Das Ergebnis effizient. Er überlegte am Morgen während seines Frühstücks, wie viele Köpfe rollen,oder wieviel Menschen weg gesperrt werden, und zwar auch dauerhaft oder unsichtbar, für immer. Ohne Papiere in die damalige UDSSR einzureisen war gefährlich. Diese Probleme, die wir heute offenbar nicht in den Griff bekommen, weil unsere Politiker nur noch Walzer links herum tanzen, wäre für ihn keine gewesen. Er wußte genau, wie er Landnehmer zu versorgen hatte. Ironisch gemeint.
Sie würden verhungern.
… jetzt ertappe ich mich doch glatt bei dem Gedanken, ob das wirklich schlimm wäre. Donnerwetz.
Na da bin ich aber froh, dass das „linksliberale Geschwätz“ über Tychis Seiten nicht erfunden sind..Ihnen noch einen schönen Tag!
Und hier noch etwas: „Ja, es gibt letzte Anhänger der romantischen Völkerphilosophie.
Die meinen ernsthaft, dass die Völker direkt aus dem Geist des Schöpfers
hervorgegangen sind. In der Praxis überwiegen die strategischen Populisten, und
die berufen sich auf die Völker in instrumenteller und manipulativer Absicht,
manchmal zynisch. Sie wollen aus dem Volk eine Partei machen, mit dem
Programm, eben das Volk zu sein, das es schon ist.“ Na…
Und aus was ist Ihre Familie hervorgegangen? Strategisch populistisch oder auch nur instrumentell manipulativ? Oder vielleicht doch aus einer langen Reihe zueinander passender Ahnen?