Die progressiven Freunde der Zensur von Rio bis Berlin

Öffentlich-rechtliche und andere besorgte Medien in Deutschland trommeln für Zensur. Brasilien, dessen linksautoritärer Apparat X sperren ließ, gilt ihnen als Vorbild. Allerdings zeigen die Massendemonstrationen dort auch: Sehr viele Bürger begreifen, was gerade auf dem Spiel steht.

IMAGO

Manchmal entsteht ein Bild für die Geschichte erst im Gegenschnitt. Als am Unabhängigkeitstag Brasiliens, dem 7. September, der sozialistische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in seinem Rolls-Royce Silver Wraith durch eine nur noch von ein paar Sicherheitskräften gesäumte und ansonsten menschenverlassene Prachtmeile paradierte, versammelten sich Zehntausende woanders in Rio, um gegen die von Lula gewünschte und dem obersten Richter Alexandre de Moraes durchgesetzte Abschaltung von X zu protestieren.

Meanwhile hundreds of thousands of Brazilians were protesting for freedom.

People are rejecting tyranny 👇pic.twitter.com/vyLA0x6SGz

— PeterSweden (@PeterSweden7) September 8, 2024

Moraes verfügte die Sperrung der gesamten Plattform am 30. August, nachdem ihr Eigentümer Elon Musk sich weigerte, dort die Meinungsäußerungen brasilianischer Nutzer nach Regierungsvorgaben zu zensieren. Das betrifft gut 24 Millionen X-Kontenbesitzer in dem Land, das sich damit in eine Reihe mit dem Iran, China und dem Deutschland stellt, wie es sich progressive Diktaturfreunde mittlerweile ganz offenherzig wünschen. In Brasilien begreifen die Demonstranten, dass sich die Zensurmaßnahme des Präsidenten und seines Vollstreckers nicht in erster Linie gegen Elon Musk und sein Unternehmen richtet, sondern gegen die eigenen Bürger. Wenn eine Staatsführung einen populären Kommunikationskanal verstopft, dann will sie verhindern, dass die Bevölkerung bestimmte Dinge liest, hört und sieht.

Anders als bei jeder Berichterstattung über die Aufmärsche gegen die von Correctiv erdichtete zweite Wannseekonferenz, zu der bei den Öffentlich-Rechtlichen grundsätzlich Luftbilder der Demonstration gehörten, die selbstverständliche Übernahme der Teilnehmerzahl vom Veranstalter und Straßeninterviews mit Teilnehmern, die ihr Anliegen schildern konnten, gab es in den knappen Tagesschau– und heute-Berichten über den Anti-Zensur-Protest in Brasilien nichts davon. Kein Bild von oben, keine Reportage aus dem Getümmel, keine Angaben über die Größe der Menschenmenge. Dafür aber bei der Tagesschau ein Kurzbericht ungefähr in der Art, wie die ARD seinerzeit auch die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen für ihre Zuschauer einordnete.

Auch hier setzt schon die Überschrift den Rahmen: „Sperrung von X in Brasilien: Bolsonara (Schreibweise im Original) ruft zu Massenprotesten auf“. Zwar gehörte der frühere brasilianische Präsident Jair Bolsonaro auch zu den Demonstranten, es handelte sich allerdings nicht um eine Kundgebung, die seinetwegen stattfand. Genau das suggeriert die Tagesschau in ihrem Stück durchgehend, um ihr Publikum über den Charakter der Leute aufzuklären, die dort auf die Straße gehen. Denn „Bolsonaro gilt als rechtsextrem“, verkündet erst der Nachrichtersprecher und dann eine Kommentatorinnenstimme.

Sicherheitshalber heißt es ein paar Minuten später noch einmal: „der rechtsextreme Bolsonaro“. Damit steht die zentrale Botschaft fest: Bei den Demonstranten gegen die X-Sperrung in Brasilien handelt es sich um Rechte bis Rechtsextreme, die nicht etwa für ihre Informationsfreiheit kämpfen, sondern für ihren Darth Vader Elon Musk. Zu ihm weiß die Kommentatorin Folgendes: „Der reichste Mensch der Welt nutzt seine Plattform und seinen Einfluss gezielt, um politische Gegner zu diskreditieren und unterstütze die globale Rechte, betonen Experten.“ Von der Aktuellen Kamera unterscheidet sich dieser Duktus nur dadurch, dass das DDR-Staatsfernsehen es nicht für nötig befand, sich auf anonyme Fachkräfte zu berufen. Ganz ohne Abstützung auf Experten behauptet die ARD-Nachrichtensendung auch, Musk weigere sich, die Anordnung des obersten Gerichts zu befolgen. X selbst erklärte, es werde die Anordnung respektieren; die Satelliten von Starlink, des Unternehmens also, das Musk ebenfalls mehrheitlich gehört, würden den Kurznachrichtendienst in Brasilien blockieren.

Und tatsächlich lässt er sich dort auf regulärem Weg nicht mehr empfangen. Irgendetwas muss also auf der technischen Ebene passiert sein. Die Tagesschau verzichtet darauf, die Stellungnahme von X zu zitieren. Und natürlich heißt es zu Lula da Silva nur, er sei „links“, nicht etwa linksautoritär. Dass es gegen ihn und seine Politik schon seit Monaten friedliche Proteste gibt, müssen die deutschen ARD-Kunden auch nicht unbedingt erfahren. Auch nicht, dass sich geleakte Protokolle in Brasilien vor allem über X verbreiteten, aus denen hervorgeht, dass Moraes seine Richterkollegen zur „kreativen Rechtsanwendung“ gegen die Opposition ermutigte.

Das ZDF inszeniert die Proteste in Brasilien ebenfalls nicht als Angriff der Regierung auf die eigenen Bürger, sondern als Auseinandersetzung zwischen dem obersten Richter, also dem Recht, und Musk-Bolsonaro auf der Gegenseite. Über den Eigentümer von X heißt es bei dem Mainzer Sender: „Musk macht, was Chefs aus Silicon Valley sonst vermeiden: sich politisch festlegen. Er unterstützt nicht nur Donald Trump, sondern befeuert auch immer wieder Verschwörungsmythen.“ Welche Mythen genau, das vertiefen die Erzähler vom Lerchenberg nicht. Und auch dort: in dem Bericht keine Luftaufnahmen, kein Versuch, Kritiker von Lula und Moraes zu Wort kommen zu lassen.

„Was Chefs aus Silicon Valley sonst vermeiden“ – das wirkt auf unfreiwillige Weise komischer als beispielsweise alle absichtlichen Versuche eines Jan Böhmermann. Jack Dorsey, Twitter-Chef vor Elon Musk, verhinderte im US-Präsidentschaftswahlkampf 2020 auf der Plattform die Verbreitung der New York Post-Recherche über den Laptop von Präsidentensohn Hunter Biden, wobei die Recherche sich später als völlig korrekt herausstellte. Er entfernte also nicht Fake, sondern True News, weil sie Trump hätten nützen können. Mark Zuckerbergs Facebook unterdrückte den Laptop-Text ebenfalls.

Nach öffentlich zugänglichen Daten über die Parteispenden von Managern und Mitarbeitern großer Unternehmen gingen 2020 gut 80 Prozent der 21 Millionen von Alphabet und 75 Prozent der 17 Millionen Dollar von Microsoft 2020 an die Demokraten. In politischer Festlegung bis hin zur Nachrichtenunterdrückung sehen die ZDF-Verantwortlichen überhaupt kein Problem, weder bei sich noch anderen, solange sie der richtigen Seite dient. Wäre er ein Gegner Trumps, könnte Musk auf Twitter Verschwörungsnarrative verbreiten wie sonst nur ein Correctiv-Mitarbeiter, ohne damit das Missfallen deutscher Zwangsgebührenfunker zu erregen.

Apropos ‚richtige Seite‘: Der in Rio de Janeiro lebende Journalist Glen Greenwald trieb mit seinen Recherchen Bolsonaro in die Enge, zeigt aber auch nicht die geringste Sympathie für Lulas Autokratie, und nennt Moraes einen „autoritären Zensur-Richter“. Es gibt also durchaus landeskundige Journalisten, die politische Unterdrückungsmaßnahmen und überhaupt politische Handlungen nicht zuallererst danach beurteilen, wie sie in ein bestimmtes politisches Schema passen.

Die Großdemonstration gegen Zensurwillkür in Brasilien findet zu einer Zeit statt, in der die Vertreter des medial-politischen Komplexes in Deutschland gerade engagiert für mehr Meinungsverengung werben – und zwar vornehmlich durch eine Einschränkung oder Abschaltung von X. Die autoritäre Politik der brasilianischen Führung empfinden sie folgerichtig nicht als dystopisch, sondern als interessantes Modell. „Tomorrow was another day/the morning found me miles away“, heißt es in Frank Sinatras „Brazil . Politisch liegt Brasilien heute allerdings viel näher an der Bundesrepublik, als viele glauben. Der Spiegel, heute Tränengasgeschütz der Postdemokratie, lobte Moraes unmittelbar nach der X-Sperre als „kampferprobt und listig“.

Aus der Süddeutschen lernen die verbliebenen Leser, dass Zensur die Meinungsfreiheit nicht zerstört, sondern vielmehr schützt, jedenfalls dann, wenn sie in die passende Richtung geht: „Ein Richter lässt das soziale Netzwerk X im Land sperren. Ein Angriff auf die Meinungsfreiheit, wie der Unternehmenseigner behauptet? Ganz im Gegenteil.“

Das heute-Journal des ZDF holte am 7. September einen Stichwortgeber vor die Kamera, Felix Kartte von der Stiftung Mercator, der dort verkünden konnte, Musk verbreite „Kreml-Narrative“, und es gäbe zwischen ihm und seiner Plattform eine „ideologische Verquickung mit dem Kreml“. Das, so Kartte, „muss der Gesetzgeber eingrenzen“.

Irgendwelche Belege für seine Behauptung lieferte er nicht, die Moderatorin fragte ihn schließlich auch nicht danach. Der Sender gab auch keine Hinweise, um wen es sich bei Kartte von der Stiftung Mercator eigentlich handelt. Die Stiftung, hinter der wiederum die Meridian-Stiftung steht, unterstützt seit Jahren das Konzept der wohlwollenden Gesellschaftstransformation von oben. Mercator gehörte zu den Finanziers der „Agora Energiewende“, also der Organisation des späteren Habeck-Staatssekretärs Patrick Graichen, die einen Plan zum staatlich angeleiteten Umbau der deutschen Wirtschaft entwickelte.

Die Stiftung zählt auch zu den Spendern der Plattform Correctiv; im Jahr 2024 stellte sie beispielsweise 500.000 Euro zur Verfügung. Mit dem Geld soll Correctiv, wie es in der Mercator-Projektliste heißt, „eine umfassende Unterstützungsstruktur speziell für Journalist*innen“ aufbauen, „die zu Klima- und Energiewendethemen im lokalen Raum recherchieren und berichten“. Natürlich kann eine private Stiftung etatistische Planung und gestützten Agendajournalismus finanzieren. Nur vertritt sie damit ein Gesellschaftsmodell, in dem es für den weitgehend ungelenkten Meinungsstreit auf der Plattform eines anarchischen Unternehmers logischerweise keinen Platz geben kann.

Neben Journalisten und dem EU-Kommissar Thierry Breton beteiligten sich auch mehrere Politiker an der Kampagne gegen X, zuletzt der Grüne Anton Hofreiter, der auf RTL innerhalb eines bemerkenswert wirren Vortrags auch forderte, „endlich gegen X mit Härte vorzugehen, weil die Attentäter der letzten Zeit haben sich vor allem durchs Internet radikalisiert“. Dafür, dass Twitter respektive X für den Attentäter von Solingen eine Rolle spielte, gibt es bisher keinen Beleg, Hofreiter bietet auch keinen an. Für jemanden, der X und „Internet“ synonym benutzt, spielen Details sowieso keine Rolle.

Der Missionsriemen zwischen Politik, NGO und Medien rotiert also im hochroten Bereich, um eine Botschaft in die Köpfe zu klopfen: Es gibt gute und schädliche Narrative, und die Kräfte des Guten sollten den als schlecht eingestuften Erzählungen nicht etwa durch Meinungsstreit entgegentreten, sondern durch administrative Maßnahmen. Das zentrale Argument dafür lautet, die Bevölkerung müsse geschützt werden: in Brasilien vor einem rechtsextremen Politiker, in der EU vor dem Kreml, nach Hofreiters Worten neuerdings auch vor Terrorismus.

Eine Plattform, die sich Zensurforderungen nicht unterwirft, gilt einer ziemlich breiten Allianz zwischen Rio und Berlin eben wegen dieser grundsätzlichen Weigerung als Gesellschaftsfeind Nummer eins. Die Begründungen können durchaus wechseln, Nebenwidersprüche müssen zurückstehen, etwa die Tatsache, dass Lula da Silva eine ausgesprochen russlandfreundliche Politik betreibt. Solange er links steht und gegen den gemeinsamen Feind X kämpft, hält das seine deutschen Bewunderer nicht davon ab, wenigstens im Geist seiner Limousine auf der verwaisten Paradestrecke zuzuwinken.

Die Demonstranten in Rio empfinden diese breite illiberale Allianz deshalb als so bedrohlich, weil sie sich direkt gegen ihr Gerede von dem notwendigen Schutz der Bürger richtet. Denn ganz offensichtlich möchten sich sehr viele Brasilianer eben nicht von einem listigen und kampferprobten Richter und seinem autokratischen Präsidenten beschirmen lassen. Ein Verbot von X in der EU würde vermutlich auch Demonstranten auf die Straße bringen.

In dieser Auseinandersetzung wirkt Musk wie ein Kontrastmittel, das dem internationalen autoritären Bündnis deutlich erkennbare Konturen gibt. Bei der Auseinandersetzung um die Meinungsfreiheit handelt es sich um den Kampf des Jahrzehnts. Von seinem Ausgang hängt alles andere ab.

Was die Vorwürfe gegen X angeht, die Plattform würde Verschwörungserzählungen verbreiten und sich nicht um richterliche Anordnungen scheren, gibt es übrigens eine schöne Pointe aus Deutschland. Vor kurzem verurteilte das Hanseatische Oberlandesgericht den NDR dazu, die falsche Behauptung zu unterlassen, auf dem Treffen am 25. November 2023 in Potsdam hätten die Teilnehmer einen Plan zur massenhaften Ausweisung von Migranten einschließlich deutscher Staatsbürger geschmiedet (Aktenzeichen 27 W 78/24).

Zur Überraschung des Klägers Ulrich Vosgerau und der Kanzlei Höcker, die ihn vertritt, löschte der ARD-Sender den verbotenen Inhalt allerdings nicht aus dem Netz, sondern ließ ihn dort weiter stehen. Die Kanzlei griff deshalb zu dem relativ seltenen Weg des Ordnungsmittelantrags, um die Anstalt mit der Androhung einer Geldstrafe zur Befolgung des Gerichtsurteils zu bewegen. Der Haken liegt darin, dass die Strafe in der Praxis meist nur bei 5000 Euro liegt, die dann außerdem nicht die Senderleitung aufbringen muss, sondern die Gebührenzahler.

Die öffentlich-rechtliche Plattform transportiert also nicht nur nachweislich falsche Inhalte, sondern ignoriert auch eine Gerichtsentscheidung. Nach den Maßstäben der X-Gegner müsste das eigentlich die Forderung nach sich ziehen, den Sender mindestens mit schmerzhaften Sanktionen zu überziehen und notfalls auch abzuschalten. Das passiert selbstredend nicht. Aus liberaler Sicht wäre das auch nicht nötig. Aber es stellt sich die Frage, warum Bürger ihn zwangsweise finanzieren sollen. Zumal dann, wenn die ganze Senderfamilie im Kampf um die Meinungsfreiheit auf der anderen Seite steht.


Unterstützung
oder