Überraschung: Gelenkter „Bürgerrat“ empfiehlt mehr staatliche Lenkung

Ein Gremium geloster Bürger stellt Empfehlungen vor, die sich lesen wie ein grünes Aktionsprogramm. Wer sich mit den Hintergründen des Rates befasst, weiß, warum: Hier startete ein Modellprojekt zur Postdemokratie.

IMAGO / Steinach

Im Mai 2023 beschloss eine Bundestagsmehrheit, etwas für die Förderung von „mehr Bürgerbeteiligung“ zu tun – die Einsetzung eines „Bürgerrates“, der die Aufgabe übernehmen soll, dem Bundestag in politischen Fragen Empfehlungen zu geben. Jetzt legte dieser „Bürgerrat“ zum ersten Mal Empfehlungen vor. Das Premiere-Thema lautete: Ernährung. Wer sich näher mit der Genese dieses in der Verfassung nicht vorgesehenen Gremiums befasst, den wundert es kaum, dass alle neun Punkte fast eins zu eins dem grünen Parteiprogramm entsprechen.

Eigentlich besitzt Deutschland schon einen Bürgerrat, und zwar unter dem Namen Bundestag. Und eigentlich gehört es zur Aufgabenbeschreibung von Abgeordneten, mit Bürgern zu sprechen, um deren Ansichten in ihrer politischen Arbeit zu berücksichtigen. Wollten die Berufspolitiker die Stimmen der Bürgerbasis stärker an Entscheidungen beteiligen, gäbe es außerdem die Möglichkeit, auf Bundesebene Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild einzuführen.

Die Ampel-Koalition wählte einen anderen Weg: den „Bürgerrat“ als Instrument einer gelenkten Demokratie, die Debatten nicht führt, sondern simuliert. Das beginnt schon mit der Rahmensetzung: Worüber der Rat debattieren soll, entscheidet er nicht selbst – sondern der Bundestag per Mehrheit, konkret mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, Grünen, FDP und der Linkspartei. Und schon die vorgegebene Fragestellung lenkt die Debatte: „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“. Die Möglichkeit, dass es sich bei der Ernährung um eine reine Privatangelegenheit handelt, die den Staat nichts angeht, scheidet also schon von vornherein aus.

Die Bürgerratsmitglieder gehen nicht aus einer Wahl hervor. Wer hineinkommt, entscheidet ein undurchsichtiges Losverfahren. Dabei wurden per Algorithmus zunächst 20.000 Personen in 82 ebenfalls ausgelosten Gemeinden ermittelt; von den 2.220, die sich dann zur Teilnahme bereit erklärten, siebte der Algorithmus noch einmal so lange aus, bis 160 übrigblieben. Angeblich soll der Rat nach Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungshintergrund genau die deutsche Bevölkerung abbilden.

Die Namen der Ratsmitglieder und Angaben zu ihrem Hintergrund sucht man auf der entsprechenden Bundestagsseite vergeblich, ebenso den Auswahlalgorithmus, was die Überprüfung der Ausgewogenheit praktisch unmöglich macht. Es berät also ein nicht durch Wahlen legitimiertes und faktisch anonymes Gremium zu einem Thema mit vorgeprägter Tendenz. Der „Bürgerrat“ beratschlagt außerdem nicht selbständig, sondern betreut von Moderatoren aus einem Konsortium von Unternehmen und Vereinen. Dort wiederum dominiert eine ganz bestimmte politische Richtung. Wer eigentlich dieses Konsortium unter welchen Maßgaben zusammenstellte, bleibt ebenfalls im Dunkeln.

Für etwas Transparenz über den Verlauf der Beratungen sorgte ein Bürgerratsmitglied – Stefan Staudenecker aus Ehingen in Baden-Württemberg, der im November 2023 das Gremium aus Protest wegen der aus seiner Sicht offenkundig einseitigen Lenkung verließ. Der Schwäbischen Zeitung sagte er, dass sein Entschluss schon direkt nach dem Auftaktwochenende in Berlin gefallen sei, nachdem er nähere Erkundigungen zum Moderationsteam eingeholt hatte. Es ergebe für ihn „keinen Sinn, mit solchen Personen ein Arbeitspapier zu erarbeiten“, so Staudenecker: Vor allem die Hauptmoderatorin Jana Peters sei „eher politisch grün und links“. Bei Peters handelt es sich um ein grünes Parteimitglied, und zwar keines von der Basis: 2021 war Peters Vorsitzende der Grünen in Bad Vilbel, im gleichen Jahr kandidierte sie für den Bundestag. Außerdem arbeitet Peters für das Beratungsunternehmen ifok, das wiederum zu dem Konsortium gehört, das den Bürgerrat organisiert.

Das lenkende Konsortium besteht aus dem Verein „Mehr Demokratie e.V.“, der den Grünen nahesteht, der schon genannten ifok GmbH, dem „Institut für Partizipatives Gestalten (IPG)“ der Sortition Foundation, dem Unternehmen Event & Regie und der Agentur monteundvogdt. Die Vorsitzende von „Mehr Demokratie e. V.“ Claudine Nierth bezeichnet sich selbst als „Politaktivistin“. Im Jahr 2012 entsandte sie die Landtagsfraktion der Grünen in Schleswig-Holstein als Mitglied in die 15. Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten. Ein Vorstandsmitglied von „Mehr Demokratie e. V.“ kommt direkt aus der Berufspolitik: Karl-Martin Hentschel saß bis 2009 der Grünen-Fraktion von Schleswig-Holstein vor. Ein weiteres Vorstandsmitglied, Marie Jünemann, trat mehrfach als Referentin bei grünen Parteiveranstaltungen auf, und engagierte sich 2022 sowohl für das von den Grünen unterstützte „Transparenzgesetz“ als auch für die Gründung eines „Bürger*innenrat Klima“ Berlin.

Das beteiligte Beratungsunternehmen ifok wiederum nimmt schon auf der eigenen Webseite die wesentlichen Resultate vorweg, über die die Bürger unter der Regie ihrer Mitarbeiterin Peters angeblich ergebnisoffen beratschlagen sollen. Bei ifok heißt es: „Die Ernährungsweise in unserem Land geht auf Kosten der Umwelt und verbraucht zu viele Ressourcen. Die Wissenschaft ist sich einig, dass in einer stärker pflanzenbasierten Ernährung ein Schlüssel für ein besseres Klima liegt. Dieses Potential möchten das Umweltbundesamt und das Bundesumweltministerium ausschöpfen und die pflanzenbasierte Ernährungsweise in Deutschland fördern.“

Bei so vielen Vorgaben und wohlwollender Lenkung überraschen die Empfehlungen des „Bürgerrates“ wirklich nicht. Das Gremium rät dazu, allen Kindern ein „gesundes und kostenloses“ Mittagessen zu verabreichen, was natürlich nicht „kostenlos“ zu bewerkstelligen ist, sondern mit erheblichem Aufwand an Steuergeld. Warum auch Kinder von Gutverdienern Essen auf Steuerzahlerkosten erhalten sollen, begründet der Rat nicht. Er folgt damit dem Pfad der vormundschaftlichen Politik, Leistungen staatlich zu finanzieren, zu denen viele Bürger auch selbst in der Lage wären – um mit den Ausgaben dann wiederum noch höhere Steuern und Abgaben zu begründen.

Die weiteren Ratschläge lauten: Einführung eines „verpflichtenden staatlichen Labels für Einkäufe“. Mit ihm soll „bewusstes Einkaufen gesünderer Lebensmittel leichter gemacht werden“; es „soll Kunden helfen, Produkte einfacher und besser vergleichen zu können“. Auch der Bürger selbst bedarf offenbar dingend der wohlwollenden Lenkung, findet der gelenkte Bürgerrat. Eine andere Empfehlung legt dem Staat die Einführung eines „verpflichtenden und staatlich kontrollierten, ganzheitlichen Tierwohllabels“ nah, das „den gesamten Lebenszyklus von Nutztieren abbilden“ soll. Für Landwirte würde das einen enormen bürokratischen Aufwand bedeuten – und für den Staat den Aufbau einer neuen Kontrollinstanz.

Die nächste Empfehlung entspricht wortwörtlich einer alten grünen Forderung, nämlich der Ernährungslenkung per Steuer. Der Rat schlägt nämlich vor, die Mehrwertsteuer „für Obst und Gemüse in Bio-Qualität sowie für Hülsenfrüchte“ auf Null zu setzen, für Zucker dagegen auf 19 Prozent. Außerdem in der Liste der Ratschläge: die von Bundeslandschaftsminister Cem Özdemir seit langem gewünschte „Verbrauchsabgabe zur Förderung des Tierwohls“. Ein konkretes Verbot empfiehlt der „Bürgerrat“ auch, und zwar in Form einer Altersgrenze von 16 Jahren für den Kauf von Energydrinks. „Die Gesundheitsschäden und das Suchtpotential“ seien „ähnlich gravierend wie bei Zigaretten und Alkohol“, heißt es in dem Ratspapier. Die schädliche Wirkung liegt nach Ansicht einiger Wissenschaftler im Koffein, das die Drinks enthalten – allerdings sehen die meisten Experten den „übermäßigen Genuss“ dieser Getränke als schädlich an, nicht den gelegentlichen.

Aus allen Empfehlungen des „Bürgerrats“ spricht ein geschlossenes Gesellschaftsbild: Bürger können nicht selbständig entscheiden, welche Nahrungsmittel ihnen guttun, sondern brauchen bei der Auswahl dringend eine intensive Führung durch staatliche Stellen. Landwirte sollten stärkeren Kontrollen unterworfen, Fleisch per Sonderabgabe verteuert werden. Ein Minderheitsvotum innerhalb des Rates, das möglichweise das Konzept der gelenkten Gesellschaft kritisch sieht, scheint nicht zu existieren. Jedenfalls findet sich dazu keine Veröffentlichung. Diese Art der Debattensimulation überzeugt offenkundig nicht alle.

Aber sie entspricht der postdemokratischen Grundvorstellung, die sich auch in der Forderung von Grünen, SPD und Linken nach einem Geschlechterproporz im Parlament einerseits und nach einem AfD-Verbot andererseits zeigt: Parlamenten sollen sich nach diesem Ideal in Standesvertretungen verwandeln, in denen kein echter Streit mehr stattfindet – auch deshalb, weil bestimmte Ansichten von vornherein ausgeschlossen werden.

Übrigens sorgt der Bundestag auch für den Fall vor, dass die Vorschläge des „Bürgerrats“ nicht so ausfallen wie erwartet: Es gibt keine Pflicht, sie parlamentarisch umzusetzen. Darüber entscheidet die gleiche Mehrheit, die schon die Fragestellungen formulierte, wiederum von Fall zu Fall. Den Ratschlägen zum Bereich Ernährung jedenfalls – die ersten des „Bürgerrats“ – sicherte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas aber wohlwollende Behandlung zu: „Mit diesen Empfehlungen“, so Bas, „sollten sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag intensiv beschäftigen. Der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages ist ein gelungenes und innovatives Beispiel für lebendige Demokratie.“

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Kommentare ( 102 )

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MonacoFranze
2 Monate her

Mit linken Lenkungsinstrumenten wie dem „Bürgerrat“ wird die Demokratie – unter Umgehung des vom Souverän legitimierten Parlaments – nach und nach sturmreif geschossen. Es ist bezeichnend, dass dieses intransparente Vorgehen nicht mehr Widerstand bei den „Kämpfern für unsere Demokratie“ hervorruft.

teacher32
9 Monate her

„Die Möglichkeit, dass es sich bei der Ernährung um eine reine Privatangelegenheit handelt, die den Staat nichts angeht, scheidet also schon von vornherein aus“. Hätte man das anerkannt, hätte dieses ganze „Demokratiesimulation“ ja von vornherein ihren Zweck verfehlt. Da die Vorschläge dieses sogenannten „Bürgerrates“ ohnehin nicht bindend sind, wird deutlich, wie sinnlos im Grunde diese Veranstaltung ist. So aber, wenn sich die „Empfehlungen“ mit der linksgrünen Agenda decken, kann man den beteiligten Bürgern das Erfolgserlebnis vermitteln, sie könnten diese Politik beeinflussen. Wetten, dass der entsprechende „Bürgerrat“ im Hinblick auf den innerstädtischen Verkehr eine Verdrängung von Motorfahrzeugen zugunsten von (Lasten-)Rädern empfiehlt?… Mehr

RA.Dobke
10 Monate her

Es wird immer trauriger „in diesem unserem Lande“! Und mich macht es immer aggressiver als ich als junger Mensch es je gewesen bin. Meine kritische Haltung zu dem, was der Staat (Abgeordnete und Regierun) so bietet, wird nicht geringer, sie nimmt zu! Warum? Weil, gesehen über alles, nichts besser, sondern eher verschlimmbösert worden ist. Herrn Sarrazin mit seiner Kritik über die Entwicklungen in Deutschland kann ich nur zustimmen. Und es scheint mir bei Hass und Hetze sogar durch den Bundespräsidenten (ist ja eigentlich für alle Deutschen da) angezeigt, dem Schwall und den Auftritten links-grüner Demonstrationen, doch einiges richtig zu stellen!… Mehr

Sterling Heights
10 Monate her

Das Auswahlverfahren ist erwartungsgemäß nicht transparent. Mit den Auswahlkriterien kann man bewusst die Zusammensetzung steuern. Was geschieht mit Verweigerern? Wie viele?
Was nützen irgendwelche Leute, die moeglicherweise schon von Medien indoktriniert sind? Wie hoch ist die Vergütung der Aufwandskosten fuer das Ehrenamt?
Edles Catering und sonstige Incentives?

Manuela
10 Monate her

„Der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages ist ein gelungenes und innovatives Beispiel für lebendige Demokratie.““

Ich kann das Wort „Demokratie“ aus diesen Mündern der Politik nicht mehr hören. Rechte weg, Freiheit weg, Selbstbestimmung weg, Eigenverantwlrtung weg, Eigentum weg. Alles im Namen der „Demokratie“.

fatherted
10 Monate her

Dieser „Bürgerrat“ erinnert irgendwie an die „zufälligen“ Interviews von „Angestellten“ des ÖRR, zufällig auch zum Thema „Ernährung“….ach wie schön abgestimmt doch alles ist und wie brav die 100 Bürger diese „Empfehlung“ gegeben haben. Frage: Was wenn einer unter den 100 war, der nicht zustimmte? Waren es dann nur 99 oder zählt der nicht und wird mitgerechnet?

Kassandra
10 Monate her

Ich meine mich zu erinnern, dass man bereits bei der Transformationsagenda so was wie einen „Bürgerrat“ aus eher jungen Menschen einsetzte und dann deren dort festgehaltene angebliche Interessen durch die Schellnhuberschen Vorgaben festgeschrieben haben will und uns inzwischen ohne Sinn und Verstand überzieht wie einen nassen Sack.

Brotfresser
10 Monate her

Eine sehr plumpe Demokratiesimulation! Und auf vielen systemkritischen Webseiten (Danisch, Reitschuster, Achse des Guten, usw.) wird man derzeit mit Werbung zugeschüttet, die entweder mit ekligen – aber größtenteils zweifelsohne gefakten – Bildern von Hautkrankheiten Werbung für dubiose Dermatologen (diese Alliteration könnte von Inka Bause sein!) machen, oder aber dem Betrachter die E-Petition von Campact gegen den „Verfassungsfeind“ und „Faschisten“ Höcke bzw. dafür, ihm die Grundrechte zu entziehen, besonders ans Herz legt. Dabei arbeiten die Grünen doch mit diesem Bürgerrat und mit der Unterstützung diverser außerparlamentarischer Gruppierungen (LG, XR, DUH, Compact, change.org, Antifa usw.), mit dem ganzen Agora-Netzwerk und unzähligen NGOs… Mehr

Querdenker73
10 Monate her

Bürgerrat? Ein neuer krampfhafter Versuch, verloren gegangene Demokratie zu demonstrieren. „In der ‚Nationalen Front‘ treffen wir Bürger, die eng mit den Genossen der führenden Partei der Arbeiterklasse an deren weiteren Erfolgen bei dem Aufbau des Sozialismus aktiv mitarbeiten“ So, oder so ähnlich verlauteten die Berichte der Journalisten des Volkes in der freien Presse der DDR! Fiel mir gerade so ein…

Kassandra
10 Monate her
Antworten an  Querdenker73

Angebliche Demokratie haben sie uns auch bei der Schlichtung zu S21 vorgemacht. Und das war so lange auch authentisch, bis der Herr Geißler die Projektgegner vor laufender Kamera mit seinem „Schlichterspruch“ über den Tisch zog.
Wie oben schon beschrieben will man gar nicht wissen, ob gefällige Moderator*innen nicht schon Schlusserklärungen von Vornherein im Computer gespeichert haben – und all die Zusammenkünfte der „Räte“ auf unsere Kosten nicht mehr sind als der Tanz ums Nichts.
Die „Speerspitze“, die dann um solche wie Bas aufgestellt wird, kann nicht widersprechen, weil ihr ja gar nicht klar sein kann, wie sehr sie genasführt wurde.

Warte nicht auf bessre zeiten
10 Monate her

Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie werden solange demontiert, bis alles nur noch eine Farce ist. Und dann wundert man sich, wenn niemand mehr Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie verteidigen will. Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie stören jede Macht. Eine Epoche geht zu Ende.